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Montagsrunde

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Martina hatte die routinemäßigen Aufnahmeuntersuchungen schon hinter sich und sah sich in der so genannten Montagsrunde vorsichtig um.

Da saßen Männer und Frauen, die eigentlich ganz normal aussahen.

Eine kleine, dralle Blonde hatte schon auf dem Gang lautstark verkündet, dass sie auch wegen Depressionen hier sei.

„Und jetzt leite ich schon seit ein paar Wochen die Sportgruppe“, sagte sie nun mit einem nach Anerkennung heischenden Blick in die Runde. Martina allerdings hatte das Gefühl, dass die Worte einzig und allein für sie bestimmt waren. Außerdem: So weithin schallendem Zweckoptimismus hatte Martina schon immer misstraut. Deshalb reagierte sie auch nicht auf diesen offensichtlichen Annäherungsversuch der Vorturnerin.

Vielmehr glitt ihr Blick in eine andere Richtung. Dabei bemerkte sie, dass auch der Mann in mittleren Jahren, dessen Augen durch starke Brillengläser unnatürlich groß erschienen, offenbar kein Ohr für den Stolz der frisch gebackenen Sportgruppenleiterin zu haben schien. Selbst als die Blonde sich ihm nun direkt zuwandte, tat er so, als würde er nichts bemerken. Unruhig schweifte sein Blick umher, als erwarte er noch jemanden. Dann schaute er angespannt zur Tür. Seine Pupillen wurden weit, seine Hände im Schoß hatte er so fest gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Endlich! Dir Tür ging auf, und herein trat eine kleine, korpulente Frau mit grauem, struppigem Haar, das sie mit zwei Kämmchen hinter den Ohren festgesteckt hatte. War das die Ersehnte jenes Mannes?

Schnurstracks kam sie auf den Mann mit der Brille zu, streckte ihre linke Faust aus und sagte: "Hier, Kurtchen!“

Die Frau sprach die beiden Worte leise und verschwörerisch, so, als handele es sich um etwas Verbotenes. Martina sah, wie sie ihm schnell etwas zusteckte, etwas golden Schimmerndes.

Kurt, der Kosename Kurtchen wollte einfach nicht zu seinem massigen Körper passen, schenkte der Spenderin einen dankbaren Blick und ein etwas schief geratenes Lächeln, welches diese mit einem leichten Ausdruck von Triumph erwiderte. Dabei war sie jedoch errötet wie ein junges Mädchen.

Jetzt wanderte Martinas Blick weiter, schräg gegenüber zu einer etwas älteren Ärztin, die sich kaum hörbar mit einer ziemlich jungen Patientin unterhielt. Diese hatte den Kopf geneigt, nickte hin und wieder, als wolle sie die Worte der anderen ausdrücklich bestätigen. Ein Bild von Vertrautheit, das Martina hier an diesem Ort so nicht vermutet hatte. Ihr wurde mit einem Mal klar, wie sehr sie dieses Gefühl der Vertrautheit vermisst hatte in all den Jahren. Und wie sehr sie sich danach sehnte. Ihr wurde auch bewusst, dass das nicht ihre einzige Sehnsucht war.

Es war wohl noch ein paar Minuten Zeit bis zum offiziellen Beginn, denn auch die meisten anderen unterhielten sich angeregt, manche leise und ohne jede Gestik, andere wiederum laut und umso heftiger gestikulierend.

Mit Martina, dem Zugang, sprach niemand. Nicht einmal mehr die Sportgruppenleiterin. Diese machte vielmehr den Eindruck, als sei sie beleidigt, weil die Neue nicht auf ihre wohlmeinenden, aufmunternden Worte reagiert hatte.

Jegliche Sehnsucht nach Vertrautheit fiel in sich zusammen.

Martina spürte das, wusste aber nicht, ob sie darüber traurig oder froh sein sollte. Das sind schließlich alles wildfremde Menschen, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch ihre Unruhe wurde stärker, nach wenigen Minuten hatte sich auch wieder diese Angst eingestellt, gegen die sie einfach nichts ausrichten konnte. Vorsichtshalber setzte sie ihre Unnahbarkeitsmiene auf. Damit hatte sie schon manchen abgeschreckt, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. Sie brauchte nicht einmal einen Spiegel, um zu wissen, wie sie jetzt aussah. Den Kopf hoch erhoben, den Blick geradeaus und nirgendwo hin gerichtet, die Unterlippe leicht vorgeschoben. Sie kannte die Wirkung auf diese Maskerade sehr wohl und akzeptierte auch die Folgen. Die schlimmste: Isolation. Aber selbst diese nahm sie in Kauf, hatte sie doch bisher noch nichts Besseres finden können, wenn sie einmal Schutz suchte.

Selbst bei der Arbeit war sie damit recht gut zurechtgekommen.

Während sie ihr Innerstes oft hinter ihrem Schutzschild verborgen hielt, hatte sie bei ihren Gesprächspartnern stets darauf geachtet, dass diese sich nicht ebenfalls hinter einem solchen verschanzten. Sobald sie allerdings bemerkte, dass der andere, vielleicht schon seit Jahren, hinter einem Schild verssteckt saß, versuchte sie ihn mit allen Mitteln hervorzulocken. Mit einfühlsamen Worten und einem aufmunternden Lächeln. Nur ganz wenigen gelang es dann noch, ihre Verschlossenheit lange aufrechtzuerhalten.

In der Redaktion beneidete sie so mancher Kollege um ihre Fähigkeit, selbst die hartnäckigsten Schweiger zum Reden zu bringen.

Als Martina sich jetzt wieder an ihre einstige Tatkraft, ihre witzigen Kolumnen erinnerte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass diese energiegeladene und meistens fröhlich wirkende Person auch nur im Entferntesten etwas mit dieser hier zu tun haben sollte. Mit ihr, Martina Knittel, deren endgültiger Abgang so kläglich gescheitert war.

Handelte es sich überhaupt um ein und dasselbe Leben? Jetzt jedenfalls schien offenbar auch der letzte Funke Freude in ihr erloschen zu sein.

Sie fand es mehr als ungerecht weiter leben zu müssen, obwohl sie es gar nicht mehr wollte. Einfach weiterleben, so tun, als sei nichts geschehen? Nein! Auf gar keinen Fall!

Was ging es eigentlich diese wildfremden Menschen hier an, warum sie sich aus dem Leben verabschieden wollte? Um ein Haar hätte sie sich erhoben und wäre einfach hinausgegangen.

Das aber wirklich zu tun, ließ der klägliche Rest ihrer antrainierten Disziplin dann doch nicht zu.

Sie blieb also. Ebenso wie ihre Zweifel: Sollte sie wirklich diesen Alkohol- und Tablettensüchtigen, all diesen armen Menschen, die eigentlich genug mit sich selbst zu kämpfen hatten, erklären, dass sie zum Beispiel von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren hatte? Und dass als Begründung ausgerechnet die Fürsorgepflicht herhalten musste?

Sie konnte gerade noch so ein Lachen unterdrücken, als ihr alles wieder einfiel: Sie war krank gewesen, zehn Wochen nach einer Operation. Doch danach war sie mit noch größerem Elan als vorher an ihre Arbeit gegangen. So viele interessante Ideen waren aufgekeimt und hatten sich während ihrer zwangsverordneten Ruhepause ausbauen lassen. Sie brannte förmlich darauf, sie endlich in Geschichten umzusetzen, die nicht nur die bisherigen Leser noch fester mit ihrer gewohnten Zeitung verbinden, sondern vielleicht sogar viele neue hinzugewinnen könnten.

Doch daraus sollte nichts werden ...

Stattdessen kam es zu einem Personalgespräch, das alles in sich zusammenfallen ließ, was ihr bis dahin wichtig und lebensnotwendig erschienen war: Äußerlich hatte Martina damals alles ganz ruhig über sich ergehen lassen. Das war auf die Einnahme mehrerer Beruhigungstabletten zurückzuführen gewesen.

Für eine andere Kollegin hatte das gleiche Gespräch ziemlich bittere gesundheitliche Folgen gehabt. Trotzdem hatte jene Kollegin, noch bevor sie selbst im Krankenwagen abtransportiert worden war, zum Telefon gegriffen und Martina gewarnt.

„Nimm bloß deine Indianerpillen, es geht um unsere Entlassung!“

Das hatte Martina in dem Moment gar nicht so recht glauben können. Die Pillen hatte sie trotzdem genommen und sich lächelnd mit an den ovalen Tisch gesetzt, wo die wichtigsten Leute aus der Chefetage schon versammelt waren.

„Schön, Kollegin Knittel, dass Sie uns nach so langer Krankheit wieder zur Verfügung stehen", begann der Verlagsleiter in schönster small-talk-Manier zu sprechen. "Was mich noch interessiert: Stand eigentlich Ihre Krankheit im ursächlichen Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?“

Als ob er das nicht wüsste! Martina hatte aufgehorcht bei den gestelzten Worten des Verlagsleiters. Ihm, der sonst bei jeder Gelegenheit sein heiter-gemütliches Naturell hervorkehrte, hätte sie so eine gestelzte Wortwahl nicht zugetraut.

Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen und sie schaute irritiert von einem zum anderen. Nur ein paar Sekunden, dann glaubte sie, die Situation erfasst zu haben.

Der Verlagsleiter hatte seine Frage mit einer ausladenden Geste unterstrichen, der Chefredakteur zu Boden gesehen, als wüsste er, was jetzt unweigerlich kommen musste. Ein bisschen rot war er auch geworden, fast sah es so aus, als schäme er sich.

Der Betriebsratsvorsitzende war ihrem Blick ausgewichen und hatte auf die Kastanienblüten vor dem offenen Fenster gestarrt.

Die Personalchefin klopfte schon von Beginn an mit ihrem Nobelfüllhalter nervös auf den Tisch und strich sich eine imaginäre Locke aus dem Gesicht.

Martinas Kopf hatte trotz der Pillen zu hämmern begonnen. Sie fühlte sich miserabel und starrte dem Verleger so gebannt ins Gesicht wie das Kaninchen der Schlange.

Jene bangen Sekunden waren ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, und sie hatte die Frage des Verlagschefs noch immer nicht beantwortet. Verzweifelt suchte sie nach Worten, die plausibel klangen und ihn zufrieden stellen würden.

Endlich glaubte sie, diese gefunden zu haben. Sie holte Luft, setzte zum Sprechen an, aber die Stimme versagte ihren Dienst.

Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie ihre Arbeit liebte, dass sie ihr vor allem in den letzten sechs Jahren wieder sinnvoll und richtig vorkam. Und dass wohl niemand, dem die Arbeit wieder so wichtig geworden ist, auf die Uhr schaut oder vordergründig an seine Gesundheit denkt. Hatte das so ähnlich nicht sogar in der Todesanzeige der ehemaligen Chefredakteurin gestanden? "Wem die Arbeit Spaß macht, der achtet nicht auf seine Gesundheit." Vom menschlichen Organismus hatte sie ihm trotzdem erzählen wollen, der es nun einmal auf Dauer nicht aushalten könne, täglich unter Hochdruck oft zwölf Stunden oder länger zu arbeiten - immer mit dem Druck des Belichtungstermins im Nacken, zu dem die fertig gebauten Seiten in der Hauptredaktion vorliegen mussten, per Datenautobahn auf die Reise geschickt - aus der Provinz in die Landeshauptstadt.

Doch nichts dergleichen hatte sie über die Lippen gebracht.

Was sie dann schließlich doch noch stammelte, kam ihr selbst nicht sonderlich plausibel vor.

„Ursächlicher Zusammenhang? Hm, ich weiß nicht so recht … wenn auch … meine Ärztin mir erklärte, dass Magen, Herz und Schilddrüse auf Dauerstress irgendwann sehr empfindlich reagieren können … zumal, wenn man nicht mehr so ganz jung ... “

Um Himmels willen, was redete sie da? Schweißperlen traten auf ihre Stirn, schlossen sich zu kleinen Rinnsalen zusammen und tropften über Augenlider und Wangen. Sie nestelte in ihrer Tasche herum, und noch ehe sie ein Taschentuch gefunden hatte, wusste sie es: Dieser Anflug von Ehrlichkeit war ein nicht wieder gutzumachender Fehler gewesen. Wie konnte sie nur! Sie fühlte, wie sie vor Ärger auf sich selbst ganz rot wurde.

Um vielleicht doch noch etwas zu retten, setzte sie schnell ein abwiegelndes Lächeln auf. Seht her, wie gut ich mich nach meiner Krankheit wieder fühlte, wie gesund und voller Tatendrang! Doch niemand nahm diese Botschaft, als die das Lächeln gedacht war, noch ernst. Es war einfach schon zu spät. Der Ball war längst angekommen. Im eigenen Tor.

„Na, dann!“ hatten Verlagsleiter und Chefredakteur wie aus einem Munde gerufen, und es klang ziemlich erleichtert. Wenn dem so sei, dann gebiete es ja schon die Fürsorgepflicht des Unternehmens, dass man das Arbeitsverhältnis lösen müsse, man würde sich schon einigen, versteht sich. Dem waren lange Erklärungen darüber gefolgt, was man unter der Fürsorgepflicht zu verstehen habe, und dass man nicht nur Martina gegenüber eine solche hätte, der man schließlich nicht zumuten könne, ihre Gesundheit noch weiter zu gefährden, sondern auch ihren Kollegen gegenüber, denen man ebenso wenig zumuten könne, ihre, Martinas, Arbeit immer wieder mit zu erledigen, falls sie wohlmöglich wieder ausfiele.

Sie hatte damals den Worten gelauscht, kerzengerade aufgerichtet auf ihrem Stuhl gesessen, obwohl sie sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als dass sich jeden Moment der Erdboden vor ihr auftun möge, damit sie, klein, unscheinbar und geschlagen, darin versinken könne.

Ganz nebenbei und wie automatisch hatte sie registriert, dass in dem unsäglichen Redeschwall sechs Mal das Wort man vorgekommen war, obwohl es zum kleinen Einmaleins eines Journalisten gehörte, niemals das Wort m a n zu verwenden, wenn m a n weiß, wer m a n ist.

Trotzdem versuchte sie, Haltung zu bewahren. Das gelang sogar, wahrscheinlich wegen der Tabletten. Sie hielt jeden Muskel ihres Gesichts unter Kontrolle, selbst das Lächeln war zur Maske erstarrt – und das nicht erst am Ende des Gesprächs, dessen Ausgang nur die anderen wohl schon von Anfang an gewusst hatten.

Das Wesentliche konnte sie sowieso erst viel später begreifen: Quasi von einer Minute zur anderen war sie wertlos geworden: Müll, Schrott, altes Eisen.

Wen wunderte es da noch, dass sie offenbar auch nicht imstande war, eine Beziehung dauerhaft und problemlos aufrecht zu erhalten?

Wenn sie auch in ihrer dritten Ehe schon auf mehr als ein Dutzend Jahre zurückblicken konnte, so waren sie ihr doch vorgekommen wie eine Strafe. Die Höchststrafe lebenslänglich konnte sie nur verkürzen, indem sie einen endgültigen Schlussstrich zog. Eine dritte Scheidung kam für sie jedoch auf gar keinen Fall mehr in Frage.

Dass sie trotz allem ein glühender Verfechter der Ehe gewesen war, hätte sie wohl niemandem so richtig erklären können. Jedenfalls wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, alles gleich hinzuwerfen, sobald etwas nicht so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Und doch war sie schon zweimal davon gelaufen, allerdings erst zu einer Zeit, als ihr Leben und später auch das ihres Sohnes völlig aus den Fugen zu geraten drohte.

Und jetzt?

Jetzt handelte es sich nur noch um ihre eigene Unzulänglichkeit. Die wollte und konnte sie nicht mehr länger ertragen. Es konnte aus ihrer Sicht also nur ein folgerichtiger Entschluss sein, den sie an jenem Donnerstag gegen Mitternacht gefasst hatte: Sie wollte lieber sterben, als so weiterzuleben, ohne ihren Beruf und dazu noch mit diesem Makel der Beziehungsunfähigkeit behaftet.

Nach jenem letzten Gespräch in der Redaktion war ihr freigestellt worden, ob sie bis zum Ablauf der Kündigungsfrist noch in der Redaktion weiter arbeiten wollte oder nicht. Sie hatte sich entschieden, es nicht zu wollen. Sie hätte es unter den gegebenen Umständen auch gar nicht gekonnt. Sie gab sich selbst die Schuld an ihrem Scheitern, und so dauerte es nicht lange, bis sie einen Zusammenbruch erlitt.

Fortan fühlte sie sich nur noch untauglich, nicht nur als Journalistin, Ehefrau und Mutter, sondern im Grunde für das Leben selbst.

Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt zu lernen, mit dieser Untauglichkeit zu leben, wenn ihr der Boden nur in e i n e m wichtigen Lebensfeld entzogen worden wäre. Dann hätte sie ja versuchen können, wenigstens auf dem a n d e r e n ihre Bestätigung zu finden.

Aber sie hatte ihre Arbeit verloren – und gleichzeitig ihren Partner.

Das Wort Partner war wohl in diesem Zusammenhang sowieso fehl am Platze, denn, ehrlich gesagt, hat es eine richtige Partnerschaft zwischen ihnen noch niemals gegeben. Schon bald nach der Hochzeit ahnte sie mehr als dass sie es wusste: Auch mit Hans hatte sie wieder die falsche Wahl getroffen. Ihnen fehlte einfach eine gemeinsame Basis. Rein äußerlich gesehen, war ihr Mann zwar noch immer da, aber er war absolut nicht der Mensch, der ihr in dieser Situation hätte Halt geben können. Vermutlich ebenso wenig wie sie ihm. Wie hatten sie es nur geschafft, schon über vierzehn Jahre so nebeneinander her zu leben?

Die Zeit der Illusionen war für sie doch schon nach der zweiten Scheidung vorbei gewesen. Und trotzdem hatte sie geglaubt, dass zwei erwachsene Menschen auch ohne Liebe gut miteinander auskommen könnten. Wenn sie daran zurückdachte, schämte sie sich für ihre absurde Naivität.

Hatte sie sich nicht sogar geschmeichelt gefühlt, als er sich so offenkundig für sie interessierte? Ja, das musste sie sich eingestehen, wenn sie auch in erster Linie froh gewesen war über sein Interesse an ihrem Sohn Karsten.

Was für ein Unterschied zu ihrem zweiten Mann! Zu schmerzlich klang ihr noch immer dessen Forderung "Entweder der Bengel oder ich!“ in den Ohren.

Martina hatte sich damals für den Bengel entschieden, obwohl sie sich noch immer nicht sicher sein konnte, ob diese Entscheidung überhaupt richtig gewesen war.

Und dann war, kurz vor Karstens siebzehntem Geburtstag, plötzlich dieser Hans in ihr Leben getreten. Eine Freundin hatte ihn ihr vorgestellt als „Hans im Unglück“, der jemanden brauchte, der seinen Schriftkram erledigte. Er sei Handwerker, deshalb im Schreiben nicht so sehr bewandert, und Martina könne ihm doch gewiss helfen beim Formulieren von Antworten auf unliebsame Behördenpost.

Natürlich konnte Martina. Warum denn auch nicht? Sie half ja vielen anderen auch. Hans kam sie fast jeden Tag besuchen, schmeichelte ihr unbeholfen, schenkte ihr Blumen und andere kleine Aufmerksamkeiten. Mit so viel Dankbarkeit hatte Martina gar nicht gerechnet. Sie brachte es schon nach kurzer Zeit nicht mehr fertig, ihn wegzuschicken, wenn er bleiben wollte. Die Gefahr, dass sie sich ineinander verlieben könnten, bestand nicht. Hans hatte ihr gleich zu Beginn ganz offen erzählt, dass er nach einer schweren Infektionskrankheit impotent geworden war. Es konnte sich also nur um Freundschaft handeln, ihr sollte es recht sein. Selbst mit dem Gedanken, eine Wohngemeinschaft zu gründen, konnte sie bald anfreunden, vor allem, weil Hans und Karsten einen guten Draht zueinander zu haben schienen. Oft traf Martina die beiden schon gemeinsam an, wenn sie von der Arbeit kam: Sie saßen am Tisch, redeten ganz entspannt und lachten sogar miteinander. Solche Bilder machten Martina das Herz warm, weil sie so etwas bisher weder von Karstens leiblichem Vater noch von Jochen, ihrem zweiten Mann, kannte. Manchmal tranken sie auch ein Gläschen oder rauchten eine Zigarette. Das sah Martina zwar nicht so gern, aber sie sagte nichts, um das harmonische Bild nicht zu zerstören.

Von weitem hätte jeder die Beiden für Vater und Sohn halten können. Eines Nachts hatte sich der Bahnarbeiter, der irgendwann auch einmal Schneider gelernt hatte, sogar an die Nähmaschine gesetzt, um Karstens Jeans zu reparieren.

Das hatte wohl bei Martina den letzten Ausschlag gegeben. Sie sagte sich: Einer, der mitten in der Nacht für einen fremden Jugendlichen Jeans näht, könne kein schlechter Mensch sein. Mit dem Thema Liebe hatte sie ohnehin abgeschlossen und so gab sie, aus rein sachlichen Überlegungen heraus, seinem zähen Werben schließlich nach.

Martina hatte sich, auch aus Vernunftgründen, tatsächlich vorgenommen, diesem Mann eine gute Frau zu sein. Vom Hörensagen wusste sie ja, dass es schon seit eh und je sehr viele Ehen gab und gibt, die auf dieser Basis recht gut funktionierten. Die romantische Liebe hatte sie schon einmal überbewertet, vielleicht gelang ihr ja diese Beziehung, rein freundschaftlich und gänzlich ohne Romantik und ohne Sex ja besser - und vor allem dauerhafter?

Von Anfang an hatte sie Hans reinen Wein eingeschenkt, ihm gesagt, dass sie nicht mehr imstande sein würde, sich richtig zu verlieben. Schließlich sollte er wissen, worauf er sich mit ihr einließe. Aber er lachte nur verständnislos und sagte, das käme schon mit der Zeit, sie sei doch eine tolle Frau - und vielleicht ließe er sich ja auch medizinisch behandeln. Sie stutzte, weil er ihre Bemerkung auf sich selbst, auf seine Impotenz, zu beziehen schien. Nein bloß nicht, dachte sie, sagte aber nichts, um ihn nicht zu verletzen. Und schließlich sollte es auch nur um eine Wohngemeinschaft gehen.

Dann kam die Zeit, da er ihr fast täglich einen Heiratsantrag machte. Selbst Karsten bedrängte sie in dieser Richtung (Mensch, Mutter, dann sind wir wieder eine richtige Familie!) und ließ nicht locker.

Irgendwann war ihr Widerstand gebrochen, und so willigte sie schließlich doch noch ein in diese absurde Hochzeit. Ihre dritte. Es wurde kein Aufhebens davon gemacht. Auf dem Standesamt ließen sie sich einfach zusammenschreiben, wie Hans es nannte.

Und praktisch ab der Minute, da er den Trauschein in der Hand hielt, begann das Interesse des Mannes an seiner Frau spürbar zu schwinden. Martina hingegen wollte ihr Versprechen, ihm eine gute Frau zu sein, die ganze Zeit über einlösen. Das bedeutete für sie unter anderem auch, sich um seine Weiterentwicklung zu kümmern. Als hätte er ihre Gedanken erraten, tat er den ersten Schritt sogar selbst. Wie freute sie sich, als er ihr stolz verkündete, dass er ohne ihr Zutun eine Meisterschule begonnen habe.

Doch nach vierzehn Tagen wollte er schon wieder alles hinwerfen.

„Alles Quatsch, viel zu schwierig …“ schimpfte er mit gequältem Gesichtsausdruck.

Seine Frau machte ihm Mut, half ihm anfangs bei den Hausaufgaben, nach einigen Wochen erledigte sie seine Arbeiten ganz und gar, während er sich gemütlich auf dem Sofa austreckte und ein Nickerchen hielt.

Auch später fanden sie keine gemeinsamen Interessen, keine für beide interessanten Gesprächsthemen, keine gemeinsamen Hobbys und schon gar keine gemeinsamen Freunde.

Zugegeben, auch am Anfang waren sie sich nicht sonderlich nahe gewesen, auch wenn Hans anderen gegenüber immer den Eindruck erwecken wollte. Aber mit dem Tag der Trauung entfernten sie sich innerlich immer mehr voneinander. Statt der insgeheim doch erhofften Vertrautheit wuchs die Fremdheit zwischen ihnen unaufhaltsam.

Die Wendezeit erlebten sie beide ganz unterschiedlich. Während sie sich zunächst freute, vor allem, weil sie glaubte, die Zeit der Zensur in der Presse sei nun vorbei und sich auch beim Runden Tisch und im neuen Stadtparlament engagierte, war ihm das Geschehen völlig gleichgültig. Er hatte schon vor der Wende seine Arbeit aufgegeben und vergeblich nach einer neuen gesucht, wie er ihr gegenüber immer versichert hatte. Inzwischen wusste Martina, dass er gar nicht gesucht hatte.

Als dann am 9.November die Mauer fiel, betrank er sich sinnlos und schrie sie an: "So, nun ist er da, der Kapitalismus, nun kriege ich erst recht keine Arbeit mehr!" So war es dann ja auch gekommen. Martina arbeitete in der Lokalredaktion, verdiente gutes Geld. Er blieb zu Hause und ließ sich von seiner Frau ernähren.

Karsten war inzwischen erwachsen und ausgezogen, bald war er ganz und gar verschwunden und sie wussten lange nicht, wo er sich überhaupt aufhielt. Mit ihrer Sorge um Karsten musste Martina allein zurechtkommen, denn morgens, wenn sie zur Arbeit fuhr, schlief ihr Mann noch und spät abends, wenn sie heimkam, war er entweder gar nicht zu Hause oder sie war zu müde, um noch mit ihm zu sprechen. So hatte sie resigniert und sich bald mit dem erdrückenden Schweigen abgefunden.

Der Gipfel der Entfremdung schien erreicht zu sein, als Martina ihrem Mann erzählte, dass sie entlassen worden war und nun nicht mehr das lukrative Gehalt einer Redakteurin nach Hause bringen würde.

Was also sollte er noch von ihr wollen?

Als Martina das richtig begriff, zweifelte sie zum ersten Mal daran, ob sein Interesse überhaupt jemals ihr (oder Karsten) gegolten habe. Er war wohl nur froh gewesen, nicht mehr allein in seinem Bauwagen leben zu müssen. Sie war selbst schuld, wenn sie ihm ermöglichte, ohne materielle Sorgen mit einer leidlich hübschen Frau in einer modernen Neubauwohnung am Rande der Stadt zu wohnen.

Vorwürfe von ihrer Seite wären da wohl vollkommen unangebracht. Schließlich war es auch bei ihr nicht die Liebe, die sie zum Schritt aufs Standesamt bewogen hatte, sondern wohl eher die Angst, für immer allein bleiben zu müssen. Dieses Eingeständnis ihrer Schuld machte jedoch nichts leichter. Aber wie sollte sie mit dieser Schuld weiterleben? Das wollte und konnte sie nicht.

Doch was ging das alles diese Leute hier an?

Wie aus weiter Ferne drangen jetzt wieder die Stimmen der anderen an ihr Ohr, die so genannte Montagsrunde war anscheinend noch immer nicht eröffnet, denn alle redeten durcheinander.

Martina hörte einen Mann fragen, ob es denn heute wieder diesen wunderbaren S c h i n k e n zum Abendbrot gäbe …

Als hätten Angst und Ekel nur auf dieses Stichwort gewartet, riefen sie auf Martinas Haut einen kalten Schauer hervor.

War es möglich, dass so ein harmloses Wort wie Schinken mit einem Schlag alles wieder lebendig werden lassen konnte?

Immer wieder diese Sehnsucht

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