Читать книгу Immer wieder diese Sehnsucht - Monika Kunze - Страница 6

Partyzeit

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Martina war müde und abgespannt nach Hause gekommen, obwohl sie ja eigentlich gar nichts Richtiges getan hatte. Aber das ewige Flimmern des Bildschirms auf dem Arbeitsamt, sie hatte dort unzählige Stellenangebote angeschaut, ausgedruckt und wusste doch, dass es in ihrem Alter so ziemlich sinnlos war, sich bei größeren Tageszeitungen zu bewerben.

Sie kannte ja die Antworten schon zur Genüge.

„Die Stelle ist leider schon vergeben!“ oder „Tut uns Leid, Ihnen mitteilen zu müssen...“ kam in den freundlichsten vor.

Nicht alle antworteten freundlich, nicht wenige hielten es für Überflüssig, ihr überhaupt eine Antwort zukommen zu lassen. Wahrscheinlich ließen sie die schönen neuen Passbilder und die gediegene Bewerbungsmappe einfach in den Rundordner unter ihrem Schreibtisch fallen.

Doch sie wollte nicht aufgeben. Wenn es ihr gelänge, eine Arbeit zu finden, würde es ihr vielleicht auch gelingen, die Beziehung zu ihrem Mann wieder ein wenig erträglicher zu gestalten. Ein Strohhalm nur, aber sie klammerte sich daran. Monatelang.

Kaum hatte sie die Wohnungstür aufgeschlossen, schallten ihr die Worte ihres Mannes entgegen: „Wir gehen heute Abend noch zu einer Party, ein Kumpel von mir will seine neue Wohnung einweihen!“

War das Gedankenübertragung? War das ein Versuch ihres Mannes, die häusliche Atmosphäre wieder etwas entspannter zu gestalten? Immerhin hatte er mit ihr geredet ohne jegliche Aggressivität. Das hatte es lange nicht gegeben.

Wenn sie auch heftige Kopfschmerzen quälten, so wagte sie dennoch nicht zu protestieren. Aber es wäre ohnehin schon zu spät für ein Veto gewesen, denn Hans war schon dabei, seine Jacke anzuziehen.

So begnügte sie sich damit, ihm müde zuzulächeln und ins Bad zu verschwinden. Eine Tablette und viel kaltes Wasser sollten helfen, ihre Müdigkeit und die stechenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Mal ganz davon abgesehen, dass sie nichts so sehr fürchtete wie langwierige Auseinandersetzungen, hätte sie heute auch gar keine Kraft mehr dafür gehabt.

Viel zu lange war sie sinn- und ziellos durch die Stadt gepilgert, wäre das Kino nicht schon seit langem geschlossen, hätte sie sich dort vielleicht sogar noch die Abendvorstellung angeschaut, um auf andere Gedanken zu kommen.

Sie würde also mitgehen, wenn sie auch schwankte zwischen der Hoffnung auf vielleicht doch ein wenig Gemeinsamkeit und der Angst, dass die ganze Angelegenheit wieder in eine wüste Sauferei ausarten könnte.

Später, im Wohnzimmer des ihr eigentlich völlig unbekannten Kumpels, hatte sie dann in einer Ecke auf dem ihr angebotenen Hocker gesessen, leicht an die Wand gelehnt, dabei lange ein halbvolles Sektglas in der Hand gedreht – und ihren Mann beobachtet.

Der schien mit jedem Schluck, den er trank, lauter werden zu müssen. Auch er war ja noch immer ohne Arbeit und auch kaum jemals ohne Alkohol. Als sie noch täglich in die Redaktion zur Arbeit musste, hatte sie das gar nicht so richtig gemerkt. Später, als sie selbst arbeitslos geworden war, hatte sie der Schnapskonsum ihres Mannes umso härter getroffen.

Was er jetzt dort trieb, ging wohl auch auf das Konto von übermäßigem Alkoholkonsum. Den anderen war sein Tun wohl noch nicht aufgefallen, denn die meisten wirkten selbst mehr als nur angetrunken und hatten mit sich selbst oder anderen Tischnachbarn zu tun.

Hans gab lallende Laute von sich und hielt runde, rosa schimmernde Schinkenscheiben hoch über seinen aufgesperrten Mund und wollte sie offensichtlich dort hineinfallen lassen.

"Schinken-Zielwurf, kennst du wohl nicht?", fragte er in seltsamem Singsang in ihre Richtung.

Sie schüttelte zwar den Kopf, war aber weder imstande, ihm Einhalt zu gebieten noch war es ihr möglich, den Blick abzuwenden. .

Wie unter Zwang sah sie, wie die meisten Schinkenscheiben ihr Ziel verfehlten, auf dem Teppichboden landeten oder ihm schlaff übers Gesicht hingen.

Nun wandten sich auch andere Gäste dem grotesken Spektakel zu und spendeten dem Schinkenartisten, wie einige ihn nannten, johlenden Beifall. Eine süffisante Heiterkeit kam in der Runde auf. Hans genoss es sichtlich, durch sein Kunststück plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Ein anderer hatte gleich darauf die Schinkenscheiben in der Hand, wedelte ganz weit oben damit herum, und der Schinkenartist sollte aufspringen und danach schnappen. Hans ließ sich das nicht zweimal sagen. Sehr zum Vergnügen der meisten Anwesenden. Lachen und Schenkel klopfen wollten anscheinend gar kein Ende nehmen. Was die Leute im Einzelnen gerufen hatten, daran konnte sich Martina gar nicht mehr genau erinnern.

Ganz präzise hingegen stand noch das innere Bild vor ihr, wie schamrot und eindringlich sie den Blickkontakt zu ihrem Mann gesucht hatte. Vergeblich.

Für Hans existierte seine Frau offenbar schon gar nicht mehr, sie zählte schließlich nicht zu seinem Publikum.

Martina hingegen betrachtete ihn, wie schon so oft in den zurückliegenden Jahren, wie einen Fremden, so, als hätte sie ihn noch niemals zuvor gesehen.

Er war, äußerlich betrachtet, noch immer ein gut aussehender Mann mit seiner schlanken Gestalt und seinem gepflegten Kinnbart. Doch wenn man genau hinschaute, hatte der Alkohol schon begonnen, seine Spuren zu graben. Seine Haut war leicht schwammig geworden, die Poren um Mund, Nase und zwischen den Augenbrauen rot und vergrößert. Das Weiße um seine inzwischen wässrige, graublaue Iris, war von unzähligen feinen dunkelroten Äderchen durchzogen. Ein paar dünne, farblose Haare klebten an seiner jetzt oft vor Schweiß nassen Glatze. Manchmal, wenn sie morgens neben ihm erwachte, fragte sie sich entsetzt, wie wohl dieser fremde Mann in ihr Bett gekommen sein mochte.

Jetzt fiel ihm gerade wieder eine Schinkenscheibe mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch aufs Gesicht, purzelte weiter auf den Schoß und landete schließlich unbeachtet auf dem Teppich.

Die Party schien sich ihrem Höhepunkt zu nähern. Stimmungsmusik, Gelächter und rhythmisches Klatschen, manchmal allerdings ziemlich neben dem Rhythmus, erfüllten den Raum. Einige Pärchen drehten sich eng umschlungen, wie in Trance, durch dicke Rauchschwaden.

Martina stand auf, um ein Fenster zu öffnen, weil sie fürchtete, gleich ersticken zu müssen. Aber auf dem Weg zum Fenster überlegte sie es sich anders, drehte sich wieder um und ging weiter, immer weiter, bis sie an der Tür angekommen war.

Sie wirkte ganz gelassen, selbst dann noch, als sie über eine stattliche Anzahl von Schinkenscheiben steigen musste.

Schon die Türklinke in der Hand, schaute Martina noch einmal durch die bläulichen Rauchschwaden zurück zu ihrem Mann. Die Schinkenakrobatik war, wohl aus Mangel an Nachschub, beendet. Jetzt war Hans schon bei der Zungenakrobatik angekommen, die er im Mund seiner Tischnachbarin vollführte.

Ob sie wütend war? Nein, höchstens ein wenig befremdet. Wut, das wäre schon zu viel des Gefühls gewesen. Da erst begriff sie, dass dieser Mensch ihr mit den Jahren immer gleichgültiger geworden war. Wie konnte das passieren, wie konnte sie das zulassen? fragte sie sich angesichts ihres selbst verkorksten Lebens.

Ganz ruhig und wie selbstverständlich stellte sie ihr Sektglas auf die Anrichte neben der Tür, zog diese dann vorsichtig hinter sich ins Schloss und verließ die Party. Keiner nahm auch nur die geringste Notiz von ihrem Abgang.

Mit jedem Schritt auf dem Heimweg wuchs ihre seit Monaten wachsende Ahnung zur Gewissheit: Es würde ihr nicht mehr möglich sein, auch nur noch einen Tag mit diesem Mann zusammenzuleben. Also Scheidung? Nein, das kam für sie auf gar keinen Fall mehr in Betracht. Nie und nimmer! Es wäre ihre dritte. Ihre Pflegemutter war fünfmal verheiratet und stand in dem Ruf, zwanghaft wie eine Nymphomanin die Männer wechseln zu müssen. Wer sie näher kannte wusste zwar, dass es Gründe gab für ihren Männerverschleiß. Das Stigma war dennoch geblieben.

Martina aber war nicht so stark wie ihre Pflegemutter Hilde. Sie hätte es nicht verkraftet, wenn die Leute mit Fin gern auf sie gezeigt hätten. Ihr war ja schon die Szene am Fahrstuhl des Hochhauses viel zu nahe gegangen. Sie wusste nun ganz genau, was sie zu tun hatte - und sie wusste sogar, wie. Ihr Entschluss stand fest. Dieser Gedanke hatte für sie nichts Schreckliches mehr an sich, und er löste auch keine Angst mehr in ihr aus. Sie war ganz ruhig. Genau so gelassen lief sie mitten in der Nacht durch die wenig beleuchteten Straßen; die Stadt musste sparen und hatte jede zweite Straßenlaterne abgeschaltet. Hier und da entdeckte sie noch ein paar beleuchtete Fenster, die meisten Leute schliefen aber anscheinend schon.

Ein frischer Wind war aufgekommen und fuhr ihr durchs Haar. Automatisch klappte Martina den Kragen ihrer Jacke hoch, hielt ihn vorn zu und strebte eilig dem Hochhaus im Sachsendamm entgegen.

Im Treppenhaus war ihr niemand begegnet, im Fahrstuhl hing noch kalter Rauch. Es war ihr gleichgültig.

Sie war selbst überrascht, wie schnell sie sich von der Welt verabschieden konnte.

In ihrer Wohnung im neunten Stock, hängte sie die Jacke auf einen Bügel an der Garderobe, öffnete im Bad das Schränkchen mit dem roten Kreuz, griff nach einem Röhrchen Tabletten, schüttete den Inhalt in ihre hohle Hand, warf alle auf einmal in den Mund, spülte sie mit viel kaltem Wasser aus dem Hahn hinunter. Alles geschah, als sei es von langer Hand vorbereitet gewesen, völlig unaufgeregt.

Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick wie zufällig auf ihr eigenes Spiegelbild. Sie erschrak. Diese graue, unscheinbare Maus mit der zerzausten Frisur, einem Vogelnest gleich, und der zerknitterten Bluse, das sollte sie sein?

Beschämt und fest entschlossen, wenigstens in ihrer letzten Stunde noch einmal gut auszusehen, griff sie nach dem Shampoo, legte es wieder zur Seite, um sich auszuziehen.

Dann, unter der Dusche, wusch sie ihr Haar mit langsam kreisenden Bewegungen, spülte es erst warm, dann kalt, griff zum Handtuch und spürte erst während des Frottierens, wie die Kraft langsam ihren Körper verlassen wollte. Trotzdem nahm sie auch noch die Rundbürste und den Föhn zur Hand, überließ sich ganz und gar der angenehmen Wärme.

Ihre benutzte Wäsche ließ sie ohne Hast in den Wäschekorb fallen, ging schließlich nackt und langsam, so, als hätte sie noch alle Zeit der Welt, zum Wäscheschrank im Schlafzimmer und nahm ihr schönstes Nachthemd heraus. Sie hatte es immer für eine besondere Gelegenheit aufheben wollen. Jetzt war diese wohl endlich gekommen.

Das lange Hemd war aus zart weißem Batist, mit breiter handgearbeiteter Spitze am Dekolleté und an den Trägern. Beim Überstreifen spürte sie, wie ihre Glieder immer schwerer wurden.

Schon leicht benommen schlug sie die Bettdecke zurück, legte sich kerzengerade hin und wartete, dass sie friedlich einschlafen würde.

Im Grunde hatte sie wohl noch nie Angst vor dem Sterben gehabt.

Der träge Gedanke an den ewigen Schlaf war ihr nicht so unangenehm wie der an ihr selbst verpfuschtes Leben. Ein tiefer Seufzer noch, dann hatte eine erlösende Dunkelheit sie umfangen.

Doch ihr Mann war wenig später ebenfalls nach Hause gekommen, hatte sie hilflos und zornig gerüttelt, aber sie reagierte schon nicht mehr. Einen Moment lang hatte Hans seine Frau betrachtet, wie sie so dalag, so schmal, so schön in ihrem langen weißen Nachthemd mit den Spitzenträgern. War es vielleicht dieser Anblick, der Hans plötzlich hatte stocknüchtern werden lassen?

Er, der sonst niemals ans Telefon ging, wenn es klingelte, und sich immer geweigert hatte, selbst irgend jemanden anzurufen, war plötzlich imstande, den Notarzt zu rufen.

Immer wieder diese Sehnsucht

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