Читать книгу Rosmarie Michel - Leadership mit Bodenhaftung - Monique R. Siegel - Страница 4
Prolog: Warum nicht die Taube auf dem Dach?
ОглавлениеWas für ein fulminantes Debüt! Trudy Michel-Schurter, No-Nonsense-Mutter und Geschäftsfrau von Kopf bis Fuss, steht bis zur letzten Stunde hinter dem Ladentisch. Als die Wehen einsetzen, kann der begreiflicherweise nervöse Vater gerade noch rechtzeitig die Ambulanz rufen, die innerhalb von Minuten vor dem Haus am Eingang der Zürcher Altstadt, dem Niederdorf, vorfährt. Die werdende Mutter steigt hinten ein, der Wagen wird vorne gestartet und fährt los – mit einer weissen Taube auf dem Dach, die sich dort oben niedergelassen hat!
Symbolisch? Wofür? Sicher nicht für Frieden zu jedem Preis, denn das kleine Mädchen, das da ziemlich schnell zur Welt kommt, wird zeit ihres Lebens eine lustvolle Streiterin sein, wenn es um eine Sache geht, für die sie sich engagiert – darin ganz Tochter ihrer Mutter. Wenn wir hier schon Symbolik bemühen möchten, dann trifft das eher auf das Sternzeichen zu: Sie hat den Löwen nie verleugnen können – besonders auch die diesem Sternzeichen zugeschriebene Grosszügigkeit im Denken wie im Handeln – und lustvoll hie und da die Widerspenstigkeit ihres Aszendenten, Widder, an den Tag gelegt.
Wahrscheinlich war die Taube so verstört, dass sie das rechtzeitige Abheben verpasst hat, denn als der Krankenwagen an der Pflegerinnenschule 1 vorfährt, ist sie immer noch da; sie hat die Schwangere, die in ein paar Minuten bereits die Gebärende sein wird, auf dem Dach der Ambulanz auf deren eiligem Weg begleitet. Die Zeit reicht gerade noch für die Ankunft im Gebärsaal: Als der Arzt eintrifft, ist das kleine Mädchen schon da. Erwünscht, erwartet, ersehnt. Rosmarie Louise Michel hatte es eilig, auf die Welt zu kommen – vielleicht ein erstes Zeichen ihrer Entscheidungsfreude oder der Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer? Wer möchte schon später hören, wie sehr die Mutter bei der Entbindung gelitten hat ...?! Was für ein Erstauftritt in der gutbürgerlichen Welt eines Zürich in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts! Sie wird später um einiges zurückhaltender sein.
Die Mutter kommt schnell wieder nach Hause – so schnell, dass die Tochter ihr Leben lang über das Haus ihrer Familie sagen wird: «Ich bin in diesem Haus geboren und aufgewachsen!»
Lassen wir ihr die kleine Übertreibung, denn selten hat sich ein Mensch so mit einem Haus identifiziert wie Rosmarie Michel mit ihrem. Das 500-jährige Haus heisst von alters her «Zur Sempacher Hellbard», und man tut gut daran, sich an diesen Namen zu erinnern, besonders wenn sie etwas verteidigen muss – wie zum Beispiel die Seele dieses Hauses. Es ist «ihr» Haus, und es ist eine fast symbiotische Beziehung geworden.
In diesem Haus, eingebettet in eine Grossfamilie, die aus Vater, Mutter und dem drei Jahre älteren Bruder sowie anderthalb Dutzend Angestellten besteht, wächst eine Frau heran, der das Wort Leadership auf den Leib geschrieben ist. Wie wird man eine der einflussreichsten Frauen der Schweizer Wirtschaft? Wie kommt man zu aussagekräftigen Verwaltungsratsmandaten – solchen, in denen man etwas bewirken kann –, wo man oft die erste Frau ist und die einzige bleiben wird? Wie wird man zur Präsidentin eines wichtigen internationalen Verbands für berufstätige Frauen gewählt? Sie würde auf diese Fragen immer dieselbe Antwort geben: Nicht, indem man solche Fragen stellt! «Ich habe mich nie um einen Posten beworben», stellt sie nüchtern fest, wenn man sie zu den vielfältigen Tätigkeiten ihrer überaus erfolgreichen langjährigen Berufslaufbahn interviewt. Und sie hat schon gar nicht irgendjemanden gefragt, wie man etwas Bestimmtes wird. Sie hat einfach etwas gemacht, eine Leistung erbracht, die anderen nicht verborgen geblieben ist, und ist danach für eine bestimmte Tätigkeit angefragt worden.
Dann aber, wenn sie für eine Funktion, Position, Tätigkeit ausgewählt worden war, hat sie sich viel zugetraut, keine Arbeit gescheut und freudig entschieden. Später wird sie nicht, wie so viele erfolgreiche Frauen, dieses «Ich hatte einfach Glück»-Gefasel hervorholen, sondern stattdessen über Fehler und Lernprozesse sprechen, über Lösungsorientierung und vor allem – ein Schlüsselwort in ihrem Leben – über Verantwortung. Und bald schon wird den Fragenden klar, dass hier kein Wunder geschehen ist und auch keine Alibifrau in Positionen gehievt wurde, die eine Nummer zu gross waren, sondern eine willensstarke, fähige Frau dort eingestiegen ist, wo sie mit ihren Talenten und Neigungen sowie einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein etwas bewirken konnte. Wen wundert’s dann noch, dass sie sich so bewährt hat?
Was Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf den folgenden Seiten finden, ist keine Biografie einer erfolgreichen Führungsfrau, sondern ein Buch zum (fast schon zerredeten) Thema «Leadership». Ob als Unternehmerin, Verwaltungsrätin oder Verbandspräsidentin: Rosmarie Michel hat die Führung übernommen. «Natürliche Autorität» nennt man so etwas, und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen haben sie um dieses Attribut beneidet, ohne zu realisieren, dass die Bürde ihrer Ämter und Funktionen deren Würde oft überstieg. Autorität, wenn sie nicht angemasst ist, hat etwas zu tun mit Autonomie und Authentizität, Selbstbewusstsein und Selbstbescheidung, und wer Visionen umsetzen will, muss den Balanceakt zwischen Gipfelbesteigung und Bodenhaftung vollbringen. Leadership fordert viel:
Menschen gemäss ihren Fähigkeiten einzusetzen und dazu zu bringen, über sich selbst hinauszuwachsen,
Begeisterung und die Fähigkeit, dieses Gefühl zu kommunizieren,
Glaubwürdigkeit und die Bereitschaft, zu gemachten Fehlern zu stehen,
Humor und die Selbstironie, die es braucht, wenn man sich und seine Erfolge nicht so wichtig nimmt,
vor allem aber: Kommunikationsfähigkeit und Freude am Erreichen von Zielen mit anderen.
Es hat Rosmarie Michel bei ihren diversen Tätigkeiten nicht geschadet, dass sie in der Lage ist, sich in mehreren Sprachen hervorragend auszudrücken, einen fast mädchenhaften Charme hervorzaubern kann und eine faszinierende Erzählerin ist – von erfundenen wie von erlebten Geschichten. Erlebt hat sie, weiss der Himmel, genug, um mehrere Bücher zu füllen, und einiges davon findet sich auf den folgenden Seiten, zum grössten Teil im Originalton – kursiv gesetzt –, denn niemand erzählt diese G’schichtli, wie sie sie nennt, besser als sie selbst.
Es ist denn auch dieses Talent, das zu dem vorliegenden Buch geführt hat. Wie oft haben faszinierte, amüsierte Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende eines Abends gefragt: «Warum schreiben Sie diese Geschichten nicht einmal auf?» Das würde ihr jedoch nicht im Traum einfallen. Dann hat man sich häufig an mich gewandt, wenn ich auch anwesend war, und fast vorwurfsvoll gesagt: «Sie sollten mal die Biografie von Frau Michel schreiben!», was nun wiederum mir nicht im Traum eingefallen wäre: Man schreibt keine Biografie über die beste Freundin! Erst als mir bewusst wurde, was sie als Mentorin, als Beispiel einer erfolgreichen Unternehmerin und integren Wirtschaftspersönlichkeit zum Thema «Leadership» – ein Bereich, mit dem ich mich seit Jahren publizistisch beschäftige – vermitteln kann, ist dann eine zweifache Bereitschaft herangereift, dieses Buch in Angriff zu nehmen – bei der Interviewten die Bereitschaft, Persönliches preiszugeben, und bei der Interviewerin, das Gehörte in lesbarer Form zu Papier zu bringen. Dazu gab es hier wiederum eine Gelegenheit, Einblicke in das Zürcher Wirtschaftsgeschehen zu vermitteln – auf gewerblicher Basis und aus Zeiten, in denen nicht nur von Konzernen, Fusionen und Managerlöhnen die Rede war.
Als dieses Buch in Arbeit war, ist die Frau, die Leadership so überzeugend praktiziert hat, 75 Jahre alt geworden. Kurz vor ihrem Geburtstag hat sie das ererbte Geschäft mangels Familienmitgliedern, die sich für eine Fortführung interessiert hätten, an ein Unternehmen ihrer Wahl übergeben können und damit eine Familientradition von 137 Jahren zufriedenstellend beendet – mit Herzblut, ja, aber auch mit dem ihr eigenen Pragmatismus: Die Confiserie Schurter, berühmt für ihre Zürcher Spezialitäten, und das dazugehörige Café werden weiterleben, auch ohne ein Mitglied der Gründerfamilie ...
«Können Sie jetzt Ihren Ruhestand geniessen?», wird die überaus lebendige, agile und beruflich immer noch sehr aktive Zürcherin von Bekannten nun oft gefragt. «Ja», sagt sie dann trocken, «jetzt, wo ich mein Pensum auf 100 Prozent reduzieren konnte.» Wie die 75 Jahre davor ausgesehen haben für die Tochter einer Geschäftsfrau und eines Hoteliers, die 1931 in gutbürgerlichem Zürcher Umfeld das Licht der Welt erblickt und später ein Wirkungsfeld auf internationalem Parkett findet – das ist der Inhalt der folgenden Seiten.