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#2WIE ICH ZUR SCHREIBTISCHMÖRDERIN WURDE

Bevor mein erstes Buch in die Läden kam, waren Schriftsteller für mich Halbgötter, denn sie durften ihren Traum leben – ein Traum, der für mich unerreichbar schien. Ich war ja nur Monika Mansour, die Bauerntochter, gelernte Augenoptikerin, Mutter, Hausfrau und Teilzeitangestellte.

Was heißt da nur? Heute bin ich Autorin und arbeite an meinem siebten Buch. Doch etwas ist mir schon sehr früh klar geworden: Auf dem Olymp sitze ich deswegen nicht! Immerhin gab es letztes Jahr einen neuen Bürostuhl.

Man hört immer wieder, Autoren schöpfen aus ihrer eigenen Lebenserfahrung. Zum Teil mag das stimmen. Aber mein Leben war nie spektakulär, es gab keine extremen Höhen und Tiefen, keine dramatischen Schicksalsschläge und keinen Lottogewinn. Dennoch habe ich vieles erlebt, mir meinen Lebensweg abwechslungsreich gestaltet, um möglichst viele Facetten des Lebens kennenzulernen.

Aufgewachsen bin ich mit meiner jüngeren Schwester auf einem idyllischen Bauernhof in Embrach, im Zürcher Unterland. Als Kind auf einem Bauernhof herumzutoben war super. Es war eine glückliche Zeit, die ich sicher auch meinen tollen Eltern zu verdanken habe. Dieses Landleben brachte außerdem seine spannenden, ja fast makabren Seiten mit sich. Unser Hof im Grünen war wie eine Insel im Sumpf der Ausgestoßenen. Nur ein paar hundert Meter die Straße hoch durch den Hardwald gab es eine psychiatrische Klinik, eine Drogenentzugsanstalt für Jugendliche und ein Bundesasylzentrum. Alles, was sich dort abspielte, war für mich normal. Betten brannten fast wöchentlich in der Klinik – ich weiß dies so genau, weil mein Vater bei der Feuerwehr war. Auf dem Schulweg begegnete ich allerlei psychisch kranken Menschen, die in einer anderen Welt lebten. Dann saßen da die Asylsuchenden auf den Wegen, verlorene Seelen, traumatisierte Seelen, entwurzelte Seelen. Die Kommunikation war nicht immer einfach, wenn sie auf unseren Hof kamen und nach frischer Kuhmilch, Kartoffeln oder Saisonfrüchten fragten. Meine Familie und ich wurden aus diesem Umfeld heraus nie in irgendeiner Weise bedroht, im Gegenteil, die Geschichten der Flüchtlinge waren oft bewegend und traurig.

Action rund um den Hof gab es aber schon. Der Hardwald war aus mir unerklärlichen Gründen jener Ort, wo man hinging, wenn man sich das Leben nehmen wollte. Erhängt, erschossen, den Kopf auf die Bahngleise gelegt – ich habe in meiner Kindheit alles davon mitbekommen, wenn auch nie direkt gesehen. Da kreiste nachts schon mal der Polizeihubschrauber über unserem Hof, am Boden begleitet von Wagen mit Blaulichtern. Meist suchten sie nach einem ausgebrochenen Insassen der geschlossenen psychiatrischen Klinik. Auf unserer Kuhweide lieferten sich zwei Männer eine Messerstecherei. Es gab ein Autorennen an unserem Hof vorbei. Im Wald fiel dann ein Schuss, bevor beide Wagen wieder die Straße hoch zurückrasten. Ich habe keine Ahnung, was damals genau vorgefallen war. Der Fall hat sich nie aufgeklärt. Vielleicht haben all diese Erinnerungen meine Fantasie beflügelt, um Krimiautorin zu werden?

Fast immer jedoch war es friedlich auf unserem Hof. Statt mit Barbies spielte ich mit unseren Hunden, Katzen und Kälbern oder streifte durch den Wald auf der Suche nach geheimnisvollen Kristallen in hohlen Baumstämmen (so einen habe ich tatsächlich gefunden!). Meine große Liebe gehörte unseren beiden Pferden Osiris und Gino. Meine pinkfarbenen Gummistiefel waren voll cool und dass die Jeans Löcher an den Knien hatten, war damals keine Modeerscheinung, sondern Bauernhof-Kollateralschaden. Mein Talent fürs Makabre zeigte sich früh. Ich habe in meinem Kinderspielzimmer in steriler Atmosphäre, dank Küchenpapier, eine tote Maus aufgeschlitzt, die Innereien untersucht, das arme Tier danach mit Watte ausgestopft und wieder zugenäht. Sie landete in einer Schublade und begann nach einer Woche fürchterlich zu stinken. Mein erstes Opfer hat meiner Mutter einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als sie es entdeckt hat. Na ja, heute spielen die Kinder mit Handys, Computern und Spielkonsolen, ich experimentierte mit Schweineherzen und jagte Kühen Spritzen in den Hintern.

Ich besuchte neun Jahre die Schule und schloss danach eine vierjährige Lehre als Augenoptikerin erfolgreich ab. Mit zwanzig ging ich für sieben Monate nach Neuseeland und Australien. Ich besuchte eine Sprachschule, machte meinen «PADI Open Water Advanced»-Tauchkurs und arbeitete auf einem Viehtrieb. Zurück in der Schweiz suchte ich eine Stelle als Augenoptikerin. Ich durfte zwischen einem Geschäft in St. Moritz und einem in Luzern wählen. St. Moritz war mir dann doch etwas zu kalt, also zog ich nach Luzern und arbeitete in der Stadt. In dieser Zeit schrieb ich auf der Schreibmaschine mein Drehbuch. Nach zwei Jahren packte mich wieder das Fernweh und ich reiste sechs Monate durch die USA. Zurück in Luzern wechselte ich ins Gastgewerbe, einfach so. Ich tranchierte Château Briand in einem Hotel in Meggen. Damals kaufte ich mir meinen ersten Computer. Voller En­-thusiasmus schrieb ich in den Zimmerstunden an einem Thriller, der sich dann aber ab Seite 300 nicht mehr entwirren ließ, weshalb ich das Projekt aufgab. Beruflich wechselte ich als Barchefin in eine Whiskybar in Willisau. Zwischendurch hatte ich im Selbststudium die Wirteprüfung abgelegt und noch eine Handelsschule besucht.

Dann kam die große Liebe und ich heiratete meinen Ägypter. Aus Monika Aeschbacher wurde Monika Mansour. Auch beruflich orientierte ich mich neu, arbeitete Teilzeit am Flughafen Zürich im Check-in und lernte gleichzeitig piercen und tätowieren in einem Studio in Sursee. Drei Jahre später kam unser Sohn zur Welt. Während des Mutterschaftsurlaubes begann ich wieder zu schreiben. In diesen Monaten entstanden die ersten Kapitel zu Drachenkinder. Ein halbes Jahr später arbeitete ich wieder am Flughafen, tätowierte und nahm noch eine Teilzeitstelle in einem Büro an. Und irgendwie versuchte ich den Tag auf fünfundzwanzig Stunden zu dehnen, um mindestens eine Stunde Schreiben hineinzupacken. So zogen die Jahre ins Land.

Am Flughafen arbeite ich mittlerweile schon lange nicht mehr und auch das Tätowieren habe ich letztes Jahr aufgegeben. Denn endlich kann ich es mir leisten, mich fast ganz auf das Schreiben und die Familie zu konzentrieren. Na ja, etwas Buchhaltung im Home Office mache ich weiterhin. Es ist eine willkommene Abwechslung und meinem Mann will ich ja auch nicht ständig auf der Tasche liegen.

Das also ist mein bisheriges Leben im Schnelldurchlauf. Weshalb sollte ich Lesern, die etwas übers Schreiben erfahren wollen, auch meine Biografie aufzwingen? Man braucht zum Schreiben neben dem Talent und der Technik auch Lebenserfahrung, könnte ein stolzer Autor jetzt einwenden und dies als Grund vorschieben, selbstverherrlichend die eigene Lebensgeschichte bis ins letzte Detail zu erzählen. Blödsinn. Mein Leben war nie spektakulär genug, als dass ich das Wissen mitbringen würde, einen Thriller oder Krimi aus meinen persönlichen Erfahrungen heraus zu schreiben. Wenn dies eine Grundvoraussetzung fürs Schreiben wäre, würde ja niemand Science-Fiction oder historische Romane herausgeben können.

Weshalb sind dann gewisse Autoren so gut darin, den Leser in eine andere Welt zu entführen und diese Welt realistisch erscheinen zu lassen, auch wenn sie nie dort waren? Weil sie das Talent besitzen, die Menschen zu verstehen, ihre Bedürfnisse, ihre Ängste, ihre Gefühle. Und sie können es deshalb, weil sie ihren persönlichen Schatz an Gefühlen teilen! Diesen Schatz nenne ich Lebenserfahrung, und um den zu finden, muss man nicht fünfzig werden. Den trägt jeder mit sich. Wer war schon einmal wütend? Traurig? Verliebt? Hatte Schmerzen? Wir kennen das alle. Und aus diesem Schatz an Gefühlen können wir schöpfen. Also tun wir es. Wie? Das werde ich anhand von meinem Leben zeigen. Na ja, anhand von Fragmenten aus meinem Leben.

Hier kommt auch schon die erste Aufgabe für jeden angehenden Autor: Ich empfehle, einen Ordner mit einem Register A–Z anzulegen und einen Stapel leerer Blätter bereitzuhalten. Beginnen wir bei A wie Angst. Ich suche nach einer Situation in meinem Leben, in der ich große Angst empfunden habe. Diese kurze Szene schreibe ich nieder. Vielleicht finde ich in einer alten Schuhschachtel auch noch ein Foto dieser Situation, das frischt die Erinnerung auf. Bitte nicht versuchen, in Worte zu fassen, wie man sich fühlte, sondern einfach das Erlebnis so niederschreiben, wie es war oder als Erinnerung im Kopf hängen geblieben ist. Keimt da nicht gleich wieder das Gefühl der Angst in einem auf?

Diesen Ordner, meinen Schatz der Gefühle, halte ich immer griffbereit. Will ich eine Szene schreiben, in der mein Held Angst verspürt, lese ich mir meine eigene kurze Geschichte vor und schon ist es da, das echte Gefühl der Angst, und überträgt sich automatisch auf meine Figur. Es funktioniert. Denn wer ehrlich schreibt, schreibt besser.

Hier kommt also eine kleine Auswahl aus meiner eigenen kleinen Gefühls-Biografie.

ANGST

Unser abgelegener Bauernhof stand auf einer Lichtung, eingekesselt vom Wald. Mächtige, dunkle Bäume hielten uns nachts gefangen. Monster und Bestien kamen im Schutz der Dunkelheit aus ihren Verstecken und umkreisten den Hof. Deren nächtliches Gekeuche war schrecklich: das heisere Bellen der Füchse, das Fiepen der Rehe, das Grunzen der Wildschweine. Ich hatte damals panische Angst vor Füchsen. In meinen Albträumen kletterten sie die Fassade hoch, sprangen auf den Balkon und schlugen die Scheibe zu meinem Schlafzimmer ein.

Diese Angst war berechtigt. Zu jener Zeit herrschte die Tollwut. Ein kranker Fuchs griff am helllichten Tag den Traktor meines Vaters an. Tollwut machte die Tiere zu einer Art Zombie. Sie sahen schrecklich aus mit dem Schaum vor dem Maul, dem struppigen Fell und apathischen Blick. Solch ein Zombie-Erlebnis hat mich geprägt.

Ich war so etwa sechs Jahre alt und spielte nach dem Mittagessen draußen auf dem Hof. Es war Sommer. Meine Eltern und meine Schwester waren im Haus. Plötzlich rannten unsere Hühner gackernd um die Scheune herum direkt auf mich zu. Ich stand bei der Garage neben dem Hauseingang. Dann sah ich ihn. Den Fuchs. Den Zombie! Er trieb torkelnd die Hühner vor sich her und kam dann direkt auf mich zu. Ich wollte ins Haus stürmen, aber unsere Haustüre klemmte und ich konnte sie in meiner Panik nicht aufreißen. Also rettete ich mich in die Garage. Doch das Garagentor stand weit offen. «Das ist mein Tod», dachte ich. «Wenn der Fuchs mich findet, wird er mich beißen. Dann werde ich auch zu einem Zombie und sterben.» Ich drückte mich ganz flach an die Wand und beobachtete, wie der Fuchs draußen an der Garage vorbeizog.

Ich hatte Glück. Er entdeckte mich nicht. Natürlich schlug ich danach gleich Alarm. Mein Vater ging daraufhin mit der Schrotflinte los und erlöste das Tier. Der Tierarzt holte den Kadaver dann ab.

Seit jenem Tag aber kroch ich jedes Mal, wenn wir nachts mit dem Auto durch den Hardwald nach Hause fuhren, hinter dem Vordersitz in Deckung und hielt mir Augen und Ohren zu. Diese Angst bin ich lange nicht losgeworden, die habe ich noch heute im dunklen Wald, dort, wo die Monster lauern …

FREIHEIT

Eines der stärksten Gefühle, das ich je erlebt habe, war das von Freiheit. Ich war gerade zwanzig. Mit dem Ersparten aus vier Jahren Optikerlehre reiste ich nach Neuseeland, besuchte dort zehn Wochen eine Englischschule, reiste sechs Wochen durchs Land und flog dann hinüber nach Australien. Zwei Wochen Ferien bei einer Bekannten waren eingeplant, bevor ich wieder zurück in die Schweiz fliegen sollte. Aber nein, Monika wollte nicht zurück in die Schweiz. Auf dem Bankkonto lag noch etwas Geld und mein australisches Visum war drei Monate gültig. Der Entschluss stand fest: Ich buchte den Flug um und gewann zehn weitere Wochen Freiheit. Aber was mit den zehn Wochen anstellen? Ich hatte ja nicht einmal einen australischen Reiseführer dabei.

Meine Bekannte fuhr mich zum Transit Centre in Brisbane, einem Verkehrsknotenpunkt, von wo Busse und Züge ins ganze Land ausschwärmten. Ich verabschiedete mich von ihr und da stand ich also, alleine, nur meinen Rucksack auf dem Rücken und ganz viel Abenteuerlust im Blut. In der riesigen Halle drehte ich mich im Kreis. Wohin wollte ich reisen? Nach Norden oder Süden? Oder doch ins Landesinnere? Reise ich mit Bus oder Zug? Was kann ich mir leisten? Was will ich? Es war einzig meine Entscheidung. Oder die meines Schicksals. Niemand, der mir sagte, was ich jetzt tun sollte. Das war einer der glücklichsten Momente in meinem Leben. So ein Gefühl von Freiheit und Abenteuerlust habe ich danach nie mehr erlebt. Es war toll!

Und es wurde noch besser. Mein Blick fiel auf eine Wand mit Ferienprospekten. Einer zog mich magisch an: The great Australian cattle drive with the Queensland drovers. Ein Viehtrieb! Da wollte ich mitmachen. Einmal im Leben als Cowboy durch die Prärie reiten – Pardon, in Australien sagt man Stockmen, also Stockgirl ist in meinem Fall dann korrekt. Natürlich konnte ich mir das Abenteuer nicht leisten. Ich rief trotzdem an. Arbeiten gegen Kost und Logis war mein Vorschlag. Noch am Abend traf ich mich mit einem Vertreter der Queensland Drovers und in der Nacht saß ich bereits im Bus und fuhr dreizehn Stunden ins Landesinnere von Queensland. Am Morgen um sechs wurde ich in Roma von einem Jeep abgeholt und zu dem Lager im Outback gebracht. Das Lager bestand aus einem Versorgungs-Truck, der Wasser, Lebensmittel und Futter transportierte, dem Jeep und einem Motorrad. Geschlafen wurde unter freiem Himmel in Swags, australischen Schlafsäcken, eine offene Feuerstelle diente als Küche und sogar eine Dusche gab es. Dazu musste man den Jeep hinter dem Truck parken, den Motor laufen lassen, die Heizung aufdrehen und den Schlauch vom Wassertank mit dem Motor und einem zweiten Schlauch verbinden, der zur Freiluft-Brause führte.

Morgens bei Sonnenaufgang durften wir das Vieh aus dem provisorisch gesteckten Elektrozaun lassen. Dann trieben wir es täglich an die zehn Kilometer vorwärts auf unserer Route zur Ostküste. Einer der Stockmen und unsere Köchin – wir hatten tatsächlich eine Köchin dabei! – brachen das Lager ab, fuhren zum neuen Etappenziel und bauten es dort auf. Denn kaum verschwand die Sonne hinter dem Horizont, musste das Vieh wieder eingezäunt sein, so lautete das Gesetz in Queensland.

An diesem ersten Morgen also gab es gleich ein Spaghetti-Frühstück über dem Lagerfeuer und dann ging’s sofort rauf aufs Pferd, in die rechte Satteltasche bekam ich Sandwiches, in die linke eine Rolle WC-Papier. Zehn Stunden saß ich an diesem Tag im Sattel, neunhundertfünfzig Kuhhintern vor mir und rund zwanzig freilaufende Pferde neben mir. Am Abend kroch ich fix und fertig in meinem Swag neben dem Lagerfeuer, bestaunte noch kurz den Sternenhimmel und fiel glücklich wie nie zuvor in meinem Leben in einen komatösen Schlaf, den nicht einmal Schlangen und Skorpione hätten stören können, oder die eiskalten Nächte im Outback.

NEID

Neid fühlte ich zum ersten Mal im Kindergarten. Wir wollten ein Theater aufführen. Eines der Mädchen durfte die Prinzessin spielen. Ich wollte auch die Prinzessin spielen. Aber nein, mir wurde die Statistenrolle als Butterblume zugeteilt. Statt mit rosafarbenem Prachtkleid und Krone auf dem Kopf stand ich stramm in grünen Strumpfhosen im Hintergrund. Ich hätte die Prinzessin umbringen können …

VERSAGEN

Heute liebe ich Sprachen. Neben Englisch, Französisch und etwas Spanisch habe ich mich auch an Ägyptisch-Arabisch und Mandarin gewagt. Doch damals, in der Schule, hasste ich Französisch. Ich war einfach nicht fähig, mir die Worte zu merken. Und die Texte auf Tonband, die uns der Lehrer gerne abspielte, waren für mich eine undefinierbare Aneinanderreihung von nasalen Silben, die ich nicht entwirren konnte. Hinzu kam meine Schüchternheit.

An ein Ereignis kann ich mich erinnern, als wäre es gestern geschehen. Der Lehrer hatte wieder einmal eines seiner Tonbänder abgespielt und stellte danach Fragen zum Text. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es in dem Text ging, und verstand auch die Frage des Lehrers nicht. Als er mich aufrief, geriet ich in Panik, wollte etwas stammeln, verschluckte mich und bekam den Hustenanfall meines Lebens. Der Lehrer meinte – auf Deutsch, damit ich es ja verstand –, das sei auch eine Möglichkeit, sich vor der Antwort zu drücken. Alle lachten und ich hätte in den Boden versinken können.

WUT

Wut ist etwas, das ich fast nicht kenne. Ich bin sehr beherrscht und es braucht einen wirklich triftigen Grund, um mich wütend zu machen. Ich glaube, das ist in meinem Leben erst dreimal geschehen.

Das erste Mal passierte es in Bern. Damals war ich etwa sechzehn. Ich war mit meiner Freundin an einem Eishockeymatch. Es spielte der SC Bern gegen den HC Ambri-Piotta. «Mein Club» Ambri hatte verloren. Kann passieren. Wir machten uns auf den Weg aus dem Stadion zum Bahnhof. Ich trug ein Ambri-Shirt, das mich damals ein halbes Vermögen gekostet hatte, über meine Schultern geknotet und einen blau-weißen Schal, den ich selber gestrickt hatte. Es hatte den ganzen Abend geregnet und der Parkplatz, den wir überqueren mussten, war voller Pfützen.

Plötzlich packte mich jemand von hinten, zerrte an meinem Ambri-Shirt und warf mich zu Boden. Ich landete in einer Pfütze neben einem Auto. Der Kerl riss mir das Shirt ab, johlte, als hätte er eine Nation erobert, und rannte dann mit seinen Kumpels und der Siegertrophäe davon.

Ich stand auf, pflotschnass, und starrte in das bleiche Gesicht meiner Freundin. Die Zeit schien sich wie in Zeitlupentempo zu bewegen. Ich drehte mich um und sah der Horde junger Männer hinterher, die mein Shirt wie eine Flagge über ihren Köpfen schwangen.

Und dann kam die Wut. Ich explodierte regelrecht, fühlte nichts als pure, reine Wut über diese hinterhältige Tat. Ich rannte los und wollte diese Kerle um jeden Preis kriegen und windelweich prügeln. Ich musste mein Shirt zurückerobern! Es war mir egal, ob ich es überleben würde.

Dumm nur – oder zum Glück, würde ich heute sagen – waren so viele Fans auf dem Parkplatz unterwegs, dass ich die Gruppe rasch aus den Augen verlor.

Eine geschlagene Stunde irrte ich mit geballten Fäusten kreuz und quer über den Parkplatz, auf der Suche nach dem Mann, der es gewagt hatte, mich zu erniedrigen. Meine Freundin drängte mich, aufzugeben, das sei zu gefährlich, ich hätte keine Chance gegen die Typen. Es war mir egal. Ich führte mich auf wie eine Furie, ein Charakterzug, den ich bisher nicht an mir kannte.

Ich fand den Kerl nie. Doch noch heute verspüre ich diese Wut und würde ihm wohl noch immer die Augen auskratzen. (Sollte er heute diese Zeilen lesen, er sei gewarnt …)

Diese Liste der eigenen Gefühlserfahrungen kann man fast endlos fortsetzen. Zum einen ist sie eine gute Übung, sich einen Schreibrhythmus anzulegen, zum anderen hat man danach seinen Schatz der Gefühle griffbereit, sollte man beim Schreiben bei einer Szene stocken.

Hier eine Auswahl an weiteren Gefühlen:

Eifersucht, Einsamkeit, Ekel, Freude, Frust, Geborgenheit, Glück, Hass, Hoffnungslosigkeit, Kummer, Lebensgefahr, Leiden, Liebe, Panik, Schmerz, Stärke, Stolz, Trauer, Überraschung, Ungerechtigkeit, Verlust, Verzweiflung, Wut.

Dieser Ordner bleibt natürlich nicht statisch im Regal liegen. Jährlich kommen neue Erfahrungen, Gefühle und Erlebnisse dazu. Und nicht selten liefern mir diese kurzen Geschichten Ideen für eine Szene in einem neuen Buch. Und wer weiß, vielleicht lasse ich mir diese Sammlung einmal als meine Memoiren drucken und schenke sie meinen Enkeln zu Weihnachten.

Businessplan Mord

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