Читать книгу Zitronenhimmel - Monika Detering - Страница 6
2
ОглавлениеEin Kuss. Sonnenaufgang, viel Landschaft, und Charleen wollte nicht müde sein. Mit Handtüchern und frischer Kleidung radelte sie zum Bodden. Im Frühjahr hatte sie eine winzige Bucht gefunden, wunderbar zum Sonnen und Baden.
Mit den Zehen testete sie die Wassertemperatur. Mit Gänsehaut stakte sie vorsichtig, fühlte Kiesel unter den Fußsohlen, und tauchte unter. Anders würde sie noch in einer halben Stunde überlegen, schwimmen oder nicht? Sie kraulte, bis ihr Gräser durchs Gesicht fuhren, und merkte, dass die Fingerspitzen schrumpften und gefühllos wurden. Schnell schwamm sie zum Ufer, und lag wenige Minuten später warmgerubbelt vor Schilf und Rohr. Neben ihr wuchsen Disteln und Löwenzahn. Charleen horchte den Geräuschen nach, Keckern, Tschilpen, Rascheln. Sie schrieb Stichworte in ihr Notizbuch. Gedanken über Ekkard. Was machte ein Uhrmacher, der nicht mehr arbeiten konnte, in diesem winzigen Dorf an der Ostsee? Anfangs war sie misstrauisch gewesen, als er begann, zum Wohnwagen zu kommen und sie nach draußen zu rufen. Inzwischen hatte sie ihm einen Teil ihres Lebens erzählt. Sie mochte sein Gesicht, seine Falten, seine breiten Schultern, die Ironie, die er versprühte, seinen schwarzen Witz. Aber bisher hatte sie sich gehütet, allzu viel nach seinem Leben zu fragen. Er sah nach Geheimnissen aus. Nach Frauen.
Wie lange sie in dieser schilfbewachsenen Bucht lag, vergaß sie. Ein Faulenzermorgen, den sie früher nie gehabt hatte. Wenn sie an ihr altes Leben dachte – war ihr manchmal, als habe sie es nur gelesen. Es war so weit von ihr entfernt. Auch Achim. Sein Grab war nur eine rechteckige Platte mit seinem Namen, Ankunft und Abschied von der Welt. Sie brauchte ihn nicht zu begießen.
Auf dem Rückweg sang sie und musste lachen, als sie an die Situation mit der Jagdflinte dachte. Bisher kannte Ekkard ja nicht das Innere von ›Hector‹. Darin herrschte ein für andere unzumutbares Durcheinander. Die meisten Koffer und Kartons waren seit ihrer Ankunft im letzten Herbst verschlossen geblieben. In einem roten Kasten befanden sich ihre Veröffentlichungen und wichtige Papiere.
Kann ich Ekkard in mein Wohnmobil lassen? Nee, entschied sie. Ich kenne auch nur den Garten, nicht sein Haus, das er sich mit Herrn Piritz teilt. Kurz hatte sie überlegt, ob die beiden ein Paar waren. Vorstellen konnte sie es sich nicht. Aber man kann sich eben nicht alles vorstellen. Der kleine rundliche Walter Piritz mit Schnurrbärtchen, immer in Weste und Anzugshose. Ekkard kannte sie nur in Jeans, Shirts und Sandalen. Herr Piritz trug immer sorgfältig geputzte dunkle Schnürschuhe. Während sie sich mit Ekkard sofort geduzt hatte, blieb es bei Herrn Piritz beim förmlichen ›Sie‹. Der Mann begutachtete sie weiterhin kritisch, ebenso wie die Nachbarinnen, die Güse, die Holbein und die Frau Venderbusch. Sie waren freundlich. Aber sie blieben auf Abstand. Ekkard war unkomplizierter. Lässiger. Er liebte seine Uhren, obwohl – gesehen hatte sie bei ihm noch keine außergewöhnliche. Uhrmacher konnte er nicht mehr sein wegen der zitternden Hände.
***
Sie ließ ›Hectors‹ Tür weit offen. Die Hitze staute sich hier drin schnell. Ihren Kaffee trank sie aus einem Becher mit Lächel-Smiley. Erinnerung an Achim, die Tasse hatte ihm gehört. Aber sie dachte nicht mehr daran, es war eine Gewohnheitstasse geworden. Sie überlegte nur – noch ein paar Jahre, und Achim wäre mit seinem Älterwerden nicht fertig geworden. Und ich hätte ihn immer und immer trösten müssen, als wäre ich seine Mutter. Irgendwann hätte es keine Freundin mehr gegeben …
Sie fand Ekkard charmanter, witziger. Aber Vergleiche waren gemein. Schließlich hatte sie sich vor fast 40 Jahren in Achim verliebt. Und er sich in sie. Sehr heftig. Und es reizte, dass seine Eltern gegen die Verbindung waren. Das stärkte ihren Zusammenhalt. Dass er so wurde, wie er war, etwas pedantisch, etwas eitel, sehr häuslich bis auf seinen ›Ausbruch‹, konnte sie ihm nicht verübeln. Eigentlich waren seine Ausflüge ins Fitnessstudio beachtenswert. Nur kam er danach jedes Mal mit knallrotem Kopf und völlig fertig zurück. Sie war ja auch nicht mehr jene Charleen, damals noch etwas farblos, aber hellwach. Sie wurde immer wacher und weniger farblos. Sie hatten sich miteinander eingerichtet und ihre Ehe war nicht unglücklich, war um vieles besser als die der Bekannten und Freunde. Das war doch eine Menge!
Charleen schüttelte den Kopf. Plötzlich wollte er mittags und abends warm essen, das war, bevor wir uns auf die Suche nach einem Domizil an der Ostsee machten. War eine Macke. Gott, bin ich froh, nicht unbedingt warm essen zu müssen. Höchstens mal zu wollen. Sie hatte sich angewöhnt, meistens kalt zu essen. Daran konnte sie sich schnell gewöhnen. Auch, ohne Waschmaschine auszukommen. Handwäsche ging ebenfalls. Mit ihrer Kleidung war sie auch um Äonen lässiger geworden. Der Spiegel in der winzigen Dusche mit Toilette zeigte sowieso nur bis zum Hals. Alles Gediegene aus teuren Stoffen, alles, was Achim so ›reizend‹ und ›kleidsam‹ gefunden hatte, fand sie ältlich und staubig. Sie brachte die Sachen in die Kleiderkammer und kleidete sich in Stralsund neu ein. Was hatte sie sich befreit gefühlt und um tausend Jahre jünger!
»Trara, die Post ist da, Frau Rappard!« Fritzi, Postbotin. Schmal, mit weizenblondem Pferdeschwanz.
Charleen sprang aus ihrem Hinterausgang. »Seien Sie doch nicht albern.«
»Bisschen zu heiß, was?« Fritzi trank aus einer Flasche. »Ich habe einen Brief für Sie.« Sie drehte ihn um. »Aus Bonn.«
Bonn? Charleens Herz wollte sich verknoten.
»Geht’s Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch.« Eigentlich war sie außer sich. Was ging Fritzi der Absender an? Ihr dunkles Haar mit den grauen Strähnen hing ihr tief ins Gesicht, so konnte die Postbotin ihren Unmut nicht sehen. Ganz schnell blickte sie auf die runde Schrift, Kinderschrift. Als wäre der Brief lebendig, so schnell drehte sie ihn um und guckte woanders hin. Trotzdem bekam sie feuchte Augen.
Die Postbotin lehnte sich gegen ihr Lastenfahrrad. »Waren Sie wieder schwimmen? Und haben über den Sinn des Wohnens in dieser Enge hier nachgedacht?«
»Das Wohnen im ›Hector‹ ergibt noch keinen Wohn-Sinn. Vielleicht denke ich immer noch über meine Reise nach. Ich hätte woanders halten können. Warum also? Nur, weil ich dieses Ziel mit meinem Mann einmal geplant hatte?«
»Zufällig ist so etwas nicht. Auch wenn man meint, zufällig hier oder dort zu sein. Sie kamen vor acht Monaten bei strömenden Regen an. War so eine Sauwetterperiode. Ich finde es ja mutig, in Ihrem Alter neu anzufangen. Hatte ich vor ein paar Jahren auch vor. Bin doch erst vierundvierzig, jung oder alt genug, mein Leben umzukrempeln. Und dann stellte ich fest, dass ich es hier gut habe, und bin geblieben. Inzwischen mag ich meinen Job. Wenn ich auch nicht viel verdiene, er gibt mir eine Form der Freiheit. Ich kann trotzdem lecker essen, im Meer schwimmen, kann albern sein und auch sehr viel lieben. In Stralsund wäre ich jeden Tag im Büro, ich hab ja mal BWL studiert – ist aber nicht so mein Ding. Übrigens, das Haus Nummer drei, das mit den blauen Fensterläden am Anfang der Straße, soll verkauft werden. Die Eigentümerin würde auch vermieten. Ist ein bisschen marode, aber es geht. Falls es Sie interessiert? Dann melden Sie sich einfach bei Herta, Herta Dornfeld. Die wohnt in Nummer neun. Sie hatten doch mal gesagt, dass Sie was suchen? Immer in so einem Wohnwagen zu leben ist vielleicht nicht der Hit. Oder wollen Sie weiterziehen? Ich würde es schade finden, ich habe mich an Sie gewöhnt. Und bin eigentlich etwas neidisch auf Ihre Ungebundenheit.«
»Nummer drei? Wirklich? Würde mich interessieren.« Der vergangene Winter war anstrengend gewesen. Sie hatte letztes Jahr viel früher hier sein wollen. Aber dann wollte sie den Sommer über in den Süden, hatte kehrtgemacht und diese Zwischenreise endete auf Korsika …
»Melden Sie sich bei Frau Dornfeld? Und ja, ich mag Sie. Das wollte ich doch mal sagen!«
»Tschüss!« Charleen hängte die nassen Handtücher auf, auch die zuletzt getragene Kleidung. Zog sie glatt, zupfte, entfernte Fusseln, die keine waren, und horchte, ob die Postbotin weitergeradelt war.
Der Brief! Sie drehte ihn um und las erneut den Absender. Sie war so aufgeregt, dass er ihr aus den Fingern rutschte, hob ihn auf und legte ihn wie eine irritierende Kostbarkeit auf die winzige Ablage neben der Spüle. Es war ihr nicht möglich, ihn zu öffnen.
Trotzdem. Sie fand sich ziemlich albern. Ist doch kein Liebesbrief!