Читать книгу Stille(r)s Schicksal - Monika Kunze - Страница 7
Schein und Sein
ОглавлениеAuf dem Flughafen herrschte das gewohnte Getümmel. Kaum jemanden schien es zu stören, schon Stunden vor dem Abflug da sein zu müssen. Viele hatten sich in den glatten Schalensitzen lang ausgestreckt und schienen zu dösen. Manche packten ihre mitgebrachten Brote aus, die wenigsten nutzten das Angebot an den einzelnen Ständen und Bars. Kein Wunder bei den gepfefferten Preisen, dachte Anne und biss geräuschvoll in einen Apfel.
Amüsiert bemerkte sie, dass einige zwar so taten, als würden sie ganz konzentriert Zeitung lesen. Doch in Wahrheit galt ihr Interesse den anderen Leuten. Doch so intensiv der Herr neben ihr auch die gepflegte Dame gegenüber fixierte, jene wollte wohl einfach keine Notiz von ihm nehmen. Sie schien in das Lösen eines riesigen Kreuzworträtsels vertieft zu sein. Nicht einmal auf die Aufrufe aus den Lautsprechern ließen bei ihr eine Reaktion erkennen.
Anne machte kein Hehl aus ihrer Neugier und schaute sich ganz unverhohlen um. Gut, dass Dieter gleich wieder losgefahren ist, dachte sie, er teilte wohl auch ihre Abneigung gegen große Abschiedsszenen. Außerdem entging sie unter diesen Umständen seinem forschenden Fotografenblick. Sie war sich sicher, dass er nach einer Weile selbst das perfekteste Make up durchschaut hätte. Und gerade das konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Dazu bedeutete ihr der Arbeitsplatz in der Redaktion zu viel. Die Spielregeln hießen nun einmal: jung, dynamisch, gesund und unendlich belastbar! Daran musste sie sich halten, wollte sie nicht ihre Entlassung riskieren. Noch zu deutlich erinnerte sich Anne, wie es drei von ihren Kollegen, drei Redakteure, erst vor kurzem eiskalt erwischt hatte. Sie hatten sich aufgeopfert, nie auf die Uhr geschaut (das tut man halt nicht, wenn die Arbeit Spaß macht), ihre Familien vernachlässigt und schließlich ihre Gesundheit ruiniert. Und Kranke waren nun einmal in dem Unternehmen nicht erwünscht. Die Fürsorgepflicht, so hatte es geheißen, gebiete es schließlich, sich von ihnen zu trennen. Anne fand es beschämend, wie um die Kündigung auch noch das kaschierende Mäntelchen der Fürsorgepflicht gehängt wurde. Jeder in der Redaktion wusste, dass es in Wahrheit nur einen Grund für diese dreifache Entlassung gegeben hat. Und der hieß: Geld. Alle drei waren nämlich auf der obersten Stufe der Tarifleiter angekommen. Wieso also sollte das Unternehmen so viel Geld für qualifizierte Fachkräfte ausgeben, wenn auch (viel preiswertere) Volontäre, (kostenlos arbeitende) Praktikanten oder (immerhin auch noch wesentlich billigere) Jungredakteure deren Arbeit verrichten konnten? Was machte es schon. wenn die Qualität dabei manchmal auf der Strecke blieb? Alles, was heute in der Tageszeitung stand, würde am nächsten Tag sowieso im Papierkorb landen. Da musste man wohl die Sorgfaltspflicht nicht so auf die Spitze treiben.
Immer, wenn sie sich an diese Geschichte erinnerte, schämte sie sich, denn auch sie hatte alles stillschweigend mit an- beziehungsweise weg gesehen .
Sich selbst wollte sie jedoch so einen beschämenden Rausschmiss um jeden Preis ersparen, deshalb nahm sie sich zusammen, damit aus ihrem Mund auch nicht der kleinste Klagelaut entwich. Sie wollte sich auf keinen Fall nachsagen lassen, dass andere ihre Arbeit mitmachen mussten, weil sie krank war. Nein, da biss sie doch lieber ihre Zähne zusammen. Tag für Tag verrichtete sie ihre Arbeit, auch an solchen, wenn irgend etwas in ihrem Bauch so verrückt spielte, dass sie es fast nicht ertragen konnte.
Als hätte dieses Etwas nur auf sein Stichwort aus ihren Gedanken gewartet, ging das heftige Ziehen im Leib wieder los. Ergeben seufzend griff Anne nach ihrer Handtasche und verschwand eilig in der Damentoilette.
Als sie zurückkam, wurde gerade ihr Flug aufgerufen. Sie begab sich mit zahlreichen anderen Leuten zum Ausgang D, stieg in den bereitstehenden Bus und kletterte erwartungsvoll die Gangway empor. Hinter ihr ging ein junger Mann, aber sie nahm keine Notiz von ihm.
An ihrem Platz angekommen, lehnte sie sich dankbar in ihrem Sitz zurück, denn das Ziehen begann schon nachzulassen. Das waren schon richtige kleine Wunderwaffen gegen den Schmerz!
Erfreut konnte sie an ihrem Fensterplatz staunen, wie schnell die Häuser und die Landschaft nach dem Start immer kleiner wurden. Selbst die Elbe erinnerte nur noch an eine lange, silbrig schimmernde Schlange. Hier oben schien alles unwichtig zu werden, womit sich die Menschen in der großen Stadt herumplagten. "Über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein" sang sie in Gedanken. Jetzt begann es tatsächlich noch einmal zu schneien. Aber was machte das schon? Sie flog schließlich der Sonne entgegen.
Gespannt verfolgte sie am Monitor, wo sich der Ferienflieger gerade befand. Doch nach dem obligatorischen Fertiggericht, Nudeln, Fleisch und selbst der Salat hatten irgendwie nach Pappe geschmeckt, wurden ihr die Augenlider schwer. Schon im Halbschlaf, hörte sie jemanden sagen: "Schlafen Sie gut und träumen Sie was Schönes!"
Was für eine Stimme! Gehört diese schon zu ihrem Traum? Sie fühlte sich jedoch zu träge, um der Sache, in diesem Falle der Stimme, auf den Grund zu gehen.
Als Anne erwachte, erschrak sie. Sie musste ja Stunden geschlafen haben, denn sie hörte gerade noch, dass bis zur Landung nur noch ein paar Minuten vergehen würden. Da war auch schon wieder dieser Druck in den Ohren. Ihr Magen wollte rebellieren, aber dann gab er sich mit einem zuckerfreien Bonbon zufrieden. Endlich war auch die gefürchtete Landeprozedur überstanden, die Räder hatten leicht federnd auf der Landebahn aufgesetzt, was die Passagiere mit müdem Beifall bedachten.
Im langgestreckten, flachen Flughafengebäude von El Medano war es angenehm kühl, die dicken Betonwände ließen keine Hitze durch. Anne griff nach ihrer Tasche, die gerade auf dem Transportband heran gerollt kam und lief einem jungen, dunkelhaarigen Mann nach, der die Gäste in verschiedene Busse einwies.
"Kommen Sie hier herüber", forderte er nun schon zum dritten Mal zwei ältere Herrschaften auf. Der Mann und die Frau, beide trugen ein Hörgerät in den Ohren, schienen dankbar zu sein, dass sich nun endlich jemand um sie kümmerte. Ihr Lächeln wirkte trotzdem ein wenig verloren in der Menge.
Auch Anne kam sich vor wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Bei diesem Gewimmel, dem Schieben und Drängen dauerte es seine Zeit, bis jeder seinen richtigen Platz im richtigen Bus gefunden hatte.
Erst, als auch das letzte Gepäckstück im riesigen Bauch des Busses verschwunden war, entspannte sich die Situation. Der höllische Lärm, hervorgerufen von aufgeregten Verständigungsversuchen in verschiedenen Sprachen, verebbte.
Die darauffolgende Ruhe empfand Anne als angenehm, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Auch Carlos, er hatte sich als der Schwiegersohn des Hotelchefs vorgestellt und sich gleich darauf in den Sitz gleiten lassen, um vor sich hin zu dösen, wirkte völlig entspannt.
Warum sollte er auch aus dem Fenster schauen, dachte Anne, er kannte hier schließlich jeden Stein und jeden Strauch. Sie selbst war zum ersten Mal auf Teneriffa und schaute erwartungsvoll aus dem Fenster. Doch, was sie sah, enttäuschte sie, denn Steine gab es unglaublich viele, ein paar vereinzelte dürre Sträucher. Aber Bäume? Sie konnte jedenfalls nirgendwo welche entdecken. Die Landschaft war karg und erinnerte sie trotz der Felsen an einen stillgelegten Tagebau in ihrer Lausitzer Heimat. Grünes war kaum zu sehen, und wenn, dann höchstens als Aufdruck auf herumliegenden Getränkebüchsen. Überhaupt machten die Straßen einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Die einzigen Pflanzen (es schienen Tomaten zu sein), die es hier zu entdecken gab, wuchsen in langgestreckten Folienzelten.
Anne schaute sich um und glaubte, auch auf den Gesichtern ihrer Mitreisenden eine gewisse Enttäuschung erkennen zu können.
"Mann, sind wir denn hier auf einer Müllhalde gelandet?"
Der junge Mann neben ihr guckte genauso entgeistert wie sie, als er die herumliegenden Bierbüchsen sah, die entweder den Touristen oder den Einheimischen einfach aus den Händen gefallen waren. Anne erkannte die Stimme aus dem Flugzeug, ließ sich aber nichts anmerken. Sie drehte sich nicht einmal nach ihm um.
Plötzlich entdeckte sie eine grüne Oase, freute sich unbändig, dass ihr Bus geradewegs darauf zu rollte.
Es gab dort nicht nur richtigen Rasen in saftigem Grün, ein paar riesige Palmen, mehrere überdimensionale Gummibäume und dann diesen phantastischen Roseneibisch. Sein Anblick verschlug ihr den Atem. Etwa drei Meter hoch reckte er seine Äste, von unzähligen Blüten übersät, deren leuchtendes Rot vor der dicken grauen Mauer besonders gut zur Geltung kam. Mit ihrem Hibiskus auf dem Fensterbrett zu Hause hatte dieser hier lediglich die Farbe der Blüten gemeinsam.
Die Leute waren mehr oder wenig eilig aus dem Bus geklettert, doch Anne saß noch immer auf ihrem Platz und hatte nur Augen für den Hibiskus.
"Ach, ist der schön!" Sie wandte sich um, aber der junge Mann, der unterwegs gestöhnt und gefragt hatte, ob sie denn hier auf einer Müllhalde gelandet seien, war schon weg.
Anne stutzte. Sie war die Letzte. Schnell sprang sie auch aus dem Bus und lief den anderen hinterher.