Читать книгу Die kalten Wurzeln der Welt - M.P. Anderfeldt - Страница 12

Eintrag

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Behutsam machte Lisa den Eintrag. Sie wusste nicht, ob es nötig war, dabei besondere Sorgfalt walten zu lassen, aber das schien ihr so richtig. Es war eine Frage des Respekts gegenüber den Toten. Und vielleicht, dachte sie mit leichtem Unbehagen, war es auch notwendig.

Sie hatte sich entschlossen, die beiden gemeinsam auf einer Seite zu verewigen. Auf diese Weise waren sie in Ewigkeit miteinander vereinigt. Wahrscheinlich war das mehr Romantik, als in ihrer Beziehung jemals gewesen war oder gewesen wäre. Ihr wolltet billig fummeln und ich habe euch zu Romeo und Julia gemacht. Ihr solltet mir dankbar sein.

Hatten sie den Tod verdient? Sicher. Lisa glaubte keinen Moment, dass irgendein Mensch ohne Schuld war. Wenn sie den Begriff »unschuldige Opfer« hörte, verspürte sie immer einen leichten Brechreiz. Wir haben alle den Tod verdient. Und wir bekommen ihn alle. Die einen früher, die anderen später.

Die Seelenvögel der beiden waren völlig unterschiedlich gewesen, Lisa war sich nicht sicher, ob das bedeutete, dass sie als Menschen nicht zusammenpassten. Als sie auf dem Parkplatz angekommen und die nötige Ruhe gefunden hatte, erblickte sie zunächst ein hellgraues, durchschimmerndes Ding, ohne Flügel, das mit Hilfe unzähliger Tentakel durch die Luft zu rudern schien. Der andere Seelenvogel glich wirklich einem Vogel, er hatte sogar etwas, das wie Federn aussah und erinnerte an eine kleine Krähe. Unsicher flatterte er herum, setzte sich auf den Boden und legte den Kopf schief. Wären seine Bewegungen nicht zu langsam, zu traumähnlich gewesen und hätte er sich nicht völlig geräuschlos bewegt, man hätte ihn glatt für ein lebendiges Wesen halten können.

Die beiden zeigten kein Interesse am anderen, auch nicht an den leblosen Körpern, die ihre Seelen noch bis vor Kurzem beherbergt hatten.

Aber wie immer hatten sie Interesse an ihr gehabt. Kein Seelenvogel konnte der Verlockung widerstehen, Kontakt mit einem lebenden Wesen aufzunehmen.

Lisa fragte sich, wer von beiden wer gewesen war. Es war natürlich verlockend, den Mann der »Krähe« zuzuordnen und der Frau das ätherische, durchscheinende Wesen, aber Lisa wusste, dass es oft ganz anders war.

Das war natürlich auch ein Grund, warum sie die beiden auf eine Seite nahm. Neben die Zeichnungen schrieb sie einige der Dinge, die der Mann gesagt hatte, daneben, ganz groß und in Schönschrift, das letzte Wort der Frau: »Bitte!« Eine äußerst stimmungsvolle Ergänzung. Schade, dass sie nicht von Jedem die letzten Worte hatte.

Später, wenn in der Zeitung ein Artikel erschien, würde sie die Namen der beiden nachtragen. Sie hatte keinen Zweifel, dass die Presse von einem gemeinsamen Selbstmord ausgehen würde. Es war ja keine Gewalteinwirkung zu sehen und wer würde es schon schaffen, zwei Menschen von einem Aussichtsturm in den Tod zu stürzen? Und was wäre das auch für eine unpraktische Art, jemanden umzubringen? Wenn ein Journalist lange genug nachforschte, würde sich bestimmt auch ein Motiv für den Suizid finden – vielleicht war ihre Liebe ja heimlich, oder mindestens ein Elternpaar war gegen ihre Verbindung. Unerfüllte Liebe ist die schönste und reinste Liebe. Reines Begehren ohne das unvermeidliche Gestöhne und Gesabber.

Sie leckte sich die Lippen, das tat sie immer, wenn sie zeichnete oder malte – eine Angewohnheit seit ihrer Kindheit, die sie selbst nie bemerkt hatte.

Sie war zufrieden. Am Abend wollte sie Jia Lings Eintrag ansehen. Dann würde Jia Lings Ba selbst erscheinen.

Der Seelenvogel würde sich auf ihre Hand setzen und sich an der Kraft der anderen Ba-Seelen stärken.

Die Vorfreude versetzte ihr einen wohligen Schauer.

Die kalten Wurzeln der Welt

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