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Mitgefühl

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»Ich kann arbeiten.« Lisa rang sich ein Lächeln ab, das leicht und natürlich wirken sollte, ohne verkrampft oder gar manisch auszusehen.

»Nein, nein.« Horst blickte zu ihr, scheinbar, dabei sah er nur sich selbst, suhlte sich selbstzufrieden in seiner ach so verständnisvollen Art.

»Es macht mir nichts aus. Vielleicht«, fügte sie hinzu, »vielleicht hilft mir die Arbeit, mein Erlebnis zu vergessen.«

Die Zeitungen waren voll davon gewesen: Es war noch keine zwei Wochen her, da war Lisa beim Reinigen einer Wohnung, in der eine junge Frau gestorben war, von einem Mann angegriffen worden.

Ihr Chef schwankte einen Moment. Das war ein ziemlich cleveres Argument gewesen, wie konnte er sich jetzt noch als barmherziger Samariter aufspielen?

»Lisa.« Er machte eine Pause. Seine Stimme triefte vor Mitgefühl. Seit wann duzte er sie eigentlich? Kaum passiert einem so ein Scheiß, glaubt plötzlich alle Welt, sie müssten sich als deine Freunde aufspielen.

»Mach dir um deinen Job keine Sorgen, du kannst jederzeit wieder bei mir anfangen, das verspreche ich dir. Wenn du möchtest. Aber der Herr von der Polizei hat auch gemeint, dass Tatortreinigung erst mal nicht ganz das Richtige sein dürfte, nachdem dich dieses Schwein fast …« Er verstummte, die Lippen zusammengepresst.

Fast – was? Vergewaltigt hätte? Umgebracht hätte? Waren das wirklich so schwierige Wörter?

Horst schüttelte den Kopf und sah nach unten. Das Thema schien ihn mitzunehmen. Tatsächlich versuchte er natürlich nur, sich durch demonstrative Entrüstung und gespieltes Unverständnis vom »Täter« abzugrenzen. Klarer Fall.

»Und wenn du nicht mehr weitermachen möchtest, hat dafür sicher auch jedermann Verständnis.«

Fuck, sie hatte verloren. Da war nichts mehr zu machen. Wenn sie weiter insistierte, machte sie sich nur verdächtig. Sie nickte langsam. Sie wusste, dass der klare Blick aus ihren blauen Augen seine Wirkung nicht verfehlen würde.

»Ich habe dich doch gern …«, sagte er mit väterlichem Tonfall.

Ich weiß genau, was du an mir gern hast, kleiner Mann, dachte sie. Als wollte sie den Schmerz darin fühlen, strich sie sich mit der Hand über die Brust und atmete tief ein. Damit sein Blick ihrer Hand ohne schlechtes Gewissen folgen konnte, schloss sie die Augen.

Als sie sie öffnete, leckte er sich mit der Zunge über die Lippen.

»Was passiert ist, ist schrecklich. Warum fährst du nicht ein paar Tage mit deinem Freund weg?«

Mit Marc? Ohne seinen Computer hält der es doch keine 5 Minuten aus. Nur, wo man bei einer Frau die Knöpfe drücken muss, das wird er wohl nie checken.

»Mit Marc – ich weiß nicht …« Obwohl Horst auch im Sitzen viel kleiner war als sie, schaffte Lisa es, scheu zu ihm aufzusehen. »Ich habe ja auch Uni. Und vielleicht ist es das Beste, wenn ich ganz normal weitermache …«

Ihr Chef nickte väterlich. Wahrscheinlich freute es ihn, dass es mit ihrem Freund nicht so toll lief. Vielleicht rechnete er sich Chancen aus, dass sie sich mal bei ihm ausweinte.

»Du hast wahrscheinlich recht. Dank dran, dass ich immer ein offenes Ohr habe, wenn du etwas brauchst.«

Klarer Fall, er würde dann gerne Marcs Pflichten übernehmen.

»Danke«, hauchte sie. »Das bedeutet mir viel.«

Jetzt stellt er sich bestimmt vor, wie ich als Jungfrau in Nöten des Nachts an seine Tür klopfe und er mich retten kann. Mich in seine starken Arme nimmt und mir dabei ganz unauffällig die Brust streichelt. Männer.

Manchmal wünschte Lisa, sie wäre lesbisch, aber sie war so hetero, wie man nur sein konnte. Sie hatte es das mit dem Lesbisch-Sein versucht, musste aber feststellen, dass sie nicht einmal bisexuell war. Den Sex mit einer Frau fand sie einfach nur krampfig, außerdem hatten die meisten lesbischen Frauen wenig an sich, das sie attraktiv fand.

So musste sie wohl oder übel weiter mit Männern vorliebnehmen, so schlicht und trottelig die auch waren.

»Dann mach’s gut, Lisa.« Aufmunternd nickte Horst ihr zu.

Sollte sie ihn zum Abschied umarmen? Sie entschied sich dagegen. Das würde jetzt auch nichts bringen. Außerdem sollte sie sparsam umgehen mit ihrem Pulver.

»Danke … ich melde mich in zwei Wochen wieder.«

Sie wandte sich ab, bevor er widersprechen und ihr großzügig eine noch längere Auszeit schenken konnte.

Wenn nur in den nächsten zwei Wochen nichts passierte … das wäre zu ärgerlich.

Die kalten Wurzeln der Welt

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