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1.6 Behindert sein und behindert werden

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Die traditionellen Behinderungsbegriffe beschreiben Defizite, die alleine dem Kind oder Jugendlichen zugeschrieben werden. Aber wie bereits erwähnt, lassen sich aus Störungen keine Bildungsprogramme ableiten, und für Lehrpersonen ist es viel wichtiger, ihre spezifischen Auswirkungen auf Bildungsprozesse zu kennen. Der mehrdimensionale und umweltbezogene Behinderungsbegriff, welchen die WHO mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) etabliert hat, bildet eine Brücke zwischen Störungen und Kompetenzen sowie zwischen Behindertsein und Behindertwerden. Das vorliegende Fachbuch für die Praxis leistet sowohl einen Beitrag zur Verminderung der Auswirkungen von Dyslexie oder Dyskalkulie auf Lern- und Entwicklungsprozesse des Jugendlichen als auch zur Verhinderung von Benachteiligungen und Diskriminierungen im schulischen Umfeld. Zur Sicherung der Partizipation in höheren Ausbildungsgängen braucht es beides: die individuelle Förderung und Unterstützung sowie die optimale Gestaltung der Umwelt und das Entfernen von Barrieren.

Bezüglich der Anteile des «Behindertseins» hat die Gesellschaft primär ihren Förder- und ­Sorgeauftrag wahrzunehmen und, wie eingangs geschildert, die bestmögliche Qualifizierung gemäss den Talenten, Fähigkeiten und Neigungen des Jugendlichen oder der jungen Erwachsenen zu sichern. Bezüglich Lernbegleitung sollen grundsätzlich alle Erleichterungen und unterschiedliche Zugänge zum Lerninhalt zugelassen und aktiv unterstützt und gefordert werden. Dies betrifft auch Anpassungen im Unterricht und am Arbeitsplatz, Erleichterungen bei Arbeiten und Lernzielüberprüfungen. Erprobte und bewährte Unterstützungsmöglichkeiten werden in Kapitel 4 vorgestellt. Grundsätzlich gilt hier: Im Zweifelsfall immer für die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Anders ist es bei der Zertifizierung von Kompetenzen; da muss ausgewiesen werden, dass die für die Ausübung eines Berufs notwendigen Fähigkeiten erworben worden sind. Hier hat das Bildungssystem seine Allokationsfunktion wahrzunehmen. Wenn also Lese- und Schreibkompetenzen das Herzstück eines Berufs sind, wird es schwierig, das behinderungsbedingte Defizit von den für den Beruf erforderlichen Kompetenzen zu unterscheiden. So ist Lektorin oder Lektor kaum ein geeignetes Berufsziel für Jugendliche mit Dyslexie.

Bezüglich «Behindertwerden» besteht der Auftrag der Gesellschaft darin, Benachteiligungen auszugleichen und Diskriminierungen zu verhindern. Die in dem vorliegenden Fachbuch dargelegten rechtlichen Grundlagen der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie und Dyskalkulie sind in diesem Zusammenhang von grosser Bedeutung. Die heutigen Zulassungspraktiken, etwa an Hochschulen, zeugen leider noch von einem geringen diesbezüglichen Problemverständnis. Dies zeigte eine Befragung bei den Hochschulen, bei welchen Behinderungen sie Maturanden von einem Studium abraten würden. Bei Blindheit und Gehörlosigkeit lag dieser Anteil bei rund 50 Prozent, während nur rund 25 Prozent der Hochschulen nicht von einem Studium abraten würden. Bei «Legasthenie» lag der Anteil der Hochschulen, welche von einem Studium abraten würden, bei 12 Prozent.23 Oft wird bei der Zulassung zum Studium mit der nachfolgenden Berufsausübung argumentiert; obwohl auch nicht behinderte Studierende teilweise nach dem Studium ein anderes Tätigkeitsfeld wählen und ein Hochschulstudium ein Wert in sich darstellt. Wenn eine Maturandin mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten alleine deswegen nicht zum Medizinstudium zugelassen wird, weil sie als Ärztin Buchstaben und Zahlen auf Rezepten verwechseln könnte, ist dies diskriminierend. Denn ein Medizinstudium eröffnet auch Berufsfelder und Tätigkeiten, wo keine Rezepte ausgestellt werden müssen.

Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen24 fordert deshalb, dass «Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner tertiärer Bildung, Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben» (Artikel 24, letzter Abschnitt). Es ist zu hoffen, dass die Schweiz in den nächsten Jahren mit allen anderen europäischen Staaten gleichzieht und diese Konvention ebenfalls unterzeichnet und ratifiziert. Sie bietet einen willkommenen Anlass, um einen schon lange überfälligen öffentlichen Diskurs zu initiieren zu Fragen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit in Bildungskontexten.

Judith Hollenweger leitet den Leistungsschwerpunkt Inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Sie ist promovierte Sonderpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet zu Fragen in den Bereichen Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, Diversität, Qualitätsindikatoren und Steuerung von Bildungssystemen. Sie vertritt die Schweiz im «Representative Board» der «European Agency for the Development of Special Needs Education» und ist Mitglied der «Functioning and Disability Reference Group» zur Weiterentwicklung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation. Gegenwärtig ist sie beteiligt an der Erarbeitung eines standardisierten Abklärungsverfahrens für die Ermittlung des individuellen Bedarfs, das anstelle der bisherigen Kriterien der Invalidenversicherung die Verteilung von sonderpädagogischen Ressourcen steuern soll.

Dyslexie, Dyskalkulie

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