Читать книгу Stille(r)s Schicksal - Monika Kunze - Страница 8
Überraschung im Zimmer Nummer Dreizehn
Оглавление"Guten Tag, Sie sind Frau Hellwig, ja?"
Also, nach Spanien klang das nicht, dachte Anne, eher nach Deutschlands Küste, entweder Nord- oder Ostsee. Anne mochte diese saubere Aussprache.
Die Formalitäten waren schnell erledigt.
"Hier bitte, Ihr Zimmerschlüssel und der Hotelausweis."
Jetzt fiel es ihr wieder ein: Sie hatte gelesen, dass das Hotel von einem Hamburger Ehepaar geführt wurde. Das schien also die Chefin zu sein. Sie war in mittleren Alter, etwas füllig und strahlte eine gewisse Mütterlichkeit aus.
Anne schaute auf den Schlüsselanhänger und trat zur Seite.
"Nummer Dreizehn? Na, wenn das kein gutes Zeichen ist!"
Doch eine ältere Dame, die aufgeregt etwas zu suchen schien, hatte dazu wohl eine ganz andere Meinung.
"Dreizehn? Um Himmels willen", rief sie aus und schlug die Hand vor den Mund, "das kann doch kein gutes Zeichen sein, Fräulein! Mir hat diese vertrackte Zahl wirklich immer nur Unglück gebracht. Es ist ja seltsam, dass es in diesem Hotel überhaupt ein Zimmer mit so einer Nummer gibt", nörgelte sie weiter, bis ihr Blick auf die Handtasche fiel, die mit einem Riemen am Koffer befestigt war.
"Ach, da ist ja das vertrackte Ding", rief sie plötzlich erfreut aus, ihr Ärger schien vergessen zu sein, denn ihr rosiges Apfelgesicht wurde von einem breiten Lächeln zerfurcht. Anne zwinkerte ihr zu.
Andere waren weniger gut gelaunt, sie beschwerten sich lautstark, dass sie kein Zimmer mit Meerblick bekommen hätten.
"Bei dem Preis ist das doch wohl das Mindeste!"
Der arrogante Ton ging Anne auf die Nerven, doch gleich darauf besann sie sich: Die sind eben genauso urlaubsreif wie ich, dachte sie versöhnlich.
Die alten Hasen waren sofort zu erkennen, nicht nur an ihrer gesunden Bräune, sondern auch an ihrer gelassenen Neugier, mit der sie die nervösen Neuankömmlinge bemusterten.
Ein älterer Herr in Shorts, Turnhemd und Strohhut meinte im Fahrstuhl zu seiner Gefährtin: "Weißt, Leni, in Deutschland scheint´s Frühling geworden zu sein. Könne mär oigentlich hoimfohre."
Leni, es war schwer zu sagen, ob es sich um seine Frau oder seine Tochter handelte, nickte zustimmend während sie versuchte, ihren Fuß unter Annes Reisetasche hervor zu ziehen.
"Oh, Verzeihung", Anne lächelte schuldbewusst und zog schnell die Tasche etwas beiseite.
Leni dankte ihr mit einem hoheitsvollen Nicken.
Endlich im Zimmer mit der Nummer Dreizehn.
Anne ließ die Reisetasche einfach fallen, öffnete das Fenster und trat auf den Balkon hinaus, freute sich über den herrlichen Ausblick und die frische Brise, die vom Meer herüber wehte. Ihr Blick fiel auf den wunderschönen Hibiskus, der sie schon bei ihrer Ankunft verzaubert hatte, auf Hochbeete, in denen Blumen rankten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte: kleine, dickfleischige, dunkelgrüne Blätter an ebenso dicken Ranken, ab und zu eine Blüte, die dem heimischen Gänseblümchen nicht unähnlich war, nur eben von einem kaum zu übertreffenden, leuchtenden Rot.
Und weiter vorn, gleich hinter der felsigen Mauer, brandete der Atlantische Ozean. Links hinter den Palmen und dem Swimmingpool hatten wohl die Surfer ihr Domizil. Einige ließen sich von den Wellen tragen, andere saßen an den weißen Tischen oder im schwarzen Sand, tranken etwas oder unterhielten sich einfach. Es war ihnen schon von weitem anzusehen, dass sie ihren Urlaub genossen.
Genau das hatte Anne jetzt auch vor.
"Erst mal unter die Dusche, dann in den Badeanzug - hinunter zum Strand und ab ins kühle Nass", dachte sie wieder einmal laut, denn es hörte sie ja niemand.
Sie wollte an nichts mehr denken, sich in die tosenden Wellen stürzen und ein Stück hinaus schwimmen.
Doch als die junge Frau ihre Tasche öffnete, erschrak sie. Das waren doch nicht ihre Sachen! Hosen, Rasierwasser, T-Shirts, oh Gott, offensichtlich die Tasche eines Mannes. Da war ja auch ein Schild. Sven Stiller las Anne und zu ihrer Überraschung war dieser junge Mann auch noch aus Klarwasser. Er wohnte gar nicht weit von ihr, in der Kastanienallee. Siedend heiß wurde ihr, als sie daran dachte, dass das wohl der Typ sein musste. War das etwa der Typ im Trabbi mit dem gleichen Kennzeichen? Erst hatten sie ihn überholt, dann war ein Weilchen hinter ihnen gefahren, aber bald war er nicht mehr zu sehen gewesen. Wie hätte das kleine Kultauto auch mit Dieters Opel mithalten sollen?
Sven also, Sven Stiller. Aber so still kam er ihr nicht vor, denn wenn sie sich richtig besann, war er es doch auch, der ihr im Flugzeug gewünscht hatte, dass sie gut schlafen und schön träumen möge. Und im Bus hatte er etwas von einer Ankunft auf der Müllhalde geredet. Und dann war er plötzlich verschwunden gewesen, als sie ihm ihre Freude über den herrlichen Hibiskus hatte mitteilen wollen.
Aber wie er eigentlich richtig aussah, hätte sie nicht mehr zu sagen gewusst. Anne hatte an diesem Tag einfach zu viele Leute gesehen und dabei eigentlich niemanden so richtig angeschaut. Sie legte die Sachen, die ihr nicht gehörten, wieder in die Tasche zurück, wusch sich schnell Gesicht und Hände. So, jetzt würde sie diesen Sven Stiller suchen gehen.
Als sie die Treppe hinunter kam, sah sie einen jungen Mann an der Rezeption stehen. Er hatte sich lässig an den Tresen gelehnt und schien angeregt mit der Empfangsdame zu plaudern. Die dunkelhaarige Frau lachte mehrmals, bevor sie sagte: "Keine Sorge, wir suchen und finden."
Sie sprach mit spanischem Akzent. Die Chefin aus Hamburg war nirgends mehr zu entdecken.
Der junge Mann trug Jeans und T-Shirt, Anne fielen sein knackiger Hintern und kräftige Schultern auf, seine dunklen Haare fand sie etwas zu lang. Als sie gerade dabei war, seine Größe auf mindestens einen Meter achtzig zu schätzen, drehte er sich um. Nur für ein paar Sekunden begegneten sich ihre Blicke. Lange genug jedoch, um die Wende, die ihr Leben ab sofort nehmen würde, zumindest zu ahnen. Er schaute sie aus seinen dunklen Augen an, als sei ihm gerade das achte Weltwunder begegnet. Doch dann schien er sich zu fassen und fragte:
"Entschuldigung, sind Sie nicht die Kleine aus Klarwasser? Ich bin Ihnen auf der Autobahn ganz unauffällig gefolgt, aber Sie haben mich abgehängt … erinnern Sie sich?"
Für Anne stand für einen Moment die Zeit still, sie lauschte seiner Stimme, ohne den Sinn seiner Worte zu erfassen. Nur Bruchstücke drangen bis zu ihr vor, sie schüttelte sich und hörte gerade noch, wie er sagte: "Das ganze Dilemma kam nur, weil ich mich so geärgert habe über Sie. Erst kommen Sie mit einem Mann zum Flugplatz, der überhaupt nicht zu Ihnen passt und dann würdigen Sie mich einfach keines Blickes, obwohl ich Sie doch schon zweimal angesprochen hatte."
Anne hatte sich wieder in der Gewalt und bei seinen letzten Worten, gelang ihr sogar ein leicht spöttisches Lächeln. Irgendwann würde er wohl aufhören zu reden, doch sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Sie schaute sich also angelegentlich im Foyer um, während er von den vertauschten Taschen zu erzählen begann. Plötzlich verstummte er so abrupt, als hätte ihn jemand ausgeschaltet wie ein Radio. Sein Vorrat an Worten war erschöpft. Nun schaute er sie erwartungsvoll an, als sei sie jetzt an der Reihe.
Anne stellte sich kurz vor, fragte ihn dann mehr oder weniger unbefangen: "Sie sind doch der Sven Stiller, nicht wahr?"
Der junge Mann stutzte, fragte aber nicht, woher sie das wohl wissen konnte. Anne sah die Bewunderung in seinem Blick, aber auch so etwas wie Angst. Hatte er schlimme Erfahrungen gemacht?
Als hätte er Gedanken lesen können, musste er an seine Exfreundin denken. Sie hatte ihn verlassen, weil da plötzlich dieser Münchener Makler aufgetaucht war. Mit dem war Tina von einem Tag zum anderen durchgebrannt. Dabei hatte Sven schon angefangen gehabt, für sie beide im Nachbarort ein Häuschen auszubauen., Eine alte Frau hatte es ihm völlig unerwartet vererbt.
Oma Jeschke hatte keine Kinder und Sven gleich ins Herz geschlossen, als er immer mal etwas an ihrem Häuschen repariert hatte.
"Jungchen" hatte sie ihn mit zahnlosem Lächeln genannt, so dass man es nicht übel nehmen konnte, und ihm bei jeder Gelegenheit versichert, dass er goldene Hände habe. Jedesmal, wenn sie ihm für seine Arbeit verschämt einen Schein über den Tisch schob, hatte er ihn einfach liegen lassen.
Als sie dann gestorben war, hatte ihm die alte Frau wirklich gefehlt, und dass sie ihm das winzige Haus vererben würde, damit hätte er gleich gar nicht gerechnet. Er wusste ja zu der Zeit nicht einmal, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Erst, als er glaubte, in Tina die Frau fürs Leben gefunden zu haben, hatte er mit der Modernisierung des heruntergekommenen Hauses begonnen. Aber gleich nach dem Erneuern der Fenster war Tina plötzlich verschwunden gewesen. Den Zettel am Flurspiegel hatte er erst Tage später entdeckt. Sie könne es ihm nicht erklären, aber sie würde nie mehr zurück kommen. Seitdem konnte er den mühseligen Umbauarbeiten nichts mehr abgewinnen. Wozu? Für wen auch?
Und nun stand er, fünf Flugstunden entfernt von der heimatlichen Lausitz, auf der größten Kanarischen Insel diesem unglaublichen Mädchen gegenüber, das Anne hieß und ihn spöttisch zu mustern schien. Schnell besann er sich, schloss endlich den Mund. Er wollte ihr sagen, wie hübsch er sie fand, aber ihm fehlten die Worte.
Seine Unsicherheit schien Anne zu amüsieren, denn sie lachte schon wieder.
"Soso, da bin ich also schuld, dass sie nach fremden Taschen greifen", kicherte sie. "Und dann komme ich auch noch daher mit einem, der gar nicht zu mir passt. Nicht zu fassen!"
Sie machte keinen Hehl aus ihrer Spottlust, doch seine offensichtliche Verlegenheit ließ sie schnell einlenken.
"Dieser Mann war mein Arbeitskollege, aber bitte nicht weitersagen!"
Da war er schon wieder, dieser leicht spöttelnde Ton, sie konnte eben auch nicht über ihren Schatten springen. Wie oft hatte sie auf diese Weise schon unliebsame Annäherungsversuche im Keim erstickt. Wollte sie Sven auch abschrecken? Ihr wurde heiß, weil sie die Antwort ahnte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, in diesem Ton fortzufahren:"Und dann reagiere ich noch nicht mal auf Ihre Annäherungsversuche! "
Das Wort Anmache hatte sie absichtlich nicht benutzen wollen.
"Fragen sie sich eigentlich überhaupt nicht, woher ich ihren Namen kenne?"
Ihre Augen sprühten Funken und sie hatte Mühe nicht laut loszulachen. Als es dann doch einfach losbrach, das Lachen, fiel bei Sven endlich der Groschen. Natürlich, hinter ihr, auf der Treppenstufe stand sie ja, seine schwarze Reisetasche mit den blauen Rändern. Nun konnte auch er nicht mehr anders als zu grinsen. Dabei erschienen auf seinen ansonsten eher kantigen Wangen ein paar tiefe Grübchen. Anne musste an sich halten, um nicht einfach die Hand nach ihm auszustrecken.
"Wir haben also dieselben Taschen", stellte Sven fest, wobei er sich ärgerlich an die Ohren fasste, denn er wusste, dass sie wieder hochrot waren.
Anne hatte das längst bemerkt, amüsierte sich nun wieder köstlich, konnte sich aber trotzdem die Bemerkung nicht verkneifen, dass es sich nicht um dieselben, sondern die gleichen handelte.
"Sonst hätten wir ja hier nur eine Tasche vor uns."
Kaum waren die Worte heraus, ärgerte sie sich auch schon über ihren belehrenden Ton.
Doch Sven nickte nur ergeben.
"Wird schon stimmen, wenn Sie das sagen. Aber wir sollten jetzt einfach unsere Taschen wieder zurücktauschen, denn ich will schnell ans und ins Meer ... und FKK ist hier nicht angesagt, habe ich gehört."
Klar, brauchst du eine Badehose, dachte Anne, denn sie wusste genau so gut wie er, dass man hier von der daheim immer noch gern praktizierten Freikörperkultur nichts hielt.
Doch das Thema noch weiter auszuwalzen, hatte sie wenig Lust. Auch sie wollte schließlich so schnell wie möglich ans Wasser.
"Bis bald!" rief sie ihm zu und griff eilig nach ihrer Tasche.
Sie war so schnell aufgebrochen, dass Sven gar nicht dazu kam, sie noch weiter in Augenschein zu nehmen. Doch, was er bisher bemerkt hatte, gefiel ihm. Sie trug noch immer diesen aufregend kurzen Rock und so ein glänzendes, gelbes Hemdchen mit schmalen Trägern. Von Tina wusste er noch, das man so etwas Top nannte. Doch ansonsten gab es zwischen den beiden doch erhebliche Unterscheide. Annes Füße steckten in sportlich flachen Sandalen, Tina hatte stets Schuhe mit hohen Absätzen bevorzugt, was sich besonders in unwegsamem Gelände als sehr hinderlich herausgestellt hatte. Trotzdem hatte seine Ex selbst im Gebirge nicht von ihren High Heels lassen können oder wollen.
Vor allem aber war das Lächeln anders. Bei Tina hatten die Augen niemals mit gelächelt. Schade, dass Anne so schnell um den Treppenabsatz herum verschwunden war. Er hätte so gern noch einen Blick in ihre lächelnden Augen gewagt.