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Eine nachhaltige Begegnung

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Zwei Pilotwale schwammen unter dem Segelboot hindurch und tauchten plötzlich an die Wasseroberfläche. Annika und Karim sahen sich an. Das Ehepaar war zwei Seemeilen von der Stadt Tanger entfernt. Der Motor knatterte laut. Karim, selbst Marokkaner, saß etwas versetzt hinter ihr und steuerte. Als Einheimischer lenkte er die in die Jahre gekommene Jolle gekonnt auf dem Atlantik in Richtung offene See. Die Segel hatten sie nicht gesetzt, weil es im Moment noch zu wenig Wind gab. Annika schwieg und genoss es, endlich am Meer zu sein.

Während die Tierwelt sich problemlos mit den Strömungen abfand, gab es Menschen, die hier, wo Atlantik und Mittelmeer sich kreuzten, ihr Leben aufs Spiel setzten um an Spaniens Südspitze zu kommen. Diese lag im Moment nur ungefähr 50 km weit weg. Annika rückte die Billigsonnenbrille auf ihrer etwas groß geratenen Nase zurecht. Auf dem leicht bewegten Wasser glitzerte das septemberliche Sonnenlicht, als die Tiere schon wieder abgetaucht zu sein schienen. Die vom Boot verursachten sanften Wellen schlugen spielerisch auf und ab und spiegelten sich sogar in ihrem schwarzem Smartphone. Und als hätte sie es geahnt hörte sie auf einmal einen Benachrichtigungston, der mit seiner hohen Frequenz sogar den Motor übertönte. Sie hielt das Handy in den Schatten des Segelmastes, um den Instagram-Kommentar zu ihrem geposteten Foto von orange- und gelbfarbigen Kitesurfern zu lesen. Karim wunderte sich über sie. Ihre Mutter aus Wien habe ein pochendes Herzemoji geschickt, sagte sie zu ihm. Eine leichte Brise strich über ihre gebräunten Arme. Sie dufteten nach Arganöl. Plötzlich stoppte ihr Mann den Motor.

„Was ist los?“, rief sie irritiert. Er wirkte seltsam gefasst und sah sie so weiß an, wie ein Marokkaner aus dem Volk der Berber im äußersten Fall erblassen konnte, zeigte mit seiner ausgestreckten Hand nach backbord und antwortete ziemlich nervös: „Das Schlauchboot!“

Sie erschrak, ein panisches „Oh mein Gott“ entfuhr ihr beim Anblick des aufblasbaren, drei Meter langen gelben Etwas, das da querab von Süden kam und ihren Weg kreuzte. Karim konnte mit dem Segelboot umgehen. Was aber, wenn es schiefging und sie im offenen Meer in dieses Ding reinfuhren? Langsam trieb das Schlauchboot auf sie zu, keiner der Insassen ruderte mehr. Zehn zählte sie auf die Schnelle. Ihr Gefährt lag so tief im Wasser, dass sie ohnehin schon die ganze Zeit nicht so richtig vorwärtsgekommen sein konnten. Die Männer sahen das Segelboot mit ausgestelltem Motor in einer Entfernung, die sie als überwindbar einschätzten vor sich, und Annikas weiße Haut. Das war eine Chance auf die ersehnte spanische Küste nach einer stundenlangen nächtlichen Fahrt. Naivität und Hoffnung besaßen keine Grenzen, schon gar nicht, wenn man wie sie dem Traum von einem besseren Leben folgte. Ein sehr Muskulöser unter ihnen stand auf und sprang in den Atlantik. Noch bevor das, was sie sah, in ihrem Verstand ganz angekommen war, tat es ihm ein Zweiter schon nach, dann der Dritte, der sich mit seinem Holzruder in der Hand eher ins Wasser fallen ließ. Annika entfuhr ein Schrei des Entsetzens. Denn des Schwimmens war dieser Mann nicht hundertprozentig mächtig, so, wie er sich an dem Ruder festklammerte. Eine Mischung aus Verzweiflung, Panik und selbstmörderischer Verrücktheit hatte die drei Gesprungenen dazu gebracht, sich selbst derart in Gefahr zu bringen – und die beiden Urlauber, die ihren Weg kreuzten, gleich mit. Sie musste sich am Mast festhalten. Es wurde ihr mulmig in der Magengegend zumute und sie sah hilfesuchend zu Karim hinüber.

Zum Glück erschien der weiterhin recht gefasst, obwohl ihm das Adrenalin ebenso in den Körper geschossen sein musste wie ihr auch. Ihre Blicke trafen sich nur den Bruchteil einer Sekunde lang, denn jetzt war Reagieren angesagt. Annika steckte das Handy schnell in den wasserdichten durchsichtigen Schutzbeutel, der um ihren Hals hing, und versuchte, ihren Mann in einem Anfall von Panik an der Pinnen-Steuerung wegzuschubsen. Am liebsten würde sie vor lauter Angst den Motor sofort wieder anschmeißen, um sich schnell von dem Schlauchboot zu entfernen. Sie gab Karim das auch zu verstehen. Der aber wehrte ab, drückte sie weg und wirkte dabei ziemlich aufgebracht. Sie würde nur Wellenschlag verursachen mit ihrer Aktion und die Männer noch mehr gefährden, brauste er auf. Er wollte eindeutig helfen. Sie ja eigentlich auch.

Die drei jungen Afrikaner erreichten schon fast unter Keuchen und Nachluftschnappen das Boot, und er versuchte verzweifelt, in seiner Muttersprache Berberisch wenigstens noch die anderen Schlauchbootinsassen davon abzuhalten, ebenfalls über Bord zu springen. Sie verstünden sein Rufen, das wurde Annika klar, aber nur zu gerne als Aufforderung und Einladung, zu ihm zu schwimmen. Wenn sie seiner Sprache überhaupt mächtig waren! Denn ihre Kumpels im Wasser brüllten ihnen in einer unverständlichen afrikanischen Sprache ebenfalls etwas zu. Wie sie später erfahren sollte eine Anweisung, an Bord zu bleiben, bis sie es selbst erst einmal aufs Segelboot geschafft hätten. Trotzdem hörte man es plötzlich wieder klatschen. Ein weiterer junger Mann prallte auf den Atlantik auf. Es war für Annika schrecklich, das mitansehen zu müssen.

„Mein Gott! Tu was!“, rief sie panisch. Sie hatte die Sonnenbrille auf den Kopf hochgeschoben, wodurch sich ihre langen Haare etwas bändigen ließen und nicht mehr ins Gesicht hingen. Der Glatzkopf strampelte im Wasser so verzweifelt mit allen Vieren, dass ihm ein anderer Mann aus dem Schlauchboot das zweite Ruder zur Hilfe hinstreckte. Just in dem Moment griff der Breitschultrige, der als erster gesprungen war, aus dem Wasser heraus schon nach dem Außenmotor und strahlte Karim unter der Glut der Vormittagssonne entgegen. Er freute sich wie ein Kind, es geschafft zu haben, sein Gesichtsausdruck war sympathisch und überhaupt nicht verzweifelt, wie Annika erwartet hatte. In der Nähe sieht alles anders aus, dachte sie erstaunt.

„Oh mein Gott!“, kreischte sie dann aber, als der Mann hochkletterte und die Jolle gefährlich zu schwanken begann. Fast hätte er den Motor mit sich und damit unrettbar in die Tiefen des Atlantiks gerissen, wenn Karim den schweren Körper nicht geistesgegenwärtig backbord gepackt und mit einem einzigen Ruck hochgezogen hätte. Nass klatschten zirka 90 Kilogramm auf den Boden vor ihre Füße und der Nicht-Marokkaner keuchte ein freundliches „Bonjour Madame, bonjour Monsieur“. Er war total außer Atem.

„Qu’est-ce-que vous faites ici?“, gab sie auf Französisch zurück, das in der ehemaligen französischen und teils spanischen Kolonie neben den verschiedenen berberischen Dialekten und dem Arabischen bekanntlich Verkehrssprache war. Sie wich so viele Zentimeter von ihm ab, wie auf diesem engen Raum überhaupt möglich waren, und sah vor sich dabei Karim schon am nächsten Schlauchbootschiffbrüchigen dran. „Was er hier macht, fragst du? Siehst du doch! Beruhig dich! Wir holen die jetzt alle rein, wir können sie doch nicht ertrinken lassen, oder?“, rief er auf Deutsch und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch.

Vom Hin- und Herschwanken auf den leichten Wellen oder von der Aufregung, Annika wurde jetzt endgültig richtig übel. Sie musste sich wegen zu viel Kaffees am Morgen übergeben und erwischte damit den Afrikaner an der Schulter. Der beugte sich über Bord, murmelte irgendetwas vor sich hin und wusch sich ihr Erbrochenes mit einem Schwung Meerwasser ab. Geistesgegenwärtig half er dann Karim, der sich schon den Gürtel seiner Jeans abschnallte, um den anderen, der des Schwimmens fast nicht mächtig war, ans Boot heranzuziehen. Annika bemerkte auf einmal, wie dehydriert sie war. Sie nahm einen Schluck aus einer Wasserflasche, die vor ihr lag.

„Merci, Madame?“, bat der bereits Gerettete in total durchnässter schmutziger Kleidung auf einmal ebenfalls um Trinkwasser. Ihr langes dunkelbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie das dem bestimmt Halbverdursteten mit den gutmütigen schwarzbraunen Augen entgegenreichte. Mit dem gleichen Schwung fiel sie danach ungewollt auf den Boden und auf ihre Sonnenbrille. Sie hörte das Plastik zerbrechen. Ihr war alles zu viel. Glücklicherweise hatte sie Tabletten gegen Übelkeit in ihre Jeanstasche gepackt, nach der sie griff. Karim warf ihr eine weitere herumliegende halbvolle Flasche herüber. Er erlebte solche Übelkeitsattacken an Bord bei ihr nicht zum ersten Mal, sie hatte einen sensiblen Magen. Normalerweise jedoch bei mehr Seegang und zum Glück war das Meer heute noch recht ruhig.

„Geht’s dir sehr schlecht? Kommst du klar?“, rief er ihr zu. Sie nickte wortlos und nahm einen Schluck, aber die Flüssigkeit schmeckte warm und alt. Das Medikament immerhin bekam sie damit runter und sie warf die Flasche dann angewidert von sich. Der junge Mann vor ihr gab ihr mit sichtlich schlechtem Gewissen schnell ihr eigenes Wasser wieder. Dann beugte er sich aus dem inzwischen tiefer liegenden Boot, um mit beiden Händen nach einem seiner Freunde zu greifen. Kurz darauf waren die meisten der Schlauchbootinsassen an Bord. Sie sah zu, wie Karim müde auf einen Sitzplatz sank und angespannt die Gesichter um sich checkte und von ihnen gegengecheckt wurde.

Annika war immer noch etwas schummrig vor Augen. Obwohl sie kurz zögerte, mit einem Fremden aus derselben Flasche zu trinken, musste sie es wohl oder übel tun. Die Chemie zwischen ihr und dem anderen stimmte, sonst hätte sie das erst recht nie gemacht. Mit dem restlichen Wasser aus der Flasche wusch sie sich dann das Gesicht ab. Sie blickte auf Karim. Der kämpfte inzwischen mit aufkommendem leichtem Wind.

„Scheiße!“, hörte sie ihn sagen und versuchte jetzt erfolglos aufzustehen. In diesem Moment sah auch sie, dass sich die spanische Küstenwache auffällig näherte, während das leere gelbe Schlauchboot auf den leichten Wellen leer davontrieb. Annika schaute zu, wie er wie wild mit den Armen fuchtelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber als Reaktion erntete er nur, dass die Yacht uninteressiert wieder mit Kurs auf die hohe See abdrehte. „Fuck you!“, rief Karim. Nun saßen sie mit zehn jungen Männern in einem Boot und mussten das Problem selbst lösen. Es ging alles so schnell. Wie sollten sie hier nur wieder herauskommen?

Auch für die Schlauchbootschiffbrüchigen auf- und übereinander war es hier eng. Trotz ihrer Odyssee hatten sie aber noch Energie zum Palavern: „On aurait pu mourir!“, „Fais gaffe! Idiot, aide-moi!“, „Help!“, „Monsieur, Madame“, „Merci“, „De l’eau!“, baten sie um Wasser, das jetzt schon sehr knapp an Bord geworden war. Alle sprachen Französisch und ein paar Brocken Englisch und was sie wollten, war eindeutig klar: „Spain, Espagne, Tarifa??“

Die Situation vor der Küste hätten sie nicht derart unterschätzen dürfen. Wie hatten sie und Karim nur so naiv sein können! Das musste der Urlaubshype gewesen sein, dachte Annika, während sie, auf dem Boden sitzend, am liebsten in Ohnmacht gesunken wäre. Sie konnte sich fangen: „Wir müssen umkehren!“ Sekundenlang trafen ihre blauen Augen seine dunkelbraunen, als er sich zu ihr drehte. Seine kurzen, gelockten, schwarzen Haare über der hohen Stirn waren schweißgebadet, ebenso sein türkises Lieblingshemd und das T-Shirt darunter. Er sah ziemlich angestrengt aus.

Das Segelboot lag schon um einiges tiefer im Wasser als vorher. Eine etwas größere Welle, und es war um alle geschehen, also nur gut, dass Annika die marokkanische Küste weiterhin mit bloßem Auge erkannte. Sie nahm wieder einen Schluck und geriet mit ihrer linken Hand, an der rotlackierte Urlaubsfingernägel glänzten, zwischen die Bruchstücke der für die Reise eigens erworbenen Sonnenbrille. Es tat nicht weh, nein, das plötzliche unangenehme Gefühl, das in ihr aufstieg, kam von der seltsamen Nähe zu den Fremden um sie herum. Es war eine wie aus den Tiefen des Meeres auftauchende dunkle Angst, als sie die Lage nun erst vollkommen realisierte. Sie blickte sehnsüchtig zu ihrem Mann.

„Tarifa? Est-ce que vous nous pouvez amener à Tarifa?” Die Freiheitsglückssucher waren nicht ruhigzukriegen. „No, wir fahren nicht nach Tarifa!“, hörte sie Karim jetzt schon zum dritten Mal rufen und dann verärgert „Silence!“, was „Ruhe“ bedeutete, in die Runde schreien. Er entschied sich, das Radio anzuschalten, um die Leute mit Musik zu beruhigen. Eine schöne harmonische Frauenstimme sang ein Lied in einer Berbersprache mit einem immer wiederkehrenden Refrain. Die Blicke der jungen Männer senkten sich zu Boden, nun schienen sie verstanden zu haben, dass der Ort Tarifa nicht der Plan sein konnte. Ihre gutmütigen Augen und durchfrorenen Körper wirkten auf einmal sehr traurig. Und müde. Kein Wunder, wahrscheinlich waren sie die ganze Nacht auf dem Wasser gewesen. Im September wurde es nachts manchmal kälter und der Schlafentzug bewirkte noch stärkere Unterkühlung. Ihre Angst wich langsam einem Gefühl von Mitgefühl und Mitleid.

„Nur weg hier und zurück an Land!“, machte sie ihrem Mann erneut klar und schaffte es, sich mithilfe des Afrikaners direkt neben ihr endlich zu erheben. Er verstand, dass es ihr nicht gut ging, denn sie torkelte. „Tarifa no, no, no! Ne pas possible!“ Sie winkte wild und nervös die Möglichkeit einer Fahrt bis nach Andalusien mit den Händen ab und schaffte es, schweigend neben Karim Platz zu nehmen. Jetzt konnte sie mit etwas Mühe sogar den äußersten Süden Spaniens erkennen. Der Urlaubsort Tarifa, den die Afrikaner so gerne erreichen würden, bestand aus Wind, Kitesurfern und Schäferhunden, vor denen sich die Katzen auf den Straßen zu verstecken versuchten. In dieser kleinen Stadt reagierte man wie auch auf dem Meer mit einer gewissen Toleranz gegenüber den Neuankömmlingen vom afrikanischen Kontinent. Ab und zu schaffte es ja eine oder einer herüber, wenn die Schleusermafia nicht gerade ein Narkotikum als angebliches Mittel gegen Seekrankheit herumreichte, um einen über Bord werfen zu können. Annikas Freundin Simone arbeitete dort momentan in einem Hostel, in dem sie vorgestern bei ihrem Besuch übernachtet hatten.

Der Atlantik und das Mittelmeer kreuzten sich zwischen den beiden Kontinenten, ließ sie ineinanderfließen und Wellen und Strömungen erzeugen, die nur Einheimische, Fischer und Seemänner gut kannten. Wenn sich die afrikanische Kontinentalplatte jährlich um einige Zentimeter unter die eurasische schob, war die Natur ganz klar stärker als der Mensch.

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