Читать книгу Immer wieder diese Sehnsucht - Monika Kunze - Страница 4

Ankunft

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Martina spürte wieder diese Bitternis, dieses schmerzende Etwas, das so schwer zu benennen war.

Es fühlte sich genau so an wie an jenem Tag, als sie die beiden namenlosen Frauen am Fahrstuhl des Hochhauses ungewollt belauscht hatte.

Damals, tatsächlich, sie dachte damals, obwohl der Vorfall kaum vierzehn Tage zurücklag, hatte sie zwar diese Szene wirklich als so eine Art Urteilsverkündung erlebt. Aber im Grunde hatte ihre Verurteilung schon ein paar Tage früher stattgefunden.

„Packen Sie es nicht mehr?“ hatte der Neurologe gefragt, zu dem man sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus überwiesen hatte. Sie spürte sofort, dass es für ihn unerheblich war, ob sie nun antwortete oder nicht. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen, denn fast im selben Atemzug hatte er Martina Knittel vorgeschlagen, sich einer Therapie zu unterziehen. Stationär.

"Zu ihrem Besten ..."

Woher wollte er denn wissen, was für sie das Beste war, wenn nicht einmal sie selbst das so genau sagen konnte? Martina hatte schon Luft geholt, um etwas zu erwidern. Doch dann schloss sie ihren Mund sogleich wieder. Es würde ihn vielleicht gar nicht interessieren, was sie zu sagen hatte.

Eigentlich sei es unumgänglich, fuhr der Arzt auch routinemäßig fort und gab jedem seiner Worte durch ausladende Gesten ein besonderes Gewicht.

"Aber die Entscheidung müssen letztendlich sie ganz allein treffen." Sein ausgestreckter Zeigefinger war auf Martina gerichtet.

Danach war er aufgestanden und hatte das Fenster geöffnet, Vogelgezwitscher drang ins Behandlungszimmer.

Als er sich umdrehte, war sein Gesichtsausdruck so heiter und gelöst, sein Mund gespitzt, so dass sie schon befürchtete, er könnte jeden Moment selbst anfangen zu zwitschern. Aber stattdessen sagte er nur: "Gut, Sie brauchen Bedenkzeit? Ich gebe sie Ihnen, sagen wir eine Woche?"

Damit ließ er sich gut gelaunt in seinen Chefsessel aus hellem Leder fallen und streckte die Beine aus. Sein Blick war erwartungsvoll auf sie gerichtet.

"Ich brauche keine Bedenkzeit, je schneller ich weg bin, um so besser."

Die Zweideutigkeit ihrer Worte war keineswegs beabsichtigt, aber gerade die war es wohl gewesen, die den Neurologen zum Telefon greifen ließ, um zu fragen, ob in einer bestimmten Klinik noch ein Bett frei sei.

Er klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, zog eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben, nahm ein Blatt Papier aus dem Zettelkasten und machte sich eifrig Notizen. Alle Gelöstheit war aus seinem Gesicht verschwunden.

"Nein, die Bedenkzeit hat die Patientin ausgeschlagen."

Dann hatte er auch schon aufgelegt und wandte sich wieder an Martina, um ihr zu sagen, dass sie schon am 30. des Monats in G. aufgenommen werden könne.

Sie nickte mechanisch, zuckte die Schultern, und er begann ihr in aller Seelenruhe alle Modalitäten zu erläutern.

*

Vielleicht war es wirklich besser so? Stationär? Martina hatte die Frage noch auf dem Heimweg hin und her gewälzt. Doch obwohl sie sich ernsthaft bemühte, sie von allen Seiten zu beleuchten und zu betrachten, war sie zu keiner schlüssigen Antwort gekommen.

Was sollte das denn heißen: stationär? Was schon? So richtig klar wurde ihr das erst, als sie sich am Wasserturm auf eine Bank fallen ließ, den Wasserfontänen zusah und deren Plätschern lauschte. Das alles würde es für sie in der nächsten Zeit nicht mehr geben.

Wozu brauchte sie auch solche Verschnaufpausen am Springbrunnen oder das beruhigende Geplätscher der Wasserfontänen?

Wozu brauchte sie überhaupt noch etwas? Was sollte denn so ein Aufenthalt in einem Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie bewirken?

Und überhaupt! Was für eine taktvoll schonende Umschreibung!

Die beiden Frauen aus dem Treppenhaus hätten beim Lesen des großflächigen Schildes am Eingang dieses Krankenhauses sicher die Augen verdreht, abfällig gegrinst, sich bezeichnend an die Stirn getippt und nicht die Mühe gemacht, irgendetwas taktvoll zu umschreiben. Für sie war Martina in die Klapse, ins Irrenhaus oder in eine Anstalt gekommen. Solche wie sie brauchten keine taktvoll schonenden Umschreibungen.

*

Der Fahrer, ein kleiner, drahtiger Kerl mit hellen Hosen und etwas zu groß geratenem dunklen T-Shirt, sprang federnd aus dem Auto und eilte mit wiegenden Hüften davon.

Martina wollte sich ein wenig die Beine vertreten und stieg ebenfalls aus. Dabei sah sie, wie er sich leutselig zur Pförtnerloge niederbeugte und einen Bogen Papier durch die Luke schob.

Sie hörte, wie er sich bei dem Herrn in Schlips und Kragen erkundigte, wohin er nun seinen Zugang bringen sollte.

Bei dem Zugang handelte es sich um sie, Martina Knittel, Journalistin, in dritter Ehe verheiratet, einen Sohn aus erster Ehe. Von den einen belächelt und verachtet, von den anderen bewundert, weil sie scheinbar, trotz aller Widrigkeiten, von denen sich in so einer kleinen Stadt natürlich manches herumgesprochen hatte, unangefochten ihren Weg zu gehen schien.

Ihren Weg? Wohin hatte der denn geführt?

Als Martina das Schild rechts neben dem Schlagbaum, wie unter Zwang, erneut las, fragte sie sich, was sie hier eigentlich verloren hatte. Wie konnte sie nur an diesen unwirtlichen, bei den meisten Menschen so verpönten, Ort geraten? Ausgerechnet sie, Martina Knittel, von der so viele glaubten, dass nichts, aber auch gar nichts imstande sei, sie aus der Bahn zu werfen?

Ein Seufzer und ein schmales Lächeln ließen sich nicht unterdrücken, als ihr unwillkürlich die Worte eines ihrer Kollegen einfielen: „Deine Ruhe und deinen Humor möchte ich haben!“

Sie hatte nur gelacht über die Bemerkung und sich gedacht, dass sie ja niemandem hülfe, die ganze Aufregung um nichts und wieder nichts. Lange Zeit hatte sie wirklich geglaubt, dass man mit diesen so oft gepriesenen Tugenden unbeschadet alle Schwierigkeiten meistern könne. Doch was sollten Ruhe und Humor nützen, wenn sie einfach unfähig war für eine dauerhafte Beziehung? Natürlich hatte sie ihre Selbstzweifel vor den Kolleginnen und Kollegen gut verbergen können. Doch all ihr Bemühen um Fröhlichkeit, das die anderen gar nicht als solches erkennen konnten, weil alles, was sie sagte und tat, auf andere tatsächlich leicht und unbeschwert wirkte, hatte offenbar nichts genützt. Wäre sie sonst hier?

„Fachkrankenhaus“, murmelte sie vor sich hin, „was für ein harmloses Wort ..."

Der Fahrer war gerade zurückgekommen und schaute sie misstrauisch an.

Sie hatte ihren letzten Gedanken wieder einmal laut ausgesprochen. Seine spärlichen grauen, schon ein wenig gelbstichigen, Haare flatterten leicht im Wind, er runzelte die Stirn.

„Haben Sie mit sich selbst geredet oder mit mir?“

Seine Frage klang ein bisschen von oben herab, schien auch ohne wirkliches Interesse an einer Antwort gestellt zu sein. Ohne weiter abzuwarten, fuhr er leutselig fort: „Ach, das wird schon, wir müssen ins Haus Nummer Acht!“ Dabei hatte er versucht, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Sie entwand sich ihm, indem sie schnell wieder ins Auto stieg.

Wir? Wir müssen ins Haus Nummer Acht?

Schon hatte er sich wieder in die Fahrerkabine geschwungen und den Motor angelassen.

Mit leisem Surren ging der Schlagbaum in die Höhe, und das Fahrzeug setzte sich gemächlich in Bewegung.

Martina hielt es selbst auch für überflüssig, dem Fahrer auf seine Frage zu antworten. Was hätte sie ihm denn sagen sollen? Sie hatte ja selbst viel zu spät bemerkt, dass sie laut gedacht hatte, und sie schämte sich dafür.

Doch den Mann hinter dem Steuer schien ihr Schweigen nicht weiter zu stören, denn er wirkte völlig entspannt, als er begann, mit spitzen Lippen ein Liedchen vor sich hin zu pfeifen.

Bei so einer, dachte Martina bei sich, werden ihm sicher schon ganz andere Sachen passiert sein. Da fielen doch eine geflissentlich überhörte Frage oder eine verweigerte Antwort überhaupt nicht ins Gewicht.

Martina wandte ihren Blick von seinem Nacken ab, in dessen feuchten Fältchen sich ein wenig Staub niedergesetzt hatte. Interessiert schaute sie aus dem Fenster.

Niemals hätte sie geglaubt, dass es für sie so mühselig sein könne, die neue Umgebung ganz genau in sich aufzunehmen. Sie war schon drauf und dran, in ihrer Reisetasche nach einem Stift und einem Block zu suchen. Gleich darauf ärgerte sie sich über ihren blinden Eifer, der ihr doch nichts weiter als Kopfschmerzen bescheren würde. Sie war schließlich nicht hier, um für eine Reportage zu recherchieren. Sich diese Tatsache vor Augen zu führen und in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen, fiel ihr noch schwerer als sie ohnehin schon befürchtet hatte..

Der Krankenwagen fuhr langsam eine breite, asphaltierte Straße entlang. Zu beiden Seiten war sie von blühenden Linden gesäumt, deren angenehmer Duft schnell seinen Weg durch das geöffnete Fenster fand.

Die einstige Journalistin atmete ganz tief ein, erinnerte sich plötzlich, dass sie schon als Kind diesen Geruch gemocht hatte.

Damals in F., der Sängerstadt, wo sie ihre ersten drei Schuljahre verbracht hatte. Und wo sie … Nein, dachte Martina, gerade an ihn würde sie jetzt nicht denken. Er war ja inzwischen auch ein reifer Mann – und gerade von Männern hatte sie nun wirklich die Nase gestrichen voll.

Der Fahrer sah sie aus dem Rückspiegel an und sagte: „Die Klinik liegt schon herrlich, mitten in der Natur, und dann der Duft der Linden …“

Sie nickte automatisch, wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ganz bewusst versuchte sie noch einmal, richtig tief einzuatmen, aber es war vorbei. Das angenehme Gefühl war verschwunden, es war im Handumdrehen verdrängt worden von einer eisigen Kälte, die sich jetzt in ihrem Herzen einnistete.

Ein Gefühl von Verlorenheit und Angst kroch über ihren Rücken bis zum Nacken und biss sich dort fest. Sie kannte es, wollte es eigentlich nie wieder zulassen. Aber gegen so starke Gefühle kann wohl niemand etwas ausrichten.

Nicht einmal der Lindenduft drang jetzt noch bis in ihr Innerstes vor. Selbst dieser natürliche Trost blieb ihr versagt.

Erstaunt und auch ein wenig erschrocken nahm sie zur Kenntnis, wie sich ihre Härchen an den Unterarmen aufrichteten, langsam, wie es manchmal in Zeitlupenaufnahmen zu sehen war.

Vorn an der Kurve entdeckte sie so eine Art Pferdewagen mit gummibereiften Rädern, nur etwas flacher und kleiner. Links und rechts der langen Deichsel je drei, nein, nicht Pferde, sondern Menschen: Zwei Frauen und vier Männer; zwei weitere Frauen waren gerade damit beschäftigt, herumliegende kleinere Äste und Zweige, samt Blättern (es musste hier in der vergangenen Nacht ordentlich gestürmt haben) in einen Korb zu sammeln und sie dann in buntem Wirbel auf die Ladefläche zu kippen. Alles geschah ohne Hast, wenn auch nicht ohne Eifer.

Im nächsten Augenblick schrie die eine: „Hü!“ und lachte dabei mit unbekümmert weit geöffnetem Mund, so dass ihre schwärzlichen Zähne sichtbar wurden.

Für die anderen schien das ein längst bekanntes und vertrautes Signal zu sein, denn wie selbstverständlich ruckten sie an ihren Riemen und zogen den Karren weiter bis zum nächsten Baum.

Diese Szene wirkte wie ein Spiel. Kinder spielten Pferd und Wagen. Martina konnte nicht verhindern, dass sie plötzlich fror. Das Frösteln blieb solange, bis beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe waren.

Mit schief gelegtem Kopf schaute sie gebannt in die Gesichter, doch sie konnte bei keinem der Leute, die das Gespann zogen, auch nur das geringste Anzeichen von Ärger, Wut oder gar Aufbegehren entdecken. Alle wirkten ganz entspannt.

Noch während sich Martina über diese für sie unerklärliche Gelassenheit wunderte, hatten sie das Gespann aus den Augen verloren. Der Sanitätswagen war links abgebogen, dann wieder rechts an zwei Häusern mit vergitterten Fenstern fast lautlos vorüber gerollt. Diese kunstvoll gedrehten Stäbe vor den Fenstern waren nun erst recht nicht geeignet, Martinas Stimmung aufzuhellen.

Plötzlich trat der Fahrer so heftig auf die Bremse, dass ihr Oberkörper ruckartig nach vorn kippte und sie ihn wütend anstarrte.

„Ist ja schon gut!“, wandte sich der Mann mit den schmutzigen Halsfalten nun beschwichtigend über den Rückspiegel an seinen Fahrgast.

Wieso gibt es eigentlich keine weibliche Form von Gast, durchfuhr es Martina automatisch. Dann vermutete sie, dass seine Worte vielleicht so eine Art Entschuldigung darstellen sollten. Er hatte wohl ihren vorwurfsvollen Blick im Spiegel aufgefangen.

Doch die Frau beachtete ihn nicht weiter, setzte vorsichtig erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Schotter, ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte.

Sie lauschte, ob das knittrige Männchen vielleicht Einspruch gegen ihre Eigenmächtigkeit erheben würde. Doch von ihm kam kein Ton. Also waren sie angekommen. Das heißt, nur sie. Nur sie war angekommen. Der Fahrer würde im nächsten Moment umdrehen und diesen verpönten Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Er brauchte nicht zu befürchten, dass ihn irgendjemand aufhielt.

Martina fühlte sich mit einem Mal vollkommen erschöpft, ihre Knie zitterten, so dass sie Mühe hatte, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen zu halten. Daran änderte sich auch nichts, als sie sich mit einem schnellen Blick vergewissert hatte, dass die Fenster im Haus Nummer Acht n i c h t vergittert waren. Das war doch schon einmal etwas! Warum war nicht wenigstens dieser Umstand dazu angetan, sie zu trösten?

War sie denn nicht wenigstens noch einigermaßen bei Verstand und sollte sich darüber freuen, dass sie die nächsten Wochen ihres Lebens nicht in einer so genannten Geschlossenen verbringen musste - obwohl sie es, wie sie sich selbst eingestand, befürchtet hatte? Andererseits: Wenn sie momentan nicht einmal mehr in der Lage war, sich über die duftenden Lindenblüten richtig zu freuen, dann konnte es ihr auch gleichgültig sein, ob die Fenster vergittert waren oder nicht.

Sie wandte sich ab von den Fenstern und bemerkte, dass eine Frau in weißem Kittel aus der Tür trat und auf den Fahrer zusteuerte.

Doch auch ihr schenkte Martina keine Beachtung. Teilnahmslos wanderte ihr Blick noch umher, als der kleine Fahrer dem Weißkittel sagte: „Ich bringe den Zugang!“

Und Martina reagierte auch nicht, als die Frau sie mit hochgezogenen Brauen musterte und murmelte: „Ach ja, der Suizid!“

Immer wieder diese Sehnsucht

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