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Das Opferfest Eid ul-Adha

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Am Sonntagmorgen war die Vorfreude auf das Opferfest schon deutlich zu spüren, denn es handelte sich ja um das wichtigste Fest des Islams und fand zeitgleich zur großen Wallfahrt nach Mekka in Saudi-Arabien statt. Jeder Muslim, ob strenggläubig oder liberal, feierte es gerne in den Kreisen der eigenen Familie, vor allem deswegen waren sie zu Besuch. Beim Eid ul-Adha wurde ein Opfertier geschlachtet, in diesen Breitengraden bevorzugt ein Schaf, manchmal auch eine Ziege.

Die Frauen schnippelten schon in der Küche Zutaten für Salat und Gemüse und die Beilagen, als das Ehepaar zum Frühstück runterkam. „Bonjour!“, sagte Annika beim Eintreten und „bonjour“ tönte es zurück. Die Berberinnen schnatterten durcheinander und baten ihnen einen Platz am Tisch an. Fatima reichte Tee und stellte selbstgebackenes Weizenbrot, Argan- und Olivenöl zum Eintunken sowie Butter darauf.

„Kaffee oder Tee?“, fragte sie im Vorbeigehen.

„Beides“, antwortete Karim, der ihr einen Kuss auf den Kopf und die Stirn gab und mit seinen 1,80 Metern lächelnd auf sie hinunterblickte. Er nahm Platz. Annika folgte Fatima in die Küche, um ihr mit den Getränken und dem Geschirr zu helfen.

Nach dem leckeren Frühstück nahm Yassine sie zum Kauf von zwei Schafen mit, die vor dem eigenen Haus geschlachtet werden sollten. Jeder, der es sich finanziell leisten konnte, hatte hier die religiöse Pflicht, dies an diesem Feiertag zu tun und von dem Fleisch nicht nur in der eigenen Familie und mit Freunden, Nachbarn und Bekannten tagelang davon zu essen, sondern es auch an Arme zu verteilen. Die Tiere wurden schon länger für diesen besonderen Anlass gemästet und jetzt für einen möglichst guten Preis verkauft. Das Opferfest begann nach muslimischer Zeitrechnung jedes Mal am Zehnten des Monats Dhu l-Hiddscha. Es sollte an den Stammvater Abraham erinnern, den Christen aus dem Alten Testament kennen und der seinen Sohn Gott opfern wollte, weil er das von ihm verlangte. In Deutschland wäre das private Schlachten, das nach dieser Tradition im Islam an diesem Tag stattfand, nicht erlaubt. In hauptsächlich muslimischen Ländern wie Marokko gehörte es einfach dazu. Das Opfertier sollte die schlechten Taten der Menschen auf sich nehmen wie ein Sündenbock.

Yassine, Fatima, Annika und Karim saßen eine Stunde später gemeinsam im Pickup der Familie und fuhren zu dem befreundeten Bauern. Sie war als Kind mit ihren Eltern schon viel gereist und hatte eine Neugierde für andere Länder entwickelt, denn Neues versprach immer Kurzweil und bewusstseinserweiternde Erkenntnisse. Rein ins Auto und alle Erlebnisse gleich mit, die in den Kulturbeutel der Gemeinsamkeiten des Morgen- und Abendlandes gehörten und die ihr dabei halfen, ihre Beziehung zu Karim und sich selbst in der Begegnung damit besser zu verstehen.

Annika meinte: „Wisst ihr, was Christen glauben? Abraham ist der Vater der drei Buchreligionen Islam, Judentum und Christentum. Er soll als erster Mensch in der Geschichte einen Bund mit Gott geschlossen haben. Auf diesen geht auch zurück, dass Christen Monotheisten sind. Das haben sie mit den anderen Buchreligionen wie der euren gemeinsam, damit sind damals dann wohl die Naturreligionen zu Ende gegangen. Gott verlangte im Alten Testament als Vertrauenstest und Liebesbeweis, dass er seinen Sohn Isaak opfert, also ihn tötet. Das Opfer sollte zeigen, man liebt Gott mehr als die eigenen Kinder, ist das bei euch auch der Grund? Ist ja wirklich hart!“

Karim zuckte mit den Schultern und antwortete: „Keine Ahnung. Genau weiß ich das ehrlich gesagt nicht. Aber Gott hat Abraham dann doch noch rechtzeitig gestoppt, oder?“

„Ja“, sagte sie. „Im Christentum haben wir dafür aber keinen Feiertag.“

„Wir Muslime zelebrieren diese Begebenheit, um die Barmherzigkeit zu feiern, jedes Jahr mit der Schlachtung, es ist unser größtes religiöses Fest“, antwortete Yassine. Fatima meldete sich in ihrem gebrochenen Schulfranzösisch zu Wort: „Wir sagen, Abraham wollte Ismael opfern, den Sohn, den er mit seiner Sklavin Hagar hatte, weil seine Frau Sara kinderlos blieb und ihm erlaubt hatte, einen Nachfolger seines Stammes mit dieser Frau zu zeugen.“

Annika hatte ihren katholischen Glauben aus der bayerischen Kindheit vor der Begegnung mit Karim schon abgehakt und verstand sich als spirituellen Menschen ohne Dogmen und Glaubenssätze mit Hang zum Buddhismus. Religion konnte Menschen helfen, wenn es ihnen richtig schlecht ging und manchmal holte sie das Thema wie jetzt einfach ein. „Nach dem Alten Testament galten die Kinder, die der Ehemann mit Einverständnis seiner Frau mit einer Sklavin zeugte, als seine oder sogar ihre Kinder“, fuhr sie fort, weil sie mal darüber gelesen hatte.

Fatima meinte: „Mein Gott, ist das kompliziert. Aber dass du das alles weißt! So ein liberaler Umgang miteinander, dass eine Frau einer anderen Frau so etwas erlaubt! Hört sich eher nach dominierender Stellung des Mannes an. Ich wäre da als Ehefrau total eifersüchtig.“ Sie sah Yassine von der Seite an, der sofort beteuerte, dass er nie eine andere Frau als sie in seinem Leben haben würde.

Annika schätzte die einfache, liberal eingestellte und offene 60-jährige Frau, der es nicht vergönnt gewesen war, in ihrem Heimatdorf die Schule zu Ende zu besuchen. Nur manchmal machte es sie traurig, dass sie keinen wirklichen Beruf erlernen konnte. Dies hatte sie ihr einmal erzählt, zu gerne sei sie Mutter und kümmerte sich um ihre Großfamilie. Auch Bücher hätte es damals so gut wie keine gegeben, außer dem Koran. Ihre ehemalige Schönheit sah man ihr immer noch an. Mal trug sie Make-up, mal keins, auf alle Fälle mochte sie die Farbe Rot, das zeigten ihre heute bis zum Boden reichenden Kleider und Tücher. Die beiden Frauen lächelten sich an, sie hatten sich gerne, und von Männern unterdrückt zu sein schienen beide nicht. Ihre Blicken trafen sich in einer für jede anders bedingten Introvertiertheit, was ein Außenstehender mit Schüchternheit verwechseln könnte. Die Schwiegermutter war stolze Berberin und hatte mit Karim sieben Kinder aufgezogen.

Je liberaler die Eltern, desto lockerer die Regeln, das konnte Annika bezeugen: „Gut, dass ihr Karim nicht so superreligiös erzogen habt, sonst würde er mein paniertes Schweineschnitzel sicher nie essen. Leider liest er nicht gerne, das hat er von dir, Fatima! Nur auf Facebook, das ist aber mehr ein Scrollen“, meinte sie ironisch und rollte scherzhaft die Augen.

Ihr Mann blickte sie etwas verletzt an: „Wir hatten keine Bücher als Kinder, die gab es einfach nicht! Aber Religion ist Religion, ob christlich oder muslimisch, solange man nicht fanatisch wird, ist es doch egal, welcher man angehört.“

„Wir sind da, dort vorne ist es! Ich kann die Schafe schon riechen!“, schaltete sich Yassine ein und brachte das Gespräch damit zum Stillstand. Sie parkten und stiegen aus dem Auto. Bei dem Bauern, einem Freund seines Vaters Ali, wartete dieser bereits auf sie. Sohn und Vater bezahlten das Geld für das Tier gemeinsam. Unter Blöken wurde es dann an den Hufen zusammengebunden.

Annika blickte dem Opfer direkt in die Augen und meinte leise zu Karim: „Wer hat mehr Angst, das Schaf vor dem Tod oder ich vor dem Islam?“ Der grinste sie nur an, als die Männer schon das Tier auf Yassines Pickup hoben, in dessen Haus das große Schlachten, Kochen und Essen ja am Folgetag stattfinden würde. Er wusste nicht, was er darauf sagen konnte, manchmal verstand er die Beziehung seiner Frau zu seiner Religion wirklich nicht, aber er hatte Humor und Selbstironie.

„Du hast doch keine Angst!“, sagte er.

Ein Schaf alleine würde natürlich nicht reichen, um genügend Fleisch für alle zu braten. Für ihr eigenes gemeinsames Opfertier, das sie für das Familienfest beisteuerten, mussten sie jetzt 1800 Dirham, also umgerechnet an die 180 Euro hinblättern. Es wurde ebenfalls an allen Vieren zusammengebunden, von ein paar Jungs auf den Transporter gehievt und starrte sie so unverhohlen wie mitleiderregend an.

Diesmal konnte Annika dem Blick aus reiner Tierliebe nicht standhalten und meinte nur: „Ganz schön teuer bist du!“

„Ist ja auch schon dick und hat viel gegessen“, konterte der wegen des Erwerbs der beiden Opfertiere dagegen sichtlich erfreute Großvater, der als Witwer mit Sohn Yassine und Schwiegertochter Fatima im gemeinsamen Haushalt zusammenlebte. Mit nun zwei Tieren auf der Ladefläche fuhren sie im Konvoi gemeinsam zurück nach Hause.

„Zu Zeiten des Opferfests Eid ul-Adha kommt man an einem Schaf nicht vorbei“, postete sie später in einem Café in der Cinémathèque, die sich in der Nähe der Wohnung befand. Dort tranken sie gegen Abend öfter noch einen Nos-Nos oder sahen manchmal auch einen Film. Sie schrieb weiter: „Seltsame Religion, die einen hier mit der Vergangenheit verbindet. Die Schafe werden auf dem flachen Hausdach an den Beinen zusammengebunden und bleiben dort über Nacht liegen, bis sie morgen am Festtag dann von den männlichen Familienmitgliedern geschlachtet werden sollen.“ „Igitt!“, schrieb Simone aus Tarifa zurück, die gerade online war. Sie war nun einmal eine fast militante Vegetarierin, von der sie nichts anderes zu erwarten hatte. Die beiden Freundinnen chatteten etwas hin und her. Keiner der noch folgenden Likes oder Kommentare kam auch nur auf die neugierige Idee, von Annika mehr über das Opferfest zu erfragen. Niemand schien sich für Religion zu interessieren. Mit Karim ging sie hungrig zu Fuß nach Hause. Fatima hatte natürlich nochmal gekocht.

Ihr Schlafzimmer lag genau unter dem ebenerdigen Hausdach und man hörte es am nächsten Montagmorgen plötzlich früh von dort poltern. Annika konnte deswegen nicht mehr schlafen und stand vor Karim auf, um sich neugierig geworden anzusehen, was da oben vor sich ging. Die zwei Schafe wehrten sich gegen die Fesseln. Yassine war schon da. Er wünschte ihr einen guten Morgen, den sie erwiderte. Sie gingen kurz darauf gemeinsam runter zum Frühstücken. Karim stieß dazu.

Später erst sollte es so richtig schlimm werden, weil sie wie abgemacht beim Schlachten zuschaute. Sie hielt es nicht lange aus und konnte schon bald nicht mehr hinsehen. Annika zog sich lieber auf ihr Zimmer zurück. Noch einprägsamer wurden die Bilder jedoch, als Karim sie eine Stunde später nochmal überzeugen konnte, bitte jetzt doch mit zu den anderen hoch aufs Dach zu kommen, das Schlimmste sei vorbei. Wäre sie mal lieber nicht mitgegangen. Die Tiere hingen schon kopfüber, und die Köpfe wurden im Feuer geröstet. Sie beschrieb es ihrer 17-jährigen Nachbarin Nele in Berlin, die sich kurz darauf zufällig auf WhatsApp meldete. Annika war froh, die Erlebnisse chattend bei einer Gleichgesinnten in Deutschland loszuwerden. Mitgehangen, mitgefangen.

„Ich sehe zu, wie mein Schwager mit dem Messer das Schaf, das von unseren Neffen Abderraman und Ibrahim halb gefesselt in einem Schuppen in der Nähe des Hauses landet, den Kopf abschneidet. Das Tier wird nach einem Halsschnitt kopfüber aufgehängt, um es ausbluten zu lassen, also halal, und nachdem die Innereien rausgenommen sind, ziehen sie das Fell ab. Sie nehmen dabei eine Fahrradpumpe, mit der man an irgendeinem Loch, wahrscheinlich dem Bauchnabel, Luft ins Schaf pumpt, um so das Fell leichter vom prallen Körper abzuziehen. Den Kopf rösten sie im Feuer, das riecht schrecklich, sage ich dir! Soll daran erinnern, dass Gott zu Abraham gesagt hat, er soll ihn seinem Sohn abschlagen. Zwei oder drei Tage lang werden wir nun davon essen. Warum muss ich mir das bloß reinziehen? Ich fühle mich hier als halbe Berberin.“

„Mein Gott, das ist ja wie im Mittelalter. Warum machen die das?“, wollte Nele wissen.

„Wegen dieser Geschichte mit Abraham und Isaak, kannst du dich ans Alte Testament erinnern? Das mussten wir rauf- und runterlesen im Religionsunterricht, ihr etwa nicht? Und die Muslime haben so was Ähnliches, müsste ich dir jetzt genauer erklären.“

„Ist schon okay, Religionen interessieren mich echt nicht die Bohne“, schrieb die nicht gläubige 17-Jährige zurück.

Das Blut an diesem Tag blieb dann am Abend als Bild in Annikas Kopf zurück und vermischte sich beim gemeinsamen Fernsehen im Wohnzimmer gegen 20 Uhr mit einer blutigen Nachricht aus dem Krieg in Syrien. Ihr Gehirn konnte beide Ereignisse nur mit Höchstleistung ihrer Synapsen wieder trennen und vor dem Einschlafen dachte sie später sogar darüber nach, wie gerade so viele um sie herum jetzt doch Vegetarierin zu werden. Sie nahm sich vor, nie wieder so hautnah beim Schlachten zuzugucken, denn es war eindeutig heftiger als erwartet. Sie schrieb kurz vor dem Ausschalten ihres Nachttischlampenlichtes, dessen 40-Watt-Strahlkraft eindeutig zu wünschen übrigließ, noch einmal an Nele. Denn von Karim erwartete sie sich kein allzu großes Verständnis, weil es sich ja um seine gewohnte Kultur handelte. „Heute Nachmittag sind wir auf nicht geteerten Straßen zu einem Verwandten etwas außerhalb von Tanger gegangen, da gab es diese unebenen Wege zwischen den Häusern mit Bodenfurchen, in denen sich Pfützen gebildet haben. Die waren voller Blut. Es war dort menschenleer um diese Uhrzeit, alle haben gefeiert und zu Hause Grillspieße gegessen.“

„Echt spooky, du Opfer!“, antwortete Nele und glaubte es nicht, dass Annika so cool zusehen konnte. „Ich müsste mich übergeben.“

„Ich verstehe“, sagte Karim zum Glück, nachdem er sie gebeten hatte, ihm ihren Chat doch mal vorzulesen. Er nahm sie in die Arme: „Daran muss man gewöhnt sein! Vergiss es wieder.“

„Wie soll ich das so schnell vergessen? Ich wollte bei dir und deiner Familie sein, aber das ist nicht mein Ding, dieses Geschlachte, ich war zu nett und jetzt bekomme ich diese Bilder nicht mehr aus meinem Kopf raus“, antwortete sie leicht genervt.

„Dann schlafen wir jetzt!“, meinte er und drehte sich von ihr weg zur Seite. Sie schaltete das Licht aus und wünschte ihm gute Nacht.


Auch am nächsten Morgen zog schon um 7 Uhr wieder der Geruch nach gegrilltem Schaffleisch durchs geöffnete Fenster und weckte sie. Sie schloss das Fenster, duschte und ging dann mit Karim zum Frühstücken in die Küche. Fatima und Yassine saßen schon vor ihrem Tee. Wie sie erfuhr, sollte jetzt ein paar Tage lang von dem Fleisch in Grillspießform gegessen werden. Familie, Freunde und Nachbarn waren für heute eingeladen.

„Heute will ich lieber mal im Meer schwimmen und etwas wellenreiten. Machen wir das?“, meinte sie zu Karim, der sofort einverstanden war. Somit konnte Annika hier von Arbeit und Großstadt Berlin nach und nach abschalten und die Seele richtig baumeln lassen. Sie hatte vor, ihren restlichen Urlaub in der Sonne wirklich zu genießen, zehn Tage gingen ja erfahrungsgemäß vorbei wie im Fluge.

Als sie auf dem Surfbrett im Wasser lag und gegen die weißen Schaumkronen der niedrigen Wellen anpaddelte um raus auf eine größere aufzuschwimmen, musste sie wieder an das Schlauchboot und den Malier denken. Das schockierende Erlebnis hatte sie eigentlich recht gut verarbeitet, nicht zuletzt, weil sie auch von den Verwandten so gut aufgefangen worden war. Sie verdrängte die Erinnerung und wendete schnell das Board, um zu versuchen, die nächste hohe Welle zu nehmen. Es klappte, sie stand zumindest fast 20 Sekunden, bevor sie wieder ins atlantikkalte Wasser fiel. Das reichte ihr als ewiger Anfängerin schon.

„Wahrscheinlich gut so, dass Mamadou sich nicht mehr gemeldet hat“, sagte sie später am Strand zu Karim. „Ich lösche jetzt seine Nummer aus dem Handy!“ Sie wollte sich keine Scherereien einhandeln.

„Ich hätte mir die gar nicht erst notiert!“, meinte er. Sein stolzes Volk der Imazighen, was „freies Volk“ bedeutete, hatte das Berberische als Muttersprache, genau gesagt, den Dialekt Tamazight. Er wäre nie auf so ein Boot nach Europa gestiegen. Um 700 wurde seine Heimat Marokko von den Arabern überfallen, die Imazighen wehrten sich damals wie auch im Laufe der Zeit immer wieder gegen diese Eindringlinge, die Islamisierung und deren Sprache. Über Jahrhunderte hinweg ging das dann nicht mehr und das Arabische wurde dann doch irgendwann Amtssprache. Jedes Kind konnte es neben einer der fünf Berbersprachen verstehen. Es gab nämlich noch ein paar weitere Dialekte, je nachdem ob man sich im Norden, in der Mitte oder im Süden des Landes aufhält. Ob die Bezeichnung „Berber“ vom römischen abwertenden „Barbarus“ oder arabischen „al-barbar“ abstammte, war nicht hundertprozentig klar. Man bevorzugte es, mit Imazighen im Plural und Amazigh im Singular angesprochen zu werden und hatte in der zeichenhaften Schrift ein eigenes Symbol dafür.

Annika hatte viel im Internet und bei Karim nachrecherchiert und dabei herausgefunden, dass vor gar nicht allzu langer Zeit im 21. Jahrhundert König und Regierung der Monarchie das marokkanische Tamazight als Amtssprache eingeführt hatten. Französisch wurde in der ehemaligen Kolonie sowieso in der Schule unterrichtet. Karims Vorfahren waren Ureinwohner dieser indigenen Ethnie Marokkos, Algeriens, Malis, Libyens, Tunesiens und teilweise auch Ägyptens, wobei die ihr Angehörigen inzwischen natürlich in die ganze Welt emigriert und verheiratet waren. Da die kinderreiche Generation in seinem Alter oder auch jünger nicht genug Arbeit oder Bildungschancen für einen jeden mitbekommen hatte, betrieben junge Leute normalerweise Familienplanung und Verhütung. Viele Eltern sahen und die Sprösslinge fühlten, wie schwierig oder sogar unmöglich es war, in diesem Land neben einer Ausbildung auch eine gut bezahlte Arbeit sowie eine Absicherung für Krankheit und Alter zu besitzen. Als Kellner verdiente Karim damals an die 1500 Dirham, also ungefähr 150 Euro im Monat. Da musste man im Elternhaus wohnen bleiben, der soziale Aufstieg gestaltete sich schwierig oder erwies sich als einfach nicht machbar. Das gab die Organisation des dortigen Arbeitsmarktes und die momentane Überbevölkerung einfach nicht her. Sicher war einiges davon auch von den Regierenden so gewollt, denn Abkommen zur Grenzsicherung mit europäischen hohen Zahlungen verbunden gab es ja schon. Ob da Korruption im Spiel war? Sicher auch, von kontrolltechnisch leider unbeobachteten Geldflüssen im jeweiligen Land ganz zu schweigen. Es bräuchte mehr Personal, wie es aussah.

„Tanger, danger!“, meinte Yassine zu Annika, als sie am frühen Abend in der Altstadt gemeinsam spazieren gingen, um sich dann noch in ein Café zu setzen. Das war sein marokkanisches Wortspiel, das sie manchmal zu hören bekam.

„Wenn einem zu Tanger ‚Gefahr’ einfällt, was sagt man dann zu Agadir, du Scherzkeks?“, fragte seine inzwischen von der Sonne geröstete braungebrannte Schwiegertochter, deren Schulfranzösisch durch die Marokkoaufenthalte besser geworden war und die in Deutschlehrermanier, wie er bemerkt hatte, immer gerne mit der Sprache spielte.

„Agadir, rien à dire!“, meinte er und auch Karim musste lachen, weil es eben zu der Stadt am Atlantik „nichts dazu zu sagen“ gab. Sie war sehr touristisch und musste nach einem Erdbeben 1960 neu aufgebaut werden, hatte also keine wirklich bemerkenswerte Altstadt wie das berühmte Marrakesch. Nur wer sein Land liebte, wie die beiden Männer, konnte über es lachen und Sprüche klopfen. Sie stand gerade auf dem Schlauch, da fiel ihr nichts Passendes aus Deutschland dazu ein. Zu Casablanca, der größten Stadt Marokkos, kam Yassine „weiße Stadt“ in den Sinn, das klang spanisch. Dort fand sich auf den Straßen dieses mehr arabischen als berberischen Melting Pots der Kulturen alles, sogar manchmal ein Minirock, dachte Annika, denn sie war schon dort. Es gab auf alle Fälle einen Unterschied zwischen Dorf und Städten, wo sich Tradition und Moderne eher die Hand reichten. In kleinen Orten gestaltete sich die Freiheit für die Mädchen schwieriger, vielleicht auch, weil die Leute mehr auf das Gerede der Nachbarn gaben und der Vater leichter ein scharfes Auge auf sie haben konnte? Wenn diese Orte touristisch waren, gaben sich die Leute definitiv offener, weil sie sowieso Übung mit Durchreisenden hatten und an sie gewöhnt waren. Schon immer gab es Bewegung im Land. Auch hier in Tanger, so nahe an Spanien und Europa. Sie blickte auf ihre beiden Nichten, die an dem großen Esstisch dazugekommen waren und jetzt mit einem Avocado Milchshake dasaßen. Annika hing gerade lieber ihren Gedanken nach, als sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Vor der Ehe wollte man sich als junge Frau ausprobieren und musste das manchmal vor den Eltern verheimlichen, falls die nicht so liberal eingestellt waren. Mädchen dabei besonders vor dem strengen Vater, der seine Tochter vor den so gesehenen bösen Männern schützen wollte und den Abnabelungsprozess erst zulassen musste. Je liberaler und weltoffener die Familie, desto moderner und freier konnte sich der Geist der neuen Generation entfalten. Die Berber respektierten ihre Frauen, die im Haus das Sagen hatten. Die Prostitution der Mädchen und Jungs vor allem in den Städten blühte jedoch, weil es eben sonst so wenige oder schlechtbezahlte Jobs gab, sogar Studentinnen gingen ihr in den Bars großer Hotels nach. Aber dazu gehörten Shama und Aisha ja nicht. Annika verstand das Land erst, seit sie auch mit den Frauen hier persönlich zu tun hatte und ihnen näherkam. Wer die Frauen nicht kannte, kapierte ein Land nicht. Aisha musste ihre Gedanken gespürt haben, sie blickte sie an und ein unschuldiges Lächeln huschte über ihr schönes Gesicht.

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