Читать книгу Stille(r)s Schicksal - Monika Kunze - Страница 5
Neumaiers Straßentheater
ОглавлениеAnne fasste das Lenkrad ihres roten Polo fester, reckte den Hals und hielt nach einem Parkplatz Ausschau.
Doch sie musste wieder und wieder zwischen den Neubauten umherfahren, bis sie fündig wurde. Den Rest des Weges würde sie zu Fuß gehen müssen. Doch sie würde gern die paar hundert Meter bis zu dem Würfelhaus, in dem sie wohnte, laufen. Von den paar Schneeflocken auf ihrem Gesicht würde sie sich ihre Urlaubsvorfreude nicht nehmen lassen. Im Gegenteil! Sie versuchte mit dem Mund ein paar Flocken aufzufangen und lächelte.
Sie hatte einmal gelesen, dass selbst ein künstlich vor dem Spiegel eingeübtes Lächeln Glückshormone freizusetzen vermochte. Sie lächelte also noch ein wenig breiter, ohne einen besonderen Grund dafür zu haben, mal abgesehen von der Sehnsucht nach Endorphinen.
Das Lächeln war auch noch in ihrem Gesicht, als sie festen Schrittes losging.
Das freute keinen mehr als Opa Neumaier, der mit seinen massigen Brustkorb auf dem Fenstersims lehnte. Diese junge Frau war ihm schon lange aufgefallen, so zart und frisch, wie sie immer aussah - und ein freundliches Wort hatte sie auch stets für ihn übrig gehabt. Er wusste, dass sie als Sekretärin bei der Lokalredaktion arbeitet, wo Überstunden anscheinend an der Tagesordnung waren.
"Na, Fräulein Hellwig, ist heute mal wieder spät geworden", sprach er sie nun direkt an. "Da gibt es wohl an ihrem Haus keinen Parkplatz mehr?"
Er wusste auch, dass die junge Frau in dem ersten Würfelhaus hinten am Park wohnte.
Opa Neumaier schob seinen mächtigen Oberkörper noch weiter über die Fensterbank, damit ihm auch ja nichts von den Geschehnissen in seiner Straße entging. Die Geschehnisse dort zu verfolgen, war für ihn so eine Straßentheater, meist spannend und sehr unterhaltsam, was eine erstaunlich belebende Wirkung auf ihn ausübte.
Außerdem durfte er im Wohnzimmer nicht rauchen. Aber hier hatte seine Frieda nicht einmal etwas dagegen, wenn er mit einer schnellen Bewegung seines Zeigefingers die Asche unauffällig in die Sträucher vor seinem Fenster schnippte.
Anne winkte dem Rentner zu: "Ja, ist halt schwierig mit den Parkplätzen. Zum Einkaufen bin ich auch wieder nicht gekommen, aber alles halb so schlimm! Ich habe ja jetzt Urlaub!"
Noch immer grub das Lächeln kleine Grübchen in ihre Wangen.
Franz Neumaier wollte diesen Anblick noch wenig genießen und fragte deshalb rasch, noch ehe sie womöglich um die Ecke verschwunden war: "Wo soll´s denn hingehen im Urlaub?"
Der alte Mann machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Neugier zu verbergen und lehnte sich erwartungsvoll immer weiter hinaus, während er sich gewohnheitsmäßig über die Stelle am Kopf strich, an der früher einmal eine prächtige Frisur gewesen sein könnte. Jetzt allerdings versuchte er schon seit Jahren, seine paar grauen Strähnen sorgfältig und vor allem gleichmäßig auf der ansonsten spiegelblanken Glatze zu verteilen.
Es muss schwierig sein, neun Haare in sieben Reihen aufzuteilen, dachte Anne belustigt. Doch laut und ein bisschen leichthin sagte sie: "Ach, wissen Sie, Herr Neumaier, ich bin einfach reif für die Insel. Ich fliege am Sonntag nach Teneriffa." So hatte sie nicht nur das Ziel ihrer Reise kundgetan, sondern auch gleich noch den Zeitpunkt. Denn das Wann hätte bestimmt in seiner nächsten Frage gesteckt. Sie aber war heute nicht mehr aufgelegt für sein geliebtes Frage- und Antwortspiel.
Sie drehte sich nur noch ein einziges Mal um, bevor sie in die nächste Querstraße einbog. Dabei stellte sie überrascht fest, wie eilig der Opa es mit einem Mal hatte. Im Nu hatte er das Fenster geschlossen und die Gardine vorgezogen.
Anne konnte natürlich nicht ahnen, dass sie mit ihrer schlichten Auskunft bei den Neumaiers gehörig für Gesprächsstoff gesorgt hatte.
"Diese jungen Leute", schimpfte Neumaier mürrisch vor sich hin, "die müssen ein Geld haben! Frieda, stell dir mal vor, die kleine Hellwig fliegt nach Teneriffa! Muss wohl von ihren Eltern etliches geerbt haben, als die voriges Jahr bei dem Verkehrsunfall umgekommen sind."
Seine Frau saß wie immer um diese Zeit auf dem Sofa, eingehüllt in ihre unvermeidliche, blau-weiß geblümte Nylon-Kittelschürze, und reagierte, auch wie immer, wenn er sie mitten in einem komplizierten Strickmuster ansprach. Nämlich überhaupt nicht. Sie zählte in aller Seelenruhe ihre Maschen weiter: "23-24-25-26." Dann legte sie das angefangene Vorderteil des grünen Pullis zur Seite, quälte sich mühsam aus der Tiefe der Couch in den Stand, humpelte zum Fenster und zog auch noch die Vorhänge zu.
"Alles machst du bloß halb", knurrte sie. Ihre Stimme war in den letzten zehn Jahren immer tiefer geworden. Ein vorwurfsvoller Blick traf ihren Mann. "Sollen uns die Nachbarn auf den Tisch gucken können? Es gehört zur Ordnung, dass man auch die Übergardinen zuzieht, wenn es draußen dämmrig wird."
Und dann, plötzlich und übergangslos, also hatte sie seine Worte von vorhin doch gehört, schniefte sie verächtlich: "Teneriffa! Na und, lass´ sie doch fliegen, die kleine Hellwig. Wird schon sehen, was sie davon hat!"
Sie mochte dieses junge Ding nicht. Trug immer so kurze Röcke, fuhr mit zweiundzwanzig schon Auto! Und ein rotes noch dazu! Wo hätte es das zu ihrer Zeit gegeben! in dem Alter hatte man einen Kinderwagen zu schieben!. Aber heutzutage lebten ja offenbar sowieso viele in einer verkehrten Welt. Das sagte sie jedem, der es hören wollte und den anderen, die es nicht hören wollten.
"Und außerdem," wandte sie sich nun wieder an ihren Mann, "du warst doch auch schon mal im Süden, damals, in Italien. Und mich zieht es da nicht hin ... zu den Makkaronis."
Doch Franz hörte gar nicht richtig hin, schaute, Gott ergeben, zu Boden, zuckte die Achseln und seufzte. Gewohnheitsmäßig griff er sich die Zeitung, als seine Angetraute wieder mit den Stricknadeln zu klappern begann, aber er kam einfach nicht so richtig zum Lesen. Immer wieder musste er an die junge Frau denken, die sich so mir nichts dir nichts in ein Flugzeug setzen würde, um in den Süden, nach Teneriffa, zu fliegen. Darüber kam er einfach nicht hinweg.
Er selbst war allerdings tatsächlich auch schon mal im Ausland, damals, im Krieg und danach in Gefangenschaft, in Italien. Da hatte seine Alte schon irgendwie recht. Wenn das alles auch schon sehr, sehr lange her war, Franz Neumaier erinnerte sich genau an jede Einzelheit.
Und so begann der alte Mann seiner Frau wieder einmal von damals zu erzählen. Wie er mit einem Lastkraftwagen durch ganz Italien gebraust war. Dass er in Rom und Neapel gewesen sei, dass er bis nach Brindisi ("das ist am Hacken vom italienischen Stiefel, weißt du?") gefahren war, um Mehl zu holen, damit wieder Brot für die Gefangenen gebacken werden konnte. Selbstverständlich vergaß er auch nicht Venedig zu erwähnen.
"Also, Frieda, das musst du dir ungefähr so wie im Spreewald vorstellen, nur eben ohne Wald, alles wurde mit dem Kahn transportiert, naja, richtig heißt das ja dort wohl Gondel."
Aber Frieda hatte nur einen müden Blick für ihren Franz übrig, schnell hingeworfen über die Brille, die ihr beim Stricken bis auf die Nasenspitze gerutscht war.
Und ein ausgiebiges Gähnen, das sie auch keineswegs zu unterdrücken versuchte. Ach, sie kannte ja seine italienischen Geschichten schon alle. Nur hin und wieder ließ sie sich zu einem einsilbigen mhm hinreißen, nickte mechanisch zu seinen Worten.
Auch Franz wusste natürlich, dass sie nur so tat, als würde es sie brennend interessieren, was er erzählte. Er sah sehr wohl, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit schnell wieder ausschließlich ihrer Strickerei zugewandt hatte.
Als sie doch noch einmal hochschaute, bemerkte sie, dass die Übergardinen in der Mitte noch immer nicht richtig geschlossen waren. Sie stand unvermutet schnell auf, obwohl ihre Knie knackten und furchtbar wehtaten, und behob den Schaden, noch ehe Franz womöglich etwas bemerken konnte.
Nun hatte niemand mehr auch nur den kleinsten Einblick in ihr Zimmer.
"Frahanz?!"
"Ja doch, was ist denn?" fuhr er auf. Er war wohl über seiner Zeitung kurz eingenickt?
"Franz, es wäre wirklich schön, wenn du dich morgen mal um das Telefon kümmern könntest, es ist nun schon seit drei Tagen gestört..."
"Na, und, macht doch nichts", entgegnete er noch immer etwas schlaftrunken, da haben wir wenigstens unsere Ruhe ... oder erwartest du irgendwelche dringenden Anrufe?"
So sehr sich die alte Frieda auch sonst immer gegen jeden neumodischen Kram sträubte, das Telefon fehlte ihr doch, denn sie hatte schon seit ein paar Tagen nichts mehr von ihrer Tochter Margot gehört. Vor allem hätte sie ja auch zu gern gewusst, ob nun ihr Enkel Sven sein kleines Häuschen in Wiesenberg endlich weiter ausbauen würde oder nicht.
Das gestörte Telefon war schließlich auch der Grund, dass Neumaiers nicht ahnen konnten, dass sich auch ihr Enkel Sven am Sonntag so mir nichts dir nichts in ein Flugzeug setzen würde, um weit weg Urlaub zu machen. Auf Teneriffa.