Читать книгу Die kalten Wurzeln der Welt - M.P. Anderfeldt - Страница 8
Brücke
ОглавлениеEs platschte nicht einmal richtig, als er ins Wasser fiel. Stattdessen ertönte nur ein einigermaßen sanftes plumps. Eher ein Klogeräusch, nicht lauter, wie ein Stein, der ins Wasser fällt.
Wieder ein Vergewaltiger weniger. Fast zu schön, um wahr zu sein. Lisa betrachtete die rote Indiomütze, die wild und dramatisch auf den braunen Wellen schaukelte. Letzter Zeuge einer Tragödie. War’s das? Klasse.
Da tauchte er wieder auf. Prustend und wild mit den Armen schlagend.
Nee, oder? Fuck, Fuck, Fuck! Das war zu schön, um wahr zu sein! Konnte man hier etwa stehen? Sie war sich fast sicher gewesen, dass der Fluss unter der Brücke tief genug war.
Lisa biss die Zähne zusammen. Gut, dass sie vorbereitet war. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann war es, dass man immer auf alles gefasst sein musste.
Der Alte stand nicht, er schwamm. Immerhin! Er ruderte im Wasser – mitsamt seiner grünen Cordhose, den Stiefeln und all seinen Jacken. Und der dreckigen Unterwäsche, die man zwar nicht sah, aber zehn Meter gegen den Wind roch.
Er grunzte etwas. Naja, er war besoffen, das wusste sie ja. Und es war sicher auch ziemlich anstrengend, in dem eiskalten Wasser zu schwimmen. Würde er sich irgendwo hochziehen können? Unwahrscheinlich. Vermutlich würde er sang- und klanglos untergehen.
Blubb, blubb, weg war er. Woher war das? Mutter hatte das manchmal gesagt. Das musste irgend so ein Witz sein.
Muttersprüche hin oder her, sie durfte kein Risiko eingehen. Seufzend trat sie einen Schritt auf das Ufer zu und ging in die Hocke.
Der Fluss strahlte eine feuchte Kälte ab, die sie selbst durch ihre Kleidung hindurch noch spürte. Als ob »Flussufer« etwas Unscharfes wäre, ein unmerklicher Übergang vom Land zum Wasser.
Genieß es doch, nicht alle haben so viel Glück wie du, wollte sie ihm zurufen. Aber natürlich tat sie es nicht. Er hätte es missverstehen können.
Oder richtig verstehen.
Langsam kam er auf sie zu. Er schwamm wie ein Hund, die Arme irgendwo unter der Oberfläche. Man sah eigentlich nur den Kopf und einen Teil der Jacke, die auf dem Wasser hinter ihm her schwamm.
Der Kopf war nur knapp über der Oberfläche, eigentlich ragte nur das Gesicht aus dem Wasser, unförmig wie ein gekentertes Boot oder so. Er stöhnte etwas und kaltes, schwarzes Wasser lief ihm in den Mund. Er würgte, versuchte zu husten, doch es fehlte ihm die Kraft. Inzwischen strampelte er nicht mehr so wild mit Armen und Beinen, es wirkte planvoller. Es könnte tatsächlich passieren, dass er sich oben hält. Das darf nicht passieren.
Er grunzte. Vielleicht wegen des Wassers, das er geschluckt hatte.
»Sch …«, machte Lisa und legte den Zeigefinger an die Lippen.
Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ob er damit etwas sagen wollte? Sollte das »Ja« heißen? Lisa fand nicht, dass er noch versuchen sollte, zu kommunizieren.
»Sch-sch«, machte sie noch einmal und schüttelte sanft den Kopf. Ein wenig Licht fiel auf sie und ließ sie aussehen wie einen Engel.
Von der Strömung des Flusses war hier fast nichts zu spüren, dennoch musste Lisa langsam ein paar Schritte seitwärts machen, um mit ihm auf einer Höhe zu bleiben. Das war gar nicht so einfach, wenn man in der Hocke bleiben wollte.
Sie legte den Kopf ein wenig schief.
Langsam streckte sie die linke Hand aus und hielt sie ihm entgegen.
Ich bin dein helfender Engel.
Seine Bewegungen wurden wieder hektischer. Er hatte die Rettung vor Augen.
Aber was hatte er schon, für das es sich zu leben lohnte? Er war obdachlos und der Winter kam. All sein Besitz befand sich in den Plastiktüten in der Nische unter der Brücke. Wahrscheinlich hatte er keine Angehörigen – oder zumindest keine, die sich um ihn kümmerten.
Warum also? Warum noch kämpfen?
Gleichzeitig lag darin die Faszination. Alles, was lebt, will am Leben bleiben. Zumindest in diesen letzten Atemzügen entdeckten selbst die unwahrscheinlichsten Kandidaten, wie schön das Leben war.
Lisa spitzte die Lippen und pfiff. Schön ist es, auf der Welt zu sein.
Bin ich eben ein pfeifender Engel.
Seine Finger tauchten plötzlich aus der Brühe. Er versuchte, ihre Hand zu erreichen. Weil er dadurch nicht mehr gut schwimmen konnte, versank er für einen Moment bis über die Nase in den Fluten.
Die Hand verschwand wieder in den Fluten, als er leise prustend wieder hochkam.
Er näherte sich weiter. Dann der nächste Versuch. Diesmal die andere Hand. Dunkle Wasserspritzer fielen auf Lisas hellbraune Jacke, als die Hand aus dem Wasser schoss.
Sie musste ihre Hand nur wenig zurückziehen, damit er sie verfehlte.
Wieder versank er kurz, bevor er nochmals auftauchte.
Unglaublich, dieser Überlebenswille. Glaubt er wirklich, dass er es schaffen kann?
Lisa lächelte ihn an. Sie hoffte, dass es ein freundliches Lächeln war, ohne Schadenfreude oder Bosheit. Schließlich hatte jeder das Recht auf einen schönen letzten Blick, oder? Sie hatte schon oft gehört, dass sie aussah wie ein Engel. Meistens natürlich von Männern, die sich von solchem Süßholzgeraspel versprachen, sie ins Bett zu bekommen. Manchmal durchaus mit Erfolg, was aber rein gar nichts mit ihren Komplimenten zu tun hatte.
Lisas andere Hand sauste nach vorn, die Hand, die sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte. Der schwere Stein, den sie darin hielt, krachte gegen die Stirn des Mannes.
Lisa wusste, wie wichtig es war, eine wirklich massive Hiebwaffe zu benutzen, gerade, wenn man nicht so gut ausholen konnte oder wenn das Ziel abtauchen konnte. Mit einem schweren Gegenstand tat man sich da viel leichter. Einmal hatte sie nur einen Kieselstein zur Hand gehabt und alles hatte in einer blutigen Sauerei geendet. Ein guter, schwerer Stein erledigte die Arbeit praktisch von selbst.
Es knackte, als er gegen die Schläfe des Mannes schlug. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Er schloss seine Augen nicht, kämpfte nicht, sondern versank einfach. Leb wohl, Vergewaltiger. Nein: Stirb wohl.
Viel zu schnell war er weg. Lisa tröstete sich mit dem Gedanken, dass er unter Wasser noch ein wenig weiterlebte, bis die Dunkelheit ihn ausfüllte wie das kalte Wasser, das ihm in Mund und Nase drang. Bald, sehr bald, würde sein ganzer Körper so kalt sein wie der Fluss. Ein schöner, ein absoluter Tod.
Da kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und das Lächeln schwand jäh aus ihrem Gesicht. Was, wenn der Alte untergetaucht war und woanders ans Ufer schwamm? Unsinn, seine Jacke trieb ja noch an der Oberfläche. Da musste er drinhängen.
Außerdem war das nicht Rambo. Ein 70-jähriger Penner täuscht nicht seinen Tod vor und atmet unter Wasser durch ein Bambusrohr, bis seine Feinde weg sind.
Gemächlich schritt sie neben der Jacke her. Den Stein hatte sie noch in der Hand, sie würde ihn ganz woanders wegwerfen, auf keinen Fall hier. Jetzt tauchte auch der Körper wieder auf. Er ploppte nicht hoch, wie das in Filmen zu sehen war, sondern trieb gemächlich unter der Oberfläche weiter.
In einer plötzlichen Bewegung, die Lisa erschreckte, drehte er sich im Wasser und das Gesicht erschien an der Oberfläche. Wahrscheinlich sind irgendwelche Lufttaschen in seiner Kleidung, die ihm Auftrieb geben, oder er hat eine leere Flasche in der Jacke.
Es wirkte, als würde der Mann den Himmel betrachten wollen. Hier sahen seine weit aufgerissenen Augen nur die Unterseite der Brücke, aber schön war es trotzdem.
Sie konnte nur hoffen, dass er nicht in die stärkere Strömung in der Mitte des Flusses geriet. Stirnrunzelnd betrachtete Lisa, wie die Jacke sich um den grauhaarigen Hinterkopf drehte.
Die Zeit hatte genügt. Als sie aufsah, war er da.
Wieder anders als erwartet. Immer anders. Gelblich schimmernd wie ein Goldfisch und so munter wie ein Schmetterling, der über eine Sommerwiese tanzt. Im Gegensatz zueinem Schmetterling hatte er aber nicht zwei Flügel, sondern nur einen einzigen, der sich an der Oberseite seines Körpers sanft hin- und herbewegte.
Lisa schenkte dem Seelenvogel das gleiche Lächeln wie seinem Besitzer vor wenigen Minuten.
Sie öffnete ihre Hand. Keine Angst, diesmal ziehe ich sie nicht zurück.
Sekunden gerannen zu Minuten, während der schwarze Fluss zu ihren Füßen sanft rauschte.
Endlich setzte sich das Tier auf ihre Hand. Es konnte nicht mehr wiegen als eine Daunenfeder, sofern man es überhaupt mit etwas Materiellem vergleichen konnte.
Lisa spürte, wie etwas sie abtastete. Winzige, unendlich feine Tentakel drangen in ihre Gedanken. Wollten saugen, austauschen, verlangten mit der Dringlichkeit haarfeiner Pflanzenwurzeln ein letztes Geben und Nehmen, ein letztes Mal teilzunehmen am Leben.
Hab keine Angst, alles wird gut. Du wirst Teil von etwas Gutem.
Lisa schloss die Hand um das Wesen und presste, fester und fester. Sie drückte den zarten Flügel, bis er zerbrach zu leuchtenden Splittern und stumpf gelbem Staub. Eilig zogen die Tentakel sich zurück, doch sie erstarben auf halbem Weg, blieben an ihren kleinen Widerhaken stecken, rissen, wo sie überdehnt wurden, verdorrten oder platzten, als etwas in sie schoss, das aus dem zarten Körper gequetscht wurde.