Читать книгу Dyslexie, Dyskalkulie - Monika Müller Freunek - Страница 7
1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
ОглавлениеMit dem Abschluss der Volksschule treffen Entscheidungen zur weiteren Ausbildung mit Fragen zur Berufswahl zusammen. Die Allokationsfunktion des Bildungssystems konkretisiert sich beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II und hinterlässt Spuren für das ganze Leben. Mit der Berufswahl und dem Suchen einer Lehrstelle oder dem Übertritt in eine Mittelschule werden wichtige Weichen gestellt für die spätere Berufsausübung. Da die berufliche Stellung heute zentral ist für die Lebensführung, ist sie gleichzeitig auch ein wichtiges Instrument für die Lebensplanung.12 Es ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren genau bewirken, dass junge Menschen mit Behinderungen häufiger bei diesen Übergängen scheitern. Die verfügbaren Daten im europäischen Vergleich13 weisen auf tiefere Abschlussquoten auf der Sekundarstufe II und eine Überrepräsentation in berufsbildenden Angeboten mit tiefen Qualifikationsansprüchen aus. Auf der Grundlage verfügbarer Daten ist es aber nicht möglich, generalisierte Aussagen zur Bedeutung bestimmter Störungsbilder, wie etwa Dyslexie oder Dyskalkulie, auf die schulische und berufliche Laufbahn zu machen.
In der Schweiz wächst erst langsam das Bewusstsein, dass das Regelsystem des Bildungswesens Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Behinderung systematisch benachteiligen könnte. Bisher hat sich der Diskurs eher auf Fragen der sozialen Selektivität des Bildungssystems konzentriert.14 Die Sonderpädagogik konzentriert sich vorwiegend auf Fragen zur besonderen Unterstützung und Förderung und beschäftigt sich gemäss eher gesellschaftskritischen Autoren15 zu wenig mit Diskriminierungsprozessen der Schule. Da Förderentscheide immer Folgen einer Identifikation aufgrund eines Defizits sind und Betroffene gesonderten Massnahmen zuführen, können auch diese benachteiligend wirken. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Identifizierung als «behindert» dazu führt, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen haben,16 was sich insbesondere bei Laufbahnentscheiden negativ auswirken kann. Förderentscheide zugunsten einer Sonderschulung sind gleichzeitig Laufbahnentscheide, die oft den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen verbauen.17
Bedingt durch die lange Tradition der gesonderten Förderung, die aus dem Regelunterricht ausgelagert wird, ist das reguläre Bildungssystem ungeübt im Umgang mit Behinderungen. Ohne gute Koordination verschiedener Dienstleistungen und ohne eine Begleitung im Übergang zur Berufsausbildung oder zu weiterführenden Schulen kann es so leicht zu Überforderungssituationen kommen. Welche Unterstützungen und Anpassungen wie angeboten werden, hängt dann oft von einzelnen Personen ab. Eine fehlende rechtliche Absicherung und somit eine grosse Abhängigkeit vom Wohlwollen der Entscheidungsträger muss als problematisch eingeschätzt werden.18 In den letzten Jahren wurden durch das in der Bundesverfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot und den gesetzlichen Auftrag zur Beseitigung der Benachteiligung von Behinderten zwar die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen, doch fehlt es noch an einer breiten Umsetzung durch eine entsprechende Rechtsprechung. Der Beitrag von Hördegen und Richli im dritten Kapitel dieses Buches ist unter dieser Perspektive von grosser Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den kommenden Jahren vermehrt in der schulischen Zuweisungs- und Prüfungspraxis berücksichtigt werden.
Der Umgang mit Behinderungen ist in Bildungssystemen auch deshalb so schwierig, weil sich je nach Schädigung und deren Ausprägung andere Fragen stellen – sowohl bezüglich Förderung als auch bei Entscheidungen zur schulischen und beruflichen Laufbahn. Obwohl die Wissensbestände sowohl zu Förder- und Unterstützungsmassnahmen als auch zu Nachteilsausgleich und Gleichstellungsmassnahmen heute gross sind, muss sich auf diesen Grundlagen erst eine gemeinsame Praxis entwickeln, bevor sich die Situation der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich verbessert.
Professionell durchgeführte Bedarfsabklärungen und «Massnahmen am Individuum» genügen hier nicht, um diskriminierende Bildungsentscheide zu vermeiden. Die Anforderungen, welche Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe an Jugendliche und junge Erwachsene stellen, müssen systematisch mit ihren behinderungsbedingten Lernvoraussetzungen verglichen werden können. Erst auf dieser Grundlage kann abgeschätzt werden, wo Unterstützung des Betroffenen und wo Adaptationen bei den Vorgaben oder Angeboten des Ausbildungsgangs angesagt sind. Damit diese Analyse gelingen kann, gilt es als Erstes zu sichern, dass ein gemeinsames, für Bildungssysteme nützliches Verständnis von Behinderungen aufgebaut werden kann, das sowohl für die Betroffenen selbst, für Personen in den Ausbildungsgängen als auch für Spezialistinnen und Spezialisten relevant ist. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Etablierung eines konstruktiven Diskurses über Aufgaben, Verantwortung und Entwicklungsbedarf des Bildungssystems. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Frage nach einem adäquaten Verständnis von «Behinderungen» nachgegangen werden.