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Charleen hatte mit vielem gerechnet. Aber nicht mit solchen Fragen. Die mir zu stellen, wo ich doch mit Leben nach dem Tod nichts am Hut habe. Soll ich Lisa kommen lassen? Im ›Hector‹ ist es zu eng, ich hab ja meinen ganzen Kram darin. Ob Kathrin sie alleine fahren ließe? Besser wäre, die Familie käme und ich würde ihnen eine Ferienwohnung mieten.

Wie kommt Lisa auf die Frage nach der Wiedergeburt? Komme ich als Krokodil oder als Hähnchen in einem Mastbetrieb wieder? So etwas kann ich doch nicht schreiben. Muss ich drüber nachdenken.

Sie faltete das Papier zusammen und schob es in den Umschlag zurück, betrachtete die wilden und bunten Blumen darauf, die Lisa gemalt hatte.

Wie ist das, wenn man gestorben ist? Ich weiß es doch auch nicht. Das weiß niemand. Was soll ich bloß antworten?

Ich find’s schwierig, sich vorzustellen, nicht mehr zu sein. Nicht mehr der Mensch zu sein, der man ist oder der man war. Vielleicht als einen tiefen immerwährenden Schlaf, aus dem ich niemals mehr erwache. Den ich natürlich auch nicht weiß. Dass ich nie mehr ein Bewusstsein haben werde. Das kann ich mir vorstellen. Obwohl dieses ›Nie mehr‹ ein quälender Gedanke ist.

***

Das Dorf war kein Ort der Eile. Hinter den Häusern leuchtete das Rapsmeer. Etwas weiter kam eine grün gestrichene Stallanlage in Sicht. Das nüchterne Gebäude sah nach Arbeit aus. In den weiten blauen Himmel ragte der kurze Turm der alten Backsteinkirche, und wenn man weiterradelte, war das kleine Schloss zu sehen, das nach und nach wiederhergestellt wurde. Krieg und Vandalismus sowie Schwammbefall hatten es nicht unterkriegen können. Dieses alte Herrenhaus hatte neben seiner architektonischen Schönheit auch eine tragische Geschichte, die von Mord und Enteignung berichtete. Birken und Weiden tupften in das blaue Bild. Die Luft duftete bitterscharf, ein bisschen nach Gras, während ein leichter Wind die Hitze verwirbelte.

***

Neben dem Wohnmobil wehte Wäsche auf einem Klappständer. Und dieser Geruch nach Frische, Sauberkeit, nach Wind führte Charleen in die Vergangenheit; sie sah sich als Kind, sah ihre Mutter …

Neben ihr stand die Obstkiste, die Tisch und Regal war. Hühner nörgelten. Auf der Straße ratschten Frau Güse, Frau Holbein und Frau Venderbusch. Man konnte sie gut hören. Güse und Holbein waren um die siebzig und Frau Venderbusch fünfundachtzig. Bei der hing Dürers Hase im Flur, den sie ab und an abnahm und draußen abstaubte. »Von meinem Vater«, hatte sie erklärt. Daneben buhlte ein Familienfoto, 13 × 18 cm, im pompösen Rahmen um Aufmerksamkeit. Die beiden anderen Frauen hatten Fotos vom Bodden rahmen lassen und die Bilder für ihre Gäste aufgehängt. Wie die drei dastanden! Ein Dreieck mit Nasen, die wie eigenständige Gliedmaßen aus ihren Gesichtern hervorragten. Breitbeinig mit kräftigen Waden und festem Schuhwerk. Wegen ihrer grauweißen kurzen Haare konnte man sie für Schwestern halten. Zumindest waren sie Dorfschwestern. Konnten ohneeinander nicht sein und doch furchtbar über die anderen schimpfen. Aber – ihnen konnte niemand mehr etwas vormachen. Sie hatten ihre Lektionen gelernt. Die DDR hatten sie mit wechselnden Meinungen durchgestanden. Erst Sowjetische Besatzungszone, ab 1949 dann DDR, danach die Bodenreform, es kamen ausgebombte Stralsunder und Flüchtlinge aus dem entfernteren Osten. Die Einwohnerzahl des Dorfes erhöhte sich und sank zur Zeit der Wiedervereinigung kräftig ab. In den Neunzigerjahren richteten der Naturschutzbund Deutschland sowie der WWF Deutschlands einziges Kranich-Informationszentrum ein. Kraniche hatte es immer in dieser Gegend gegeben. Und diese Frauen hatten nie ihr Dorf verlassen, hatten Veränderungen durchlebt, konnten Trecker fahren und hatten vor einigen Jahren ihre Häuser renovieren lassen.

Sie waren Witwen geworden und gewöhnten sich an den neuen Status. Neben ihren Hühnern und den Gemüsegärten kümmerten sie sich um Feriengäste. Frau Güse, Frau Holbein und Frau Venderbusch vermieteten. Im Frühjahr und im Herbst kamen die Touristen. Dann, wenn die Graukraniche aus dem Süden zurückkamen oder sich im Herbst auf die Reise begaben, rasteten sie in den flachen Wassern des pommerschen Vorlandes. Die Vögel des Glücks zu sehen und zu beobachten schien ein gutes Omen zu sein. Dann gab es keine freien Zimmer mehr, weder hier noch in den anderen Gemeinden.

Frau Güse fragte Frau Holbein, ob sie mehr über die ›Neue‹ wüsste.

»Nä. Die sacht ja nicht viel. Schreiben tut sie. Romane. Weißte ja. Viel Geld wird sie wohl nicht verdienen. Die hat sicher genügend auf der hohen Kante, seitdem sie verwitwet ist. Eine Tochter, ein Enkelkind. Sagt Fritzi. Dann wird’s stimmen. Und dieses Geklüngel in diesem kleinen Wohnwagen! Fällste bei um, wenn du das siehst! So was macht man mit zwanzig. Aber Charleen ist ein paar Tage älter. Die nähert sich unseren Jahrgängen.«

»Ordnung muss sein!«, dozierte Frau Güse. »Sonst haste nur Durcheinander in deinem Leben. Hat die Frau Schriftstellerin wohl. Ich hab ja noch nix von ihr gelesen. Hab mal in Stralsund im Buchladen geguckt, die schreibt so Frauengeschichten.«

»Aber mit Liebe«, mischte sich Frau Holbein ein. »Ist doch nicht verkehrt. Weiß gar nicht, was du zu meckern hast.«

»Was sagt ihr zu dem Vornamen?«, mischte sich Frau Venderbusch ein. »Jedenfalls habe ich so einen noch nie gehört. Nicht mal bei meinen Mietern.«

»Künstlername?«, fragte Frau Holbein. »So was gibt’s ja. Auch so Komisches wie Pseudodings, weißt ja, was ich meine.«

»Ich habe sie danach gefragt. Sie wurde auf diesen Namen getauft, weil ihre Mutter von einer australischen Sportlerin total begeistert war und wohl dachte, dass das Kindchen auch so etwas Tolles auf die Beine stellt. Hat es wohl nicht. Nun schreibt sie. Wenn das die Mutter wüsste. Aber die ist sicher schon unter der Erde. Übrigens, sie sucht was zur Miete, sagt Fritzi. Und da wird doch was bei unserer Hertha frei.«

»Bekommt die Charleen auch mal Besuch? Oder kennt die niemanden? Was weiß man schon. Nur Ekkard geht zu ihr. Jedenfalls, was ich so sehen kann. Spinnt sich da was an? Bin ja nicht immer am Fenster. Ob sie einsam ist? Unser Herr Piritz schleicht neuerdings sogar um ihr Campinggefährt herum. Der ist auf jeden Fall einsam. Immer ist er mit Büchern unterwegs. Passte doch. Man sieht im Fernsehn doch genügend Paare: sie groß und kräftig, er klein und mickrig.« Frau Venderbusch blickte ihre Freundinnen an.

»Venderbuschi, der deine war auch klein und mickrig. Und sieh dich mal im Spiegel an.« Frau Güse grinste etwas gehässig.

»Wir sprechen jetzt über Herrn Piritz«, führte Frau Venderbusch das Gespräch mit pikiertem Ton weiter. »Der Gute ist ja ziemlich bepfundet, arg klein und glatzig. Der wird’s schwer haben. Und könnt ihr mir mal sagen, warum die Frau Charleen dauernd eine Mütze auf dem Kopf hat? Ist doch Sommer. Hat sie Läuse oder auch keine Haare mehr?«

»Ich frag mal«, gluckste Frau Holbein. »Aber die will für sich sein. Hat bestimmt Schiss, dass jemand ihre Wörter klaut. Aber in so einer Klüngelkiste zu leben wie früher die Zigeuner, die aus Rumänien, weißte noch, als die in den Fünfzigern einen kleinen Zirkus mitbrachten? Da war ja was los, kann mich noch gut dran erinnern …«

»Ein bisschen sieht sie so aus. Mit den Haaren und den Klamotten … Ich habe sie ja auch ohne Mütze gesehen. Die Frau hat wunderschöne lockige lange Haare!«, sagte Frau Venderbusch und guckte stolz, weil sie das mit den Haaren wusste.

»Ob sie aus Polen stammt?«, sinnierte Frau Güse.

»Nä.« Frau Holbein schüttelte den Kopf. »Wenn sie aus Polen käme, würde sie Röcke tragen. Wären in ihrem Alter sowieso angebracht. Die kommt aus Bonn. Kenn ich ja nicht, ist auch ganz schön weit weg. Hat sie beim Einkaufen erzählt. Aber nur, weil ich sie gefragt habe. Von allein hätte sie das nicht gesagt.«

»Wie sie da innen Blömkes hockt, als wenn sie auf dem Klo hocken würde. Hockt sie?« Frau Güse reckte den Kopf.

»Die hat doch ein Trockendings!«, sagte Frau Holbein streng. »Spinnt nicht rum!«

»Möfft das nicht?« Frau Güse grinste breit.

»Keine Ahnung. Geh hin! Übrigens, Ekkard hat vorgestern von einer Lesung erzählt«, stellte Frau Venderbusch mit dem triumphierenden Blick der Besserwisser fest. »Charleen will aus ihrem Roman vorlesen. Können wir uns doch anhören. Sonst steht sie da ganz alleine, das kann man ja auch nicht gut haben.«

»Kostet das was?«, forschte Frau Güse.

Die Frauen nickten, flüsterten und guckten.

Charleen stand auf und kam zu ihnen.

»Na? Nicht am Schreiben?«, fragte Frau Güse. »Fällt Ihnen nix mehr ein?«

Und ohne, dass sie es vorhatte, erzählte Charleen: »Ganz sicher«, lachte sie. »Frau Güse, Sie sind doch eine lebenserfahrene Frau. Kann es die Familie einem übel nehmen, wenn man wie ich sein Leben noch mal auf den Kopf stellt? Ist man als Mutter, Oma und Schwiegermutter auf ewig an die Familie gekettet?«

Ehe die anderen reagieren konnten, insbesondere Frau Güse, sagte sie auch: »Jetzt schreibt meine Enkelin und fragt, ob man eine Seele hat und wiedergeboren wird. Was meinen Sie dazu?«

»Eine Seele? Ich kann mir vorstellen, dass es sie gibt«, überlegte Frau Venderbusch. »Aber über so was Ernstes können wir doch nicht mitten auf der Straße sprechen.«

»Warum denn nicht«, sagte Frau Güse. »Ich jedenfalls wäre nicht sehr erbaut, wenn mein Erich plötzlich wiedergeboren würde. Ein Leben mit ihm hat mir gereicht. Friede seiner Asche.«

»Die du aus Sparsamkeitsgründen über den Acker gestreut hast«, kam es von Frau Venderbusch. »Sowas kannste heute nicht mehr machen.«

»Stimmt es, dass Sie vorlesen wollen?« Frau Holbein rückte näher zu ihr. »Ich komme. Wo soll es denn sein?«

»Im Ekkards Garten.«

»Soso. Das ist aber auch der Garten von Herrn Piritz.«

Zitronenhimmel

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