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KAPITEL 3

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«Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will.»

(Leonardo da Vinci)

10. Mai 2011:

Meli war noch nie pünktlich gewesen. Auch wenn sie ihren Tag genau durchorganisierte, fehlten ihr am Ende immer ein paar Minuten. Sie wusste, dass diese Eigenschaft für ihre Mitmenschen Nerv tötend war, fand für sich aber keine passende Lösung, sie zu vermeiden. Ihre Familie und Freunde wussten von ihrer Schwäche und rechneten immer ein paar Pufferminuten hinzu, wenn sie mit Meli verabredet waren.

Was im Privatleben der 28-Jährigen normal war, kam im Arbeitsalltag nie vor. Ihr Chef war sehr strikt, was Verspätungen betraf. Jeder Mitarbeitende, der nach der vorgegebenen Zeit im Verlag eintraf, musste sofort im Chefbüro vorbei, um sich zu erklären. Seit Meli vor sechs Jahren dort unterschrieben hatte, war sie noch nie unbegründet zu spät bei der Arbeit eingetroffen.

An diesem Morgen ging aber alles schief, was schief gehen konnte. Da sich ihr Smartphone, das allmorgendlich als Wecker fungierte, in der Nacht wie durch Geisterhand abgeschaltet hatte (und nein, der Akku war nicht leer gewesen!), erwachte sie bereits mit einer halben Stunde Verspätung. Im Eiltempo sprang sie unter die Dusche, trug das Minimum an Schminke auf, schnappte sich ihre Handtasche und hetzte zur Zugstation. Dort merkte sie, dass sie sowohl ihre Geldbörse als auch ihr Handy zuhause auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, weshalb sie nochmals zurück musste. Inzwischen hatte Milo sein ganzes Frühstück direkt vor der Eingangstüre erbrochen, sodass Meli beim Hineinstürmen ihre Socken versaute und frische suchen musste. Bis sie im Trockner zwei passende Exemplare gefunden und ihre vergessenen Sachen geschnappt hatte, war der Zug schon längst über alle Berge.

Als Meli mit hochrotem Kopf und üblen Schweissflecken auf der hellblauen Bluse bei der Arbeit eintraf, begab sie sich gleich in Lucianos Büro. Da ihr Chef aber nicht da war, schlüpfte sie erleichtert möglichst unauffällig hinter ihren Bildschirm und begrüsste möglichst leise Tally.

«Ich bin in sechs Jahren noch nie zu spät gekommen. Noch nie. Aber heute hatte sich das Universum gegen mich verschworen. Weisst du, wo der Chef ist? Ich wollte mich bei ihm für meine Verspätung entschuldigen.»

«Der kümmert sich heute um seine drei Kinder, glaub ich. Erinnerst du dich an seine E-Mail vor ein paar Wochen, dass er häufiger Zeit mit seinem Nachwuchs verbringen wolle, damit er nicht ihre ganze Kindheit verpasst? Ich glaube, heute ist einer dieser Dienstage, die er zu Hause bleibt. Was war los bei dir?»

«Frag nicht! Hast du heute Mittag Zeit für mich? Ich würde gerne mit dir essen gehen.»

«Klar. Ich reservier gleich bei unserem Lieblingsitaliener um die Ecke.»

Der Morgen verging viel zu schnell. Meli hatte nicht die Hälfe dessen erledigen können, was sie sich vorgenommen hatte. Immer wieder waren Kollegen vorbeigekommen, die nur die üblichen zwei Minuten von Melanies Zeit beanspruchen wollten. Da das Universum Meli mit der Absenz ihres Chefs gütig gestimmt hatte, beklagte sie sich nicht über die Störungen und half, wo sie konnte. Dennoch war sie froh, als die Uhr Mittag zeigte und sie mit Tally ins Gigis Ristorante gehen konnte, wo die beiden Freundinnen je eine grosse Pizza bestellten.

«Darf ich dich was fragen, Meli?»

Da Melanie sich soeben ein viel zu grosses Stück Pizza Marinara in den Mund gestopft hatte, konnte sie nur nicken.

«Ich habe mir in den letzten Tagen viel Gedanken über Algin und mich gemacht. Ich habe mich gefragt, wie lange man ein Paar sein muss, um den nächsten Schritt zu wagen. Wie viel Zeit sollte vor der ersten gemeinsamen Wohnung vergangen sein; wie viel vor der Verlobung und der Hochzeit – oder bevor man über Nachwuchs spricht?»

«Da gibt’s doch keine goldene Regel, Süsse. Wenn die Zeit für den nächsten Schritt gekommen ist, merkst du’s», antwortete Meli nachdem sie fertig gekaut hatte.

«Aber woran merkt man das?», wollte Tally genauer wissen.

Melanie überlegte einen Moment.

«Wenn die Zeit reif ist, macht dich der Gedanke an den nächsten Schritt nicht mehr nervös. Du merkst, dass diese Entscheidung die richtige ist.»

«Warst du mal an diesem Punkt?», fragte Chantal leise, so als fürchte sie die Antwort.

Meli rang mit sich. Sie wägte die Vor- und Nachteile kurz ab und entschied sich für die Kurzversion ihrer Geschichte: «Vor einiger Zeit war ich mit einem Mann zusammen, den ich sehr liebte. Wir waren verlobt und planten unsere Hochzeit. Das Hochzeitskleid war bereits ausgesucht, nur noch die letzten Details mussten geklärt werden. Er ist ein paar Monate vor der Trauung bei einem Autounfall ums Leben gekommen.»

Chantal hatte aufgehört zu kauen und starrte sie mit grossen Augen an. Es verstrichen ein paar Sekunden, bevor sie sich wieder gefangen hatte.

«Das hast du mir nie erzählt!».

«Ich weiss. Ich spreche nicht gerne über Silvan, weil es mir immer noch das Herz bricht. Aber aus Erfahrung kann ich dir sagen, Süsse, dass du ganz bestimmt merkst, wenn du bereit bist, dich hundert Prozent auf Algin einzulassen. Hör einfach auf dein Herz und sei ehrlich zu dir selbst. Dann klappt das mit dem richtigen Zeitpunkt bestimmt.»

Melanie musste ihrer Freundin und Arbeitskollegin zugutehalten, dass sie keine weiteren Fragen stellte. Ihr Gespräch drehte sich nach Melis Geständnis um die üblichen Themen wie Job, Urlaub und Mode. Kurz bevor die beiden Freundinnen aber ins Bürogebäude traten, umarmte Tally aber ihre Arbeitskollegin herzlich.

«Hab dich lieb. Vielen Dank für deine Zeit und dein offenes Ohr.»

Kurz nachdem sie nach einem intensiven Arbeitsnachmittag endlich zuhause angekommen war, klingelte es an Melis Wohnungstüre. Durch den Spion sah sie Anna, die ihr mit einer Flasche Prosecco bewaffnet entgegenlachte.

«Hey, Schwesterchen! Welch Überraschung! Hereinspaziert!»

«Ich hoffe, ich stör dich nicht, Liebes», sagte Anna, während sie Milo zu ihren Füssen ausgiebig streichelte.

«Für Leute, die Alkohol mitbringen, hab ich immer Zeit», entgegnete Meli lachend und gab die Türe frei. «Was führt dich zu mir?»

Anna kickte ihre Schuhe von den Füssen, warf ihre Jacke auf den Boden und liess sich auf das schwarze Ledersofa fallen. Dann seufzte sie laut.

«Ich brauche nur einen Flaschenöffner, Meli. Ich kann direkt aus der Flasche trinken», antwortete sie mit geschlossenen Augen.

Melanie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass nichts Schlimmes geschehen war und sie nur eine kleine Auszeit brauchte.

Während ihre grosse Schwester es sich auf dem Sofa gemütlich machte, indem sie ihren BH löste und sich längs auf der Couch ausstreckte, betrachtete Melanie sie. Fremde konnten kaum glauben, dass Anna und Meli Schwestern waren. Die ältere der beiden war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten: Sie hatte blau-grüne Augen, eine Stupsnase und braune, leicht gelockte Haare. Heute sah sie Jahre älter aus als sonst, komplett ungeschminkt und mit tiefen Augenringen.

«Bitte entschuldige den Überfall, Kleine. Lea ist zurzeit nicht das einfachste Kind. Seit kurzem steckt sie mitten in der „Grenzen-austesten-und-alles-hinterfragen“-Phase. Du weisst, ich liebe mein Mädchen über alles. Aber ich brauchte eine Stunde für mich. Tom weiss, wo er mich findet, wenn es ihm zu stressig wird.»

«Du weisst doch, dass ich immer für dich da bin. Du kannst auch mal herkommen, wenn ich nicht zuhause bin. Du hast schliesslich einen Ersatzschlüssel», versicherte Meli ihr, als sie mit dem Flaschenöffner aus der angrenzenden Küche zurückkehrte. «Hast du Hunger? Soll ich was kochen? Oder hast du Lust auf Pizza?»

«Mmmhh … Pizza!», murmelte Anna vor sich hin, bevor sie einnickte.

Leise schlich sich Meli in ihr Arbeitszimmer, das sie eigentlich nie zum Arbeiten nutzte. Neben Computer, Drucker und unzähligen Ordnern stand an der langen Wand gegenüber der Türe ein grosses Bücherregal aus dunklem Holz. Ausserdem hatte sie hier eine kleine Leseecke mit einem gemütlichen Ohrensessel, einem Tischchen und einer Stehlampe eingerichtet. Hierher zog sie sich gerne zurück, wenn sie den Kopf freikriegen musste; beziehungsweise, wenn ihre Schwester schnarchend ihr Sofa in Beschlag genommen hat. Schmunzelnd setzte sich Meli an ihren Computer und bestellte für Anna eine grosse Pizza mit Schinken und Pilzen und für sich selbst eine Portion hausgemachte Pasta. Ein Tiramisu durfte bei Stress-mit-Kindern-Situationen auch nicht fehlen, weshalb sie noch zwei Stück mit auf die Bestellung setzte. Sie vermerkte, dass die Lieferung nicht vor 20 Uhr gebracht werden sollte, damit Anna sicher genug Zeit hatte, sich auszuruhen.

Statt es sich in ihrem Lieblingssessel bequem zu machen, nutzte Meli die Zeit, um ihr Arbeitszimmer ein bisschen aufzuräumen. Die letzten Bankauszüge waren noch nicht im vorgesehenen Register abgelegt, ein paar erhaltene Postkarten nicht an der grossen Pinnwand aufgehängt und die Zimmerpflanzen schon lange nicht mehr gegossen worden. Beim Ordnen ihrer Unterlagen fiel ihr ein kleiner Zettel in die Hand, auf dem eine Telefonnummer notiert war. Die Nummer von Julia, Silvans Mutter. Meli hatte die Notiz nach dem Osterdesaster achtlos auf den Schreibtisch geworfen, wo sie die Nachricht bis heute liegen geblieben war. Melanie setzte sich in ihren Sessel und drehte das Stück Papier in ihren Händen hin und her. War die Zeit nun reif? War die Zeit gekommen, um den wichtigsten Teil ihrer persönlichen Geschichte aufzuarbeiten? War sie bereit, sich mit Julia ehrlich und offen zu unterhalten? Sie horchte tief in sich hinein; so, wie sie es Tally ein paar Stunden zuvor empfohlen hatte. Die übliche Nervosität war weitgehend verflogen. Ihr Herz zog sich immer noch zusammen, wenn sie an Silvans Unfall dachte, aber der Schmerz war nicht mehr betäubend stark. Deshalb zog Meli ihr Smartphone hervor und schrieb Julia eine kurze SMS:

Liebe Julia. Ich habe von meiner Mutter deine Telefonnummer erhalten. Ich denke, der Moment ist gekommen, dass wir uns unterhalten. Ich habe am Samstag in einer Woche nachmittags Zeit. Wollen wir uns auf einen Kaffee in der Innenstadt treffen? Liebe Grüsse, Melanie.

Sie sass immer noch in ihrem blauen Sessel mit den unzähligen Katzen-Kratzspuren, als Anna in der Türe auftauchte und sich genüsslich streckte.

«Oh, Mann! Das hab ich schon so lange nicht mehr gemacht. Das hat echt gut getan!»

«Und es wird dir in Kürze noch besser gehen. Pizza und Tiramisu sind auf dem Weg», verriet Melanie.

«Wann hab ich dir das letzte Mal gesagt, dass du die beste Schwester auf der ganzen Welt bist?»

«Ist schon ein Weilchen her», lachte Meli. «Aber ich weiss es auch so!»

«Warum machen wir das eigentlich nicht öfter? So einen Schwesternabend, meine ich.»

«Weil wir uns die nötige Zeit nicht nehmen», sagte die Jüngere von beiden und in ihrer Stimme schwang Bedauern mit. «Sollten wir aber! Du kannst übrigens gerne auch mal Lea vorbeibringen, wenn du und dein Mann ein bisschen Zeit zu zweit verbringen wollt. Einen Tag halte ich das mit meiner süssen Nichte problemlos aus.»

«Was für ein verlockendes Angebot, Kleine! Da kommen wir sicher gerne mal darauf zurück!»

Nach einem ausgiebigen Nachtessen mit viel Klatsch und Tratsch unter Schwestern verabschiedete sich Anna spätabends. Dass der morgige Tag aufgrund der fehlenden Stunden Schönheitsschlaf wohl etwas anstrengender ausfallen würde, störte Melanie nicht. Der Plausch mit Anna hatte ihr gut getan. So gut, dass sie fast ihre Nachricht an Julia vergessen hätte. Deshalb fiel ihr beinahe das Handy aus der Hand, als sie das kleine Symbol auf dem Display sah, das den Eingang einer Mitteilung anzeigte. Mit zitternden Händen drückte sie auf den Text:

Guten Abend Melanie. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, von dir zu lesen. Natürlich habe ich am Samstag in einer Woche Zeit für ein Gespräch. Ich kann es kaum erwarten, dich endlich wieder zu sehen. Ich drücke dich. Julia

Melanie schlief in dieser Nacht so tief, wie schon lange nicht mehr. Sie bemerkte nicht einmal, als Milo sich zu ihr ins Bett legte und sich ganz eng an sie kuschelte.

In ihrem Traum sass sie auf einer wunderschönen Frühlingswiese und liess ihre Finger durchs hohe Gras gleiten. Sie pflückte eine rote Tulpe und atmete tief ihren zarten Duft ein. Plötzlich kam der weisse Hase aus Alice im Wunderland vorbei und forderte Melanie mit drängender Stimme auf, sich zu beeilen.

«Wir haben doch keine Zeit, mein Kind», wiederholte er immer und immer wieder.

Meli liess sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Sie blieb weiterhin in der Wiese sitzen und spürte einen tiefen Frieden in sich aufsteigen.

Und sie träumte vom Osterhasen

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