Читать книгу Narben - Morten Makolje - Страница 7
4. Die Videos
ОглавлениеAm nächsten Tag – es war Mittag als ich mich endlich aufraffen konnte – fand ich vor der Bürotür ein Paket. Es hatte die Größe von zehn Videokassetten, enthielt einen Zettel von Lou – „Schau sie dir an, wenn du Zeit hast.“ – und zehn Videokassetten.
„Falls oder wenn?“, fragte ich mich und sagte mir, daß es auf das gleiche hinauslaufen würde, vielleicht sogar dasselbe.
Auf acht der Kassetten waren jeweils zwei Titel vermerkt, auf zwei Kassetten jeweils nur einer: Grenzgänger, Kuscheltiere, Der unsichtbare Gegner, Der Fall Schimanski, Schwarzes Wochenende, Freunde, Spielverderber, Gebrochene Blüten, Einzelhaft, Rechnung ohne Wirt, Duisburg-Ruhrort, Zahn um Zahn, Miriam, Kielwasser, Der Pott, Katjas Schweigen, Die Schwadron, Hart am Limit.
Ich erinnerte mich daran, daß einige Folgen Andeutungen auf frühere Folgen enthielten, die Reihenfolge, in der ich die Filme gucken würde, also vielleicht von Bedeutung war, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich hatten die Filme überhaupt keine Bedeutung, jedenfalls nicht für diese Geschichte, egal in welcher Reihenfolge man sie sehen würde.
Ich vermißte Das Mädchen auf der Treppe und wußte somit, daß die Sammlung nicht vollständig war. Der Fall Schimanski war der letzte in der Tatort-Reihe, Die Schwadron bereits der erste in der eigenständigen Serie. Duisburg-Ruhrort mußte eigentlich der erste sein. Deswegen nahm ich diese Kassette, steckte sie in den Videorekorder und machte den Fernseher an.
Duisburg-Ruhrort. In der rechten oberen Ecke stand WDR, Leader of the Pack leierte mehr als üblich.
Die wievielte Kopiengeneration dies wohl war?
Schimanski räumte die Reste der letzten versoffenen Nacht weg. Die Jacke war zum ersten Mal zu sehen. Ein Typ schmiß einen Fernseher aus dem Fenster. „Dieses scheiß Fernsehen taugt eh nichts.“ Schimanski ging in die Kneipe „Bierquelle“, aß was, rief im Büro an, um zu sagen wo er steckte, mußte aber zu seinem Bedauern zu einem Einsatz. Ein Wagen holte ihn ab. Es war dunkel. Ein Toter auf einem Schiff. Thanner war schon da, redete französisch mit einem Zeugen. Am nächsten Morgen. Treffen bei Königsberg („Klops“), Schimanskis Chef. Schimanski hieß Horst. Es gab eine Serie von Brandstiftungen. Schimanski ging zur Wohnung des Toten.
Was sollte das alles? Trotz des Fernsehers gab mir das alles nichts. Außerdem machte es keinen Spaß Schimanski zu gucken, wenn es Arbeit bedeutete.
Alles sah zunächst nach einem Eifersuchtsdrama aus. Alles soff, betrog und prügelte sich, alles irgendwie halt das typische Milieu, aber Schimanski wäre nicht Schimanski, wenn er an eine so einfache Lösung glauben würde. Außerdem war der Film erst eine halbe Stunde alt.
Es kamen immer interessantere Drogen ins Spiel, nach Alk kam Hasch. Thanner war verheiratet und hieß Christian. Meistens wachte Schimanski nicht in seinem Bett auf. Schimanski hatte wahrscheinlich kein eigenes Auto, fuhr Bus. Vielleicht hatte er es verspielt.
Eine zweite Leiche kam dazu.
Draußen regnete es, genauso wie im Film. Fürchterlich.
Waffenschmuggel kam auch noch dazu. Am Ende paßten alle Geschichten natürlich irgendwie zusammen
Es war ein typischer Schimanski, wenig spektakulär, sondern eher ein Hauch Authentizität.
Ich machte ein Nickerchen und guckte mir noch drei andere Folgen an, ohne Folgen für mich, kein Erkenntnisgewinn, aber auch keine blauen Flecke, Kater oder Liebschaften. Der Tag vor der Glotze war also relativ gesund. Das Schwarze Wochenende gefiel mir ziemlich gut, für einen deutschen Fernsehfilm sogar sehr gut. Es passierte viel, es gab viele Dialoge, viele Tote, viele Geschichten, alles hatte mit allem zu tun. Trotz Explosionen und allem drum und dran wurde die Handlung dezent in Szene gesetzt – keine Hollywoodübertreibungen –, alles wirkte im besten Sinne bescheiden und doch handwerklich sehr gekonnt. Und im Gegensatz zu anderen Folgen gab es auch keine unangenehm auffällige Musik. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, eine versteckte Botschaft oder einfach nur belanglos, aber in dieser Folge mußte Schimanski für eine halbe Filmstunde auf seine Jacke verzichten, die blutbeschmiert in der Reinigung war. Die Jeansjacke, die er in der Zwischenzeit anhatte, sah absolut peinlich aus. Vielleicht sollte das die Häßlichkeit der normalen Schimanskijacke relativieren.
Ich machte mich auf den Weg nach Hause, wußte aber nicht, was ich da tun sollte, außer dem üblichen.
Saufen konnte ich auch woanders, vielleicht sogar das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Ich erinnerte mich noch vage an die Gegend, in der die Zwischenwelt lag, fuhr mit der U-Bahn dorthin und klapperte ein paar Straßen ab, alles noch in den 80ern steckengeblieben, das ganze neue, coole Zeug war woanders, aber hier kümmerte das niemanden. Als Zeiten aufzogen, in denen man nach dem Öffnen einer Getränkedose nur ein Teil in der Hand hatte, hatten sich die Leute hier wahrscheinlich einfach dem Fortschritt verweigert.
Die Zwischenwelt war in einem Haus, in dem ich eigentlich eine andere Kneipe erwartet hatte. Vielleicht war die Zwischenwelt auch die Kneipe, die ich dort erwartet hatte, nur, daß... Vielleicht bekam ich da einfach zwei Sachen nicht zusammen, wäre eigentlich typisch gewesen.
Es war laut, voll und stickig, der ideale Platz um seine Ruhe zu haben. Ich ging an die Bar – E. V. war nicht zu sehen – kaufte mir eine Flasche von meinem Lieblingsbier, ein echter Bestseller und ein Getränk, bei dem ich wußte wieviel ich vertragen würde. Ich machte eine Runde in der Kneipe, in der die Leute eher standen als saßen. Sie standen an Tischen, Billards, Flippern, dem sehr langen Tresen oder liefen wie ich auf der Suche nach was auch immer durch die verwinkelten Räumlichkeiten. Ich sah niemanden, den ich kannte, und orientierte mich, den Getränkevorrat im Auge behaltend, wieder Richtung Tresen, winkte den Typen heran.
„E. V. nicht da?“
„Nee, hat heute keinen Dienst.“
„Ah!“
„Wer bist denn du?“
„Ach, nur ein Freund.“
„Was denn für ein Freund?“
„Tja, schwer zu erklären.“
„So eine Art Freund, bei dem man noch gar nicht genau weiß, was für ein Freund das werden wird?“
„Ganz gut getroffen, ja. Ich wollte eigentlich nur das Nützliche...“
„... mit dem Angenehmen verbinden. Heißt das aber nicht eigentlich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?“
„Cha, aber da das hier“, ich zeigte auf die Flasche, „das Nützliche ist...“
„Verstehe.“ Ich wußte nicht, ob er das wirklich tat, denn selbst ich wußte nicht was was war, wo oben und unten, was richtig und falsch, was logisch und irrsinnig war und warum ich überhaupt hier war, hier in der Zwischenwelt und in dieser Welt überhaupt. Hatte das mit dem Auftrag zu tun? Wollte ich wissen, woher ich sie kannte? Oder mochte ich sie vielleicht einfach nur, war wegen ihr hier? Steckt irgendein Plan, ausgeheckt von wem auch immer, dahinter?
Eins war sicher: Bier konnte nützlich sein.
„Gibst du mir noch etwas Nützliches.“
„Klar. Tut mir ja leid, daß sie nicht da ist.“ Er machte eine Pause. „Kassieren muß ich leider auch von dir, wir geben Freidrinks höchstens an die eigenen Freunde aus.“
„Oh ja, sorry war nicht meine Absicht, hab es einfach vergessen, war irgendwie abgedriftet.“
„Sonst würden wir nämlich gar nichts mehr einnehmen.“
„Schon klar, sorry.“
Ich nahm mein Bier und verließ den Platz dieser Peinlichkeit.
„Sssst“, machte er noch hinter mir. „Ist morgen wieder da.“ Er zwinkerte mir zu. Ich hob die Flasche zum Gruß.
Ich schnappte mir einen einsamen Hocker und hockte mich – was sonst? – drauf. Der Fernseher, auf dem MTV lief, hing fast über mir. Ich mußte meinen Kopf in den Nacken legen, um etwas sehen zu können. Es war beschämend. Und der Ton war kaum zu hören. Auch das war beschämend. Musik, wenn man sie denn hören kann, mit bewegten Bildern mag unter Umständen unterhaltsam sein, in der Regel ist es nicht mehr als Werbung und bestenfalls langweilig. Okay, Peter Gabriels Sledgehammer war beim ersten Gucken noch in Ordnung, vielleicht auch noch beim zweiten Mal. Dann wurde es langweilig und spätestens wenn man das Video sechsmal gesehen hatte, packte man auch die Platte nicht mehr an, höchstens um Mercy Street zu spielen. ‚Old Man Down The Road’ von John Fogerty war ein gutes Video, das würde ich gern noch einmal sehen. Aber das ist jetzt auch schon ein paar Jahre alt und bestimmt in irgendwelchen Archiven verstaubt, an die sich niemand mehr erinnern kann. Wenn ich das Thema nicht mit mir selbst, sondern mit mindestens einer anderen Person erörtern würde, dann würde spätestens jetzt Thriller von Michael Jackson in die Runde geschmissen werden. Gut, daß da niemand außer mir ist, der mitdiskutiert, denn sonst würde ich bestimmt mal wieder ausrasten. Nur weil das Ding in eine Rahmenhandlung eingebettet ist, ist es noch lange kein gutes Video. Das ist doch nur Blabla. Und wer darauf reinfällt ist auch nur blabla. Wenn überhaupt etwas an dem Video interessant ist, dann ist es das Prophetische. Michael Jackson als Zombie, Werwolf oder was auch immer, das hatte schon was.
„Und? Bist du glücklich?“, wurde ich plötzlich von einer Frau gefragt.
„Was? Hä?“
„Bist du glücklich?“
„Seh ich so aus?“
„Nö, deshalb frag ich ja.“
„Hä, kapier ich nicht. Wenn man mir mein Nicht-Glücklich-Sein ansieht, wieso fragst du dann?“
„Nun werd doch nicht gleich so. Ich wollte doch nur nett sein. Außerdem ist das nur mein Job?“
„Psychologin oder Pastorin?“
„Kellnerin! Und deine Flasche ist leer. Ich wollte einfach nur wissen, ob ich dir ein Bier bringen soll.“
„Äh, ist hier nicht Selbstbedienung?“
„Doch, aber ich kam gerade vom Klo, sah dich, wie du versuchtest, noch einen Tropfen aus der leeren Flasche zu bekommen und dabei wie gebannt auf den Fernseher starrtest.“
„Taugt eh nichts.“
„Mag sein… Und wie isses? Noch ’n Bier?“
„Gern.“
Sie nahm meine leere Flasche und ging. Mußte ich mir jetzt ein Gesprächsthema ausdenken? Wollte ich mich überhaupt unterhalten? Eigentlich nicht, aber schließlich gehörte das auch zu meinem Beruf, schließlich war ich bezahlter Schnüffler. Bezahlt? Hm, ich hatte noch gar kein Geld gesehen. Warum vergaß ich immer nur das Wichtigste. Job? Geld! Job? Geld! Job? Geld! So sollte es wenigstens sein: Man macht den Job, um Geld zu verdienen. Und wenn man kein Geld verdient, dann sollte der Job einem wenigsten Spaß machen. Ha, Spaß!? Dieser Job? Ich wurde immer nur von einem Schlamassel zum nächsten geschoben, getreten, gezogen, was auch immer. Wäre die Kellnerin Psychologin gewesen, dann hätte sie mir vermutlich erklären können, warum ich den Scheiß mitmachte. Vielleicht auch, wenn sie Pastorin gewesen wäre. Ich wäre ja schon froh, wenn sie mir einen Tip hätte geben können, was der ganze Mist mit dem Fernsehen sollte, nicht im Allgemeinen – das wird nie jemand erklären können –, sondern im Speziellen diese Geschichte mit den Fernsehkrimis, Lou, Hermann und… E. V.
Ein Typ kam in die Kneipe, den ich mal, kurz bevor er mit seiner hitparadentauglichen Pseudo-Punk-Musik ein kleines bißchen Ruhm abbekam, im Auftrag seiner Eltern suchen sollte. Er nannte sich Tanker Dorsten. Der Name war nicht toll, aber besser als seine Musik. Über den Namen konnte man wenigsten dreißig bis vierzig Sekunden lang nachdenken, die Musik konnte man nur ganz schnell wegdenken. Insgesamt ein Fall zum Vergessen.
„Na, übers Fernsehen nachgedacht?“
Sie war wieder da, gab mir ein Bier und hatte sich auch eins mitgebracht.
„Ach, das lohnt doch eigentlich gar nicht.“
„Dann laß es doch.“
„Hm, ja, aber manchmal lernt man ja auch was.“
„Echt? Was?
„Mußt du eigentlich gar nicht Arbeiten?“
„Doch, aber… Erzähl, was kann man aus dem Fernsehen lernen?“
„Das Fernsehen scheint mir ein Spiegel der Welt zu sein.“
„Mann, das klingt ja ganz schon abgedroschen.“
„Ja, stimmt. Vielleicht ist das Fernsehen ja doch nur ein Dummacher und bei mir hat’s schon gewirkt… Und bei irgendeinem Teenager auch. Die Geschichte fällt mir gerade ein, wegen dumm machen und MTV. Ich lag halb benommen auf meinem Sofa – hab vergessen warum, vermutlich das übliche – und hatte keine Lust oder Energie irgendwas zu tun und zappte durch die Programme. Bei MTV blieb ich irgendwie hängen. Ich glaube, weil dasselbe Video nur um ein paar Sekunden zeitversetzt auch auf einem anderen Sender lief und ich das seltsam fand. Ich guckte mir das Video ein paar Augenblicke an, langweilte mich und es war mir egal, ob der Rhythmus ein Tänzer ist oder nicht. Durch Zufall – ich wollte eigentlich weiter zappen – kam ich auf die Taste für den Videotext. War ich schon mal drin, las ich auch ein bißchen. Es gab eine Kategorie mit Zuschauerfragen und ich war an dem Tag masochistisch genug, um mir das anzutun.“
„Zuschauer-/Zuhörerbeteiligung sind das schlimmste bei Radio und Fernsehen überhaupt.“
„Stimmt, einmal oder zweimal hab ich mich als Kind auch mal mit einer LP bestechen lassen und irgendwas mitgemacht. Brrrr war das peinlich. Egal, zurück zur Geschichte… Ach, nee. Wie heißt du eigentlich?“
„Carmen.“
„Prost Carmen.“ Wir prosteten uns zu und ich erzählte weiter. „Ich war also im MTV-Videotext in der Rubrik ‚Leute, denen nichts peinlich ist’. Einer oder eine, ich kann mich nicht mehr erinnern, meinte die B-Seiten-Compilation von – und da setzt auch schon wieder mein Gedächtnis aus – The Damned, The Cure, The Clash, The Police, The The oder irgendeiner anderen The-Band, die ihren Zenit schon lange überschritten hat, wäre ja ganz toll. Daß man diese ganzen alten unbekannten Songs jetzt wieder hören könne, sei fantastisch.“
„Und da setzt mein Gedächtnis aus: Hat eine dieser Bands mal eine gute B-Seite gemacht?“
„Die Frage ist gut, das war aber noch nicht die Pointe der Geschichte. Wie wär’s mit ‚Once upon a Daydream’?“
„Touché!“
„Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus. Die wirkliche Pointe fehlt nämlich noch, nämlich die Frage – wir erinnern uns zumindest daran, daß auf dieser Videotextseite ja Fragen gestellt werden sollten.“
„Und wie lautet die Frage?“
„Die Frage lautet – Achtung, erst das Bier runterschlucken.“
„Okay, fertig.“
„Also die Frage lautet: Was ist eigentlich eine B-Seite?“
Sie lachte auch wirklich los. Und sie lachte sehr schön, sehr bezaubernd…
„Zu komisch! Was ist eigentlich eine B-Seite?“
„So kann Fernsehen dann doch unterhaltsam sein und – das meinte ich vorhin – vielleicht auch ein Spiegel der Welt, der Gesellschaft oder sonstwas. Oder hättest du geahnt, daß es Menschen gibt, die vielleicht zehn oder 15 Jahre jünger sind als wir, nicht mehr wissen, was eine B-Seite ist?“
„Weiß nicht, aber wie ich schon sagte: Denk nicht mehr übers Fernsehen nach. Es lohnt sich meisten halt doch nicht.“
„Okay, ich versuche es.“
„Und in zehn Jahren wird auch niemand mehr wissen, was Videotext ist oder war...“
Und ich fragte mich, wann endlich die Revolution käme, die das Fernsehen ganz abschaffen würde. Aber rhetorische Fragen dieser Art zählten in dem Augenblick nicht wirklich. Carmens lächeln deutete an, daß diese Nacht doch noch irgendwie charmant werden würde.