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Kapitel 2: Li B

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Es war nicht so, dass Erika niemals zuvor in ihr altes Viertel zurückgekehrt wäre. Doch sie besuchte es sonst nur von unten, durch die verborgenen Gänge. Bei Nacht schlich sie sich an, um einen der Erbärmlichen, die es gewagt hatten, ihren Kopf über den Straßenschmutz zu erheben, aus dem Leben zu befördern. Sie wurde gut bezahlt dafür, ihre ehemaligen Leidensgenossen in Angst und Schrecken zu versetzen, und sie hatte es getan mit der Arroganz jener, die nur darum noch leben, weil sie verschlagener, rücksichtsloser und misstrauischer sind als die anderen.

Heute schritten Erika und Gabriel auf der Straße, bei vollem Tageslicht als seien sie Einwohner dieser Stadt. Sie verließen sich dabei auf ihre Instinkte des Raubtiers, das man nicht leicht überrumpelt. Selbst nicht am hellen Tag, wenn die Sinne von Staub und Flimmer, Gestank, Lärm und Geschrei getrübt werden.

Li B wohnte in einem heruntergekommenen Haus, von dessen Außenmauer die gelbliche Kalkfarbe abblätterte und dabei mürbe schmutzigbraune Lehmwände freilegte. Erika fand es besonders bezeichnend, dass ihre ersten Schritte im neuen Leben auf der Seite des Guten sie ausgerechnet in einen Puff führten. Doch um zu lachen war sie zu nervös. Sie waren von Natas’ Wegen abgewichen. Sie blickten sich hastig um, bevor sie eintraten. Die Haustüre stand angelehnt. Von der Holztüre hatte sich fleckenweise die rostrote Farbe gelöst, der Türklopfer war durch ein rosenfarbenes Email-Schild ersetzt, das besagte: „Tritt ohne Zögern ein, wenn du meiner bedarfst.“

Was tat man eigentlich, wenn man „gut“ war? Ganz so verschieden schienen sie nicht von den Bösen zu sein, wenn sie Meuchelmörder schickten. Wenn eine Nutte zu ihnen gehörte, die sich eine Göttin nennen ließ.

Erika hatte eine muffige Höhle erwartet, doch innen waren die Räume von Licht durchflutet. Alle Türen und Fensterläden standen offen und ließen das Nachmittagslicht herein, das geradezu von den makellos weißen Wänden widerzuspiegeln schien. Im Vorraum gruppierten sich verschiedene schlichte Stühle, die aus den unterschiedlichen vergangenen Zeitepochen zu stammen schienen und von Generationen achtloser Vorbesitzer. Die grünlichen Kacheln des Fußbodens waren blitzblank und Lichtpunkte tanzten darauf. Von hier aus sah man in die Küche, deren Wände frisch gekalkt schienen. Auch hier passten die Möbel nicht zusammen. Um einen massiven hellen Holztisch verteilten sich unregelmäßig einige Stühle sowie weitere an den Wänden, mit oder ohne Rückenlehne, mit oder ohne Armstütze, mit oder ohne eines der bunten Kissen, die Sitzfläche aus geflochtenem Rohr oder mit einem Bastgitter, aus massivem Holz oder mit Stoff bespannt. Die Bodenkacheln bildeten ein graues und rosafarbenes Schachbrettmuster. Durch die offene Tür zum Hinterhof drängte das Sonnenlicht wie ein täglicher Mittagsgast. Neben der Küche befand sich die Holztreppe hoch zum ersten Stock. Deren Stufen waren abgetreten und von unzähligen Füßen glatt geschabt auf der gesamten Breite. Und doch sorgfältig gewachst.

„Li B“, flüsterte Gabriel Erika ehrfürchtig ins Ohr.

Erika beobachtete misstrauisch die mandeläugige Schönheit, die oben am Treppenabsatz erschien und ihnen entgegen kam. Li B war schon etwas verblüht und steckte in einem roten Seidenkleid, an dem ein Schlitz ihre Waden und das ganze Bein zeigten bis hinauf zur Hüfte. Keine Unterwäsche. Keine Schuhe. Rot lackierte Zehnägel.

„Willkommen Gabriel“, grüßte Li B lächelnd und ihre sachte, freundliche Stimme ließ Erika aufhorchen. „Schön, dass du endlich bei uns bist.“ Und an Erika gewandt: „Erika, du kennst mich schon. Du wolltest es nur vergessen.“

Ohne eine weitere Erklärung wandte sie sich ab und watschelte wieder die Treppe hinauf, wobei sie mit den Hüften wackelte. Das Seidenkleid spannte um ihre Hüften und am Gesäß. Erika konnte sich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben. So eine Gestalt hätte sie nicht vergessen. Doch unvermittelt fiel es ihr auf halber Höhe wieder ein: Die Frau war damals eine Bettlerin gewesen, in graue Lumpen gekleidet, und hatte sie auf einem Botengang aufgehalten. Einfach an der Schulter gepackt. Erika hatte es eilig. Es war Winter, und die Bettlerin trug keine Handschuhe. Sie bat Erika um etwas zu essen für sich und ihre kleine Tochter. Erika hatte die Frau verhöhnt. Hatte sogar behauptet, das Kind sei nur erfunden. Ho Nung? Erika schüttelte den Kopf. Natürlich sahen alle Schlitzaugen für sie gleich aus. Trotzdem fühlte sie sich seltsam sicher, dass ausgerechnet Li B sie damals angehalten hatte. Und heute trug sie ein zu enges rotes Kleid und wackelte mit dem Hintern wie eine Ente.

Li B führte sie die Treppe hinauf und gleich zur ersten Tür links hinein. Der Raum war erstaunlich schlicht. Erika dachte an das Himmelbett Maagis, das mit Kissen und Stoffen aus der gesamten zivilisierten Welt ausgepolstert war. Sie erinnerte sich auch an die prunkvolle Ausstaffierung des Schlafzimmers des Fürsten. Dort, wo ihm zwischen und unter riesigen Spiegeln jeder seiner Diener zu Willen sein musste. Sie schielte zu Gabriel. Sie dachte an Natas’ grobe Seilfesseln, die er zwar nur ein Mal an ihr verwendet hatte, von denen aber bleibende Narben an ihren Handgelenken zeugten. Sachte weiße Streifen wie eine Brandmarkung.

Sie blinzelte und blieb in der Tür stehen. Li B stand in der Mitte des Raums und lud sie lächelnd ein, auf den bunt gescheckten, dicken Teppichen und Kissen zu sitzen, die kreuz und quer im Zimmer verteilt lagen. Alle waren unterschiedlich groß und verschieden geformt. Manche gestreift, andere kariert. Verschiedene Kissen lagen in einem Kreis. Li B sah so unschuldig aus, dass Erika nicht mehr fürchtete, dass ihr hier etwas geschehen würde. Vielleicht unterschieden sich hierin Gut und Böse? Darin, dass man vertrauen durfte. Wenn man dazu fähig war. Die Haustür war nicht verriegelt. Offene Fenster nach außen gab es, ohne Vorhänge und Gitter. Erika stutzte, denn sie war sicher, dass die grünen Fensterläden im ersten Stock geschlossen waren, als sie eintraten. Seltsames Haus. Seltsame Frau.

Gabriel wählte ein orangefarbenes Seidenkissen, doch Erika einen unförmigen Sitzsack dessen Bezug aus einer weißen und einer schwarzen Hälfte bestand, deren Trennlinie ein unregelmäßiges Zickzack bildete. Li B lächelte und setzte sich nicht. Sie erklärte: „Leider ist mir mein Kleid zu eng. Ich hoffe, es stört euch nicht…“, sie überkreuzte die Arme vor dem Oberkörper und griff nach dem Rocksaum, „wenn ich es mir bequemer mache.“ Dann zog sie sich mit einem Ruck das Kleid über den Kopf und warf es achtlos in die Ecke. Sie war völlig nackt und setzte sich nun zwanglos auf eine Sisalmatte. Sie schlug die Beine unter, so dass man das Kraushaar zwischen ihren Schenkeln sah. Erika konnte ihren Blick nicht abwenden, obwohl sie es selbst unhöflich fand, derart zu starren. Li B war kein schöner Anblick. Ihr Fleisch war schon welk, ganz besonders um die Hüften, an den Oberschenkeln und den Brüsten. Die Oberarme schienen Hautlappen zu sein, in denen kein einziger Muskel steckte. Weiße Striemen zeichneten sich auf ihrer dunklen Schulter ab wie die Krallenspuren eines Raubtiers, doch viel wahrscheinlicher waren es die Narben von Peitschenhieben.

Li B erklärte mit nun lebhafterer Stimme lachend: „Die meisten Menschen fühlen sich nur sie selbst, wenn sie die Kleidung tragen, die sie am besten verkleidet. Ich bin aber nur nackt ich selbst.“

Erika warf einen prüfenden Blick auf Gabriel, der Li B anlächelte als sei ihr Verhalten vollkommen in Ordnung. Erika überlegte, davon zu laufen und Maagi zu berichten, des Fürsten bester Mann habe den Verstand verloren. Dann fragte sie sich, ob sie sich wohler fühlen würde, wenn Gabriel Li B lüstern anblicken würde und senkte beschämt den Kopf.

Li B fragte: „Du fühlst dich nicht wohl, Erika. Worum sorgst du dich?“

Erika räusperte sich. Sie wollte nicht unhöflich sein. Dann erwiderte sie: „Ich war noch nie in einem solchen Haus und war daher nicht darauf vorbereitet…“

Gabriel lachte als sei das ein guter Witz.

Li B lächelte nachsichtig. „Du brauchst dich nicht auszuziehen, keine Furcht. Ihr seid zum Reden gekommen, und das werden wir auch tun.“

Gabriel prustete und rief Li B verschwörerisch zu: „Sie hat noch immer nicht begriffen, wer du bist.“ Erika fühlte sich ausgeschlossen.

Li B blieb ernst und sagte: „Sie muss es selbst herausfinden. Wir werden es ihr nicht sagen.“

Erika fiel wieder ein, dass Gabriel sie eine Göttin genannt hatte, doch Erika glaubte nicht an Götter. Und Li B erschien ihr sehr gewöhnlich, derb und vollständig verrückt.

Gabriel erklärte: „Was auch immer Li B ist, sie ist die beste Ratgeberin, die man sich denken kann.“

Li B neckte gutmütig: „Aber du hast bisher trotzdem nicht oft auf mich gehört.“

„Ich war dumm, ab heute bin ich ganz der deine.“ Gabriel schien glücklich zu sein mit diesem seltsamen Dialog, aber Erika hatte keine Lust auf Rätselspiele. Darum sagte sie kühl: „Wenn ihr mir schon nicht sagt, wer Li B anscheinend wirklich ist, dann lasst uns doch zum eigentlichen Zweck unseres Besuchs kommen.“

Li B und Gabriel nickten. Gabriel begann Li B zu erzählen: „Wie du weißt, habe ich mich deinen Ratschlägen immer verschlossen. Ich war überzeugt, ich wisse selbst alles am besten. Und so verstrickte ich mich immer tiefer in die Abhängigkeit von Fürst Natas.“

Li B schauderte, als sie den Namen hörte. Sie blickte zum ersten Mal ernst und starrte auf ihre nackten Füße. Sie nickte. Gabriel fuhrt fort: „Ich habe ihm gedient, weil es mir das Vernünftigste erschien. Aber ich war nicht glücklich. Li B fehlte mir. Das Maß meiner Unzufriedenheit war voll, als mir heute Morgen der Fürst auftrug, Ho Nung zu töten.“

Li B schüttelte den Kopf. „Das war dumm von ihm. Das kann er nicht verlangen. Von keinem Menschen. Wer Hand an Ho Nung legt, der ist verflucht. Nie wieder wird Li B ihn besuchen.“

Erika lag es auf der Zunge zu rufen, sie hätte Ho Nung ohne zu zögern getötet, wenn es ihr Auftrag gewesen wäre. Doch ihr Mitgefühl für die Mutter wog letztlich mehr als ihre Ehre und der Stolz, die beste Meuchelmörderin zu sein und zuverlässiger als Gabriel. Li B sah Erika prüfend an, sagte aber nichts zu ihr. Stattdessen sprach sie zu Gabriel: „Und was warf er ihr vor?“

„Sie lacht“, sagte Gabriel. „Immer noch.“

Li B lächelte und erklärte stolz: „Sie wird ihn auslachen so lange er lebt. Ganz gleich, was er ihr antut.“

Erika dachte an des Fürsten Unsterblichkeit. Wusste Li B nichts davon? Ihr entfuhr: „Ich verstehe immer noch nicht, warum Lachen so schändlich ist, dass man jemanden dafür töten muss.“

Li B erklärte: „Natürlich wird niemand für schadenfrohes oder hämisches Lachen getötet. Dieses Lachen liebt der Fürst, weil es sein eigenes ist. Doch die Hoffnung, die allem Leid trotz, die schmerzt ihn. Wo noch Hoffnung besteht und Fröhlichkeit trotz allem, was er einem Menschen angetan hat, da ist sein Reich zu Ende.“

„Du meinst, Denken, Sagen und Handeln sind dasselbe?“ Das war eigentlich Maagis Spruch, aber Erika wollte auch etwas beitragen, das klug klang.

Li B nickte. „Das darfst du nie vergessen. Denn: Lügen sind vergänglich.“

Erika war nicht sicher, ob sie alles verstand. Darum fragte sie, mehr an Gabriel gewandt als an Li B: „Wozu sind wir überhaupt hierher gekommen?“

Die Frau antwortete: „Ihr möchtet nicht länger dem Bösen dienen, sondern dem Guten. Und wer könnte euch euer neues Leben besser erklären als ich? Denn das Wichtigste, das vergesst nie, das ist die Liebe! Wenn zwei Gesetze einander widersprechen oder ihr aus anderem Grund nicht wisst, was ihr tun sollt, dann folgt dem Rat der Liebe.“

„Liebe, Hiebe, Triebe!“ schnaubte Erika verächtlich.

„Ja, Liebe!“ sagte Li B sanft. „Wenn du sie spüren kannst, wenn ihre Stimme dich immer und überall sicher leitet, dann gehörst du zu den Guten.“

„Fühlst du sie etwa?“ fuhr Erika Gabriel an und verstand selbst nicht, was sie so wütend machte. Es fühlte sich an wie diese Unbeherrschtheit, die sie heute Morgen überkommen hatte, als sie den Meuchelmörder tötete, obwohl sie ihn hätte aushorchen sollen. Allein das Wort ‚Liebe‘ brachte sie zur Raserei. Sie liebte Gabriel, und das war nichts als ein verdammter Fluch!

„Du kennst mich“, wiederholte Li B ruhig als habe es Erikas unhöflichen Wutausbruch nicht gegeben. „Aber nicht weil du selbst jemals geliebt hast, sondern weil du geliebt wurdest. Ihn störte es nicht, dass du dich über ihn lustig machtest. Er verzieh dir. Er liebt dich noch immer.“

„Ach, der!“ schnaubte Erika verächtlich. „Ein Schwächling.“

„Stärker als ihr beiden zusammen“, erwiderte Li B. „Sonst würdest du dich nicht mehr an ihn erinnern.“ Als Gabriel protestierend von seinem Kissen aufspringen wollte, machte Li B eine beschwichtigende Handbewegung. „Es ist wahr“, beharrte sie. „Nur wenige sind so voll Liebe wie Glao Bej.“

„So heißt er also“, murrte Erika.

„Ach?“ machte Gabriel und zog eine Augenbraue hoch, interessiert, aber nicht eifersüchtig.

Erika wedelte mit der Hand als verscheuche sie eine lästige Fliege. „Kleines Geplänkel. Ich denke gar nicht mehr daran.“

„Erika“, erklärte Li B, „was du für Liebe hältst, ist etwas anderes. Es wird lange dauern, bis du die Liebe verstehen wirst. Jahre. Und solange du mich nicht verstehst, wirst du auch das Gute nicht verstehen. Das Gute denkt und fühlt anders als das Böse. Es hat seine eigene Logik. Gabriel hat geliebt und gelitten, er kennt mich.“

Erika zog die Stirn kraus. „Bist du wirklich so wichtig? Muss ich dich verstehen?“

„Du musst die Liebe in dir fühlen. Alles Denken hilft dir nichts.“

Erika lachte. „Gefühle? Nichts als Schwäche!“

„Genau das meinte ich“, erwiderte Li B und warf Gabriel einen vorwurfsvollen Blick zu. Er zuckte nur die Schultern. Ohne viel Begeisterung sagte Li B: „Du wirst es lernen.“

„So, werde ich das? Gut und liebevoll und schwach? Nun, wenn es ohnehin geschehen wird, brauchen wir nicht mehr darüber zu sprechen. Was aber sind unsere nächsten Schritte?“

Li B nickte: „Ihr müsst jetzt sehr vorsichtig sein, denn ihr befindet euch außerhalb dessen, was euch vertraut war. Nichts ist mehr sicher und wie gewohnt. Ihr dürft nicht zu stürmisch sein und wenn ihr es seid, rechnet mit Verletzungen.“

Erika: „Wohin sollen wir gehen, wem vertrauen, wovon leben?“

Li B lächelte und fragte: „Was denkst du, was du tun kannst, um dem Guten zu dienen?“

Erika erklärte: „Was wohl? Dasselbe wie bisher. Auch das Gute braucht Meuchelmörder.“

Li B schüttelte den Kopf: „Bei uns heißen sie anders, und ihre Aufgabe ist eine andere. Ihr würdet sie nicht richtig ausüben.“

Erika sprang fast von ihrem Kissen auf: „Gabriel und ich, wir sind die besten Mörder, die ihr kriegen könnt!“

Li B schüttelte abermals den Kopf: „Ich sage dir doch. Wir können euch in dieser Aufgabe nicht brauchen. Dafür muss euer Herz von Liebe durchdrungen sein.“

Erika: „Zum Morden? Sicher braucht auch der König Josua Menschen wie mich.“

Li B schüttelte weiterhin den Kopf: „Nein. Er tut nie, wovon ich abrate.“

Erika fragte sich, ob Li B des Königs Beraterin oder Mätresse war und warum sie dann in so einem schäbigen Haus arbeitete. Nichts machte mehr Sinn, seitdem sie die gewohnten Pfade verlassen hatte, und sie fragte sich, ob es an ihr lag oder an Li B. Erika schielte zu Gabriel, und dieser schien alles richtig zu finden, was diese Frau sagte.

„Gabriel, was ist dein Traum?“ fragte Li B.

„Traum?“ fragte er zurück. „Ich weiß nicht. Bisher glaubte ich, er bestünde darin, dem Mächtigen zu dienen und damit selbst mächtig zu sein.“

„Und jetzt?“

Gabriel hob die Schultern und schaute ratlos. „Ich möchte dem Guten dienen. Ich will nicht mehr morden. Jedenfalls keinen von denen, die das Rechte tun.“

„Das ist was du nicht willst. Was willst du?“

Gabriel strich sich über die Stirn, doch er sagte nichts.

Li B riet: „Schließe die Augen und lass die Bilder sprechen.“ Dann wandte sie sich an Erika: „Und du, tue dasselbe.“

Erika war ein wenig wütend, dass Li B sie nicht gefragt hatte, was sie wollte. Sie wusste es viel besser als Gabriel. Sie wollte überleben. Und manchmal wollte sie, dass Gabriel sie so sehr liebte wie sie ihn. Doch Li B wandte ihren Blick ab und schien nicht ansprechbar. Also schloss Erika ihre Augen. Zunächst sah sie nichts, sondern spürte nur, dass sie schwer und plump auf diesem Sack saß. Ihr Fuß schien einzuschlafen. Sie wollte aufstehen. Ihr fiel wieder ein, dass sie heute gedacht hatte, dass sie ein Schatten sei. Und sie fühlte sich auch so: Als sei sie nur ein flacher Stein, der auf der Erde liegt. Sie wollte aufstehen. Ihr Pferd war auf den glatten Steinen ausgeglitten. Diese waren aber gar nicht so flach, sie hatten tiefe Wurzeln. Das Pferd hätte auf den Wiesen galoppieren können, ohne einen Sturz zu riskieren. Erika erinnerte sich nicht, jemals über eine Wiese galoppiert zu sein. Die Weite lockte sie, auch wenn sie sie fürchtete. Sie, die in den dunklen Schluchten zwischen hohen, engen Mietshäusern aufgewachsen war und nun ihre Tage in den unterirdischen Gängen des Fürsten Natas verbrachte. Sie, die in abgedunkelten Räumen der Fürstin Maagi diente und vor allem nachts Menschen in die ewige Dunkelheit beförderte. Sie war ein Kind der Schwärze und hatte mit den Tagwesen nichts mehr gemeinsam. Ihre Augen ertrugen kaum mehr das Sonnenlicht.

Was hatte Li B gesagt? „Was du für Liebe hältst, ist etwas anderes.“ Sie schmachtete Gabriel an und hoffte, er würde sie eines Tages sehen. Das schmerzte. So wie es sie geschmerzt hatte, dass ihr Vater sie nicht sah und ihre Mutter auch nur manchmal. Wenn diese Unsichtbarkeit zu sehr wehtat, schmiss sie eine Tasse kaputt oder schrie, damit man sie anblickte. Und schlug. Aber das war besser als nicht zu existieren. Bis sie sich daran gewöhnt hatte, unsichtbar zu sein, und ihren Lebensunterhalt damit bestritt. Auch für Gabriel war sie unsichtbar. Das band sie an ihn in Schmerz. Aber das war doch Liebe, oder? Genauso war es diesem Soldaten, diesem Glao Bej doch auch ergangen, nicht anders. Warum sollte sein Schmachten echte Liebe sein und ihres für Gabriel keine?

Sie weinte, und das brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie blinzelte und sah, dass Gabriel ebenfalls Tränen über das Gesicht liefen. Sie wollte seinen Arm fassen und ihn aufwecken, denn er schien zu schlafen. Doch Li B machte eine abwehrende Handbewegung, und Erika ließ es sein. Vermutlich war es schädlich, ihn aus diesem Zustand heraus zu reißen.

Es dauerte nicht lange, bis Gabriel die Augen aufschlug und murmelte: „Das hatte ich nicht erwartet.“ Dann sah er Erika traurig an.

Li B nickte verständnisvoll, und da erklärte Gabriel Erika: „Ich wollte mit dir gemeinsam in dieses neue Leben gehen. Li B sollte uns aneinander schweißen, so dachte ich. Aber ich habe begriffen, dass ich dich nicht so liebe wie du es verdienst. Unsere Wege müssen sich trennen. Nicht für immer, aber so lange, bis ich ganz begriffen habe, wer Li B ist. Ich werde Li B oft besuchen müssen und mit ihr sprechen, damit ich alles lerne, was sie weiß.“

Li B antwortete lächelnd: „Alles was du brauchst, will ich dir geben.“

Gabriel grinste schräg.

Erika schaute Li B fragend an. Die beiden kannten sich sehr gut. Und warum spielte Li B eine derart große Rolle? Noch mehr wunderte Erika, dass Gabriel so offen zugab, dass er sie doch nicht liebte. Beinahe hätte sie gedacht: „… so sehr wie er behauptete.“ Dabei hatte er gar nichts vorgespielt und sogar zugegeben, dass er sie töten würde. Nur sie hatte irgendetwas hören wollen, das er nicht gesagt hatte. Sicher war es besser für sie, wenn sie ihn nicht mehr sähe und von ihrer Sucht nach ihm befreit würde. Nur so konnte sie ihren eigenen Weg finden.

Erika wunderte sich. War das der Gabriel, den sie kannte? Doch sie erkannte auch ihre eigenen Gedanken nicht wieder. Nun stand ihnen die Welt offen, alles zu werden, was sie hätten werden wollen. Wenn sie die Wahl gehabt hätten. Und sie fragte sich, ob sie bereits als Kinder hätten wählen können. Li Bs Haus lag in ihrem Viertel, Li B würde mit jedem sprechen. Warum hatten sie es damals nicht getan? Weil sie nicht in solche Häuser gingen und von niemandem Ratschläge annahmen. Nur Aufträge, die gut bezahlt wurden.

Da bemerkte Erika, dass Li B und Gabriel sie erwartungsvoll ansahen. Sie räusperte sich und sagte: „Leider ist bei mir nichts so klar wie bei Gabriel. Ich weiß plötzlich gar nichts mehr. Nicht wer ich bin, was ich fühle und was ich tun würde, wenn ich völlig frei wäre. Diese Gedanken kamen mir noch nie in den Sinn.“

Li B lächelte. „König Josua braucht Menschen wie dich.“

„Gut“, sagte Erika eifrig, „dann möchte ich in seinen Dienst treten.“

Li B schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Erst musst du herausfinden, wer du bist, und die Liebe muss in deinem Herzen wachsen. Momentan hängt dein Herz noch zu sehr an denen, die dir schaden.“

Erika stutzte. „Welche Liebe soll in mir wachsen? Die Liebe zu wem?“

Li B lachte und legte den Kopf schief. „Die Liebe zu dir, zu allen Menschen, zum Leben, zur Welt. Du wirst sie erkennen, wenn sie dich durchdringt. Es wird ein für dich neuartiges Gefühl inneren Friedens sein.“

Li B stand auf und hob ihr Kleid vom Fußboden auf. Erika staunte: Li Bs Körper erschien ihr plötzlich gar nicht mehr alt und verbraucht, sondern jung und straff. Vielleicht weil sie ihr nun sympathischer war, ohne dass sie verstand wieso. Li B hatte nicht viel für sie getan. Li B zog sich mühsam das rote Kleid über den Kopf, kämpfte mit den Engen an den Schultern und der Hüfte und zupfte an sich herum, denn das schlauchartige Kleid hatte sich um ihren Hintern herum verdreht. Und Erika betrachtete diesen Tanz und mochte Li B für ihre Hilflosigkeit. Diese unantastbare Überlegenheit der nackten Frau hatte ihr missfallen.

Erika stand auf und half Li B, indem sie ihr das Kleid gerade rückte. Auch Gabriel stand von seinem Kissen auf. Als Li B ganz angekleidet war, umarmte er sie und hauchte ihr ins Ohr: „Danke.“

Dann gingen sie. In der Haustür blieb Erika stehen und blickte zurück. Ihr fiel noch etwas ein: „Li B, was sind wir dir schuldig?“

Li B lächelte und erwiderte: „Die Erfüllung eurer Träume.“

„Natürlich, aber wie viel Geld nimmst du? Ich habe genug dabei.“

„Behalt es und besuche mich wieder!“ rief Li B, wandte sich ab und ging in die Küche.

„Kennst du Li B schon lange?“ fragte Erika, nachdem sie auf die Straße getreten waren.

„Seit meiner Kindheit“, erklärte Gabriel verträumt und fügte sanft hinzu: „Sie macht Menschen glücklich.“ Erika sah in sein Gesicht und fand er sah aus als sei er in Li B verliebt. Darum hatte sie Li B mit so kritischem Blick betrachtet: Sie war eifersüchtig.

„Aber nicht Ho Nung, die habe ich erst heute kennen gelernt.“

Erika erwiderte: „Ja, natürlich. Sie ist noch so jung. Sie war damals noch nicht geboren.“

Gabriel schüttelte den Kopf: „Ho Nung ist älter als wir. Wahrscheinlich hält ihr Lachen sie so jung. Aber ich wollte sie damals nicht sehen. Ihr Lachen ist ansteckend, sagt man.“

„Stimmt, du lachst fast nie. Nur ein spöttisches Grinsen bekommt man von dir“, erwiderte Erika zynisch.

Gabriel seufzte und sagte: „Deine Antworten finde ich seltsam. Aber das liegt daran, dass du noch nicht begriffen hast, wer Li B und Ho Nung sind.“

„Göttinnen?“ rätselte Erika.

„So ähnlich“, bestätigte Gabriel.

Und Erika erwiderte: „Selten habe ich solchen Unsinn gehört wie heute von dir und dieser Li B. Ich hoffe, du wirst bald wieder vernünftig.“

„Das bin ich“, behauptete er und grinste. „So vernünftig, dass ich lachen könnte.“

„Dann tu’s doch!“

„Wie?“ fragte er und sah sich hastig auf der Straße um. „Hier und jetzt?“

„Nein“, fuhr Erika ihn barsch an. „Wir wollen nicht zu sehr auffallen.“

„Ja“, seufzte Gabriel. „Darin liegt unser Problem.“

Schweigend verließen sie wieder die Stadt. Menschen aller Berufe hasteten durcheinander, ein jeder zu seinem Ziel. Erika fühlte sich auf andere Weise unsichtbar als sonst. Statt sich zu verbergen und als nächtlicher Schatten zu tarnen, mischte sie sich ohne schlechtes Gewissen unter die Nachmittagsbevölkerung. Sie wandte sich nach Gabriel, der neben ihr ging und hochkonzentriert die Luft der Freiheit zu wittern schien wie ein Hund die Fährte. Er war entspannt als sei er diese Straße schon immer gegangen als der, der er heute war. Niemand sprach sie an. Ihre Tarnung schien perfekt. Erika jedoch hätte schreien können vor Furcht. Die Schergen des schwarzen Fürsten mussten schon längst hinter ihnen her sein.

„Wir sind wandelnde Tote“, war sich Erika bewusst. Irgendwo lauerten sie, und auch wenn sie und Gabriel die besten waren, die Natas je gehabt hatte: Die Anderen würden sie durch ihre Anzahl zu Tode hetzen. Das ganze Land diente Natas und Maagi. Nirgends würden sie sicher sein. Todgeweihter als in Maagis Gemächern, wo jedes falsche Wort den Kopf kostete. Kein noch so richtiges Wort würde sie jemals retten können und immer wenn sie einen Mörder des Fürsten enttarnten und unschädlich machten, schob es ihr unvermeidliches Ende nur hinaus. Früher oder später würden sie sterben, schätzungsweise vor dem nächsten Sonnenuntergang. Leute, die wie sie alle unterirdischen Gänge und alle intimen Geheimnisse des Fürstenpaares kannten und frei herum liefen, mussten sterben. Allein schon, um an den Überläufern ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Und dabei waren sie noch nicht mal in den Dienst des Guten getreten, sondern mit sinnlosen Reden und obskuren Anweisungen abgespeist worden.

Als sie unbehelligt die Stadttore hinter sich hatten, schickte die Sonne sich an, hinter den Bergen zu versinken.

„Bei Li B vergeht die Zeit sehr schnell“, bemerkte Erika.

Gabriel lachte: „Ja, allerdings!“ Und dann konnte er nicht mehr aufhören und lachte und lachte. Erika blickte ihn von der Seite an und sah seine schönen weißen Zähne, die Haut um seine Augen bebte, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte. Gabriel japste und keuchte und taumelte, und als er wegen Atemnot zu lachen aufhören musste, kicherte er noch lange albern vor sich hin.

Erika fröstelte. Sie verstand das alles nicht. Sie wollte fort aus diesem Albtraum mit irren Menschen, die sich nicht verhielten, wie sich das für Jäger und Gejagte gehörte. Doch wohin? Zurück in Maagis Gemächer, in die unterirdischen feuchten Gänge, zu ihren nächtlichen Todeszügen? Oder vorwärts zu ihrem Ziel, das sie noch nicht kannte?

„Wohin gehen wir?“ fragte sie abrupt, als sie das freie Feld hinter sich ließen und in den Wald tauchten.

Gabriel antwortete wie selbstverständlich: „Zu Ho Nung.“

Das war genau der Ort, wo sie am wenigsten sein sollten, weil man dort zuerst nach ihnen suchen würde. Oder vielleicht war es genau darum schlau, sich dort aufzuhalten?

Es war bereits dunkel, als sie zur Schafweide unter der Heiligen Quelle zurückkehrten. Doch sie sahen Ho Nungs Feuer, sobald sie den Wald hinter sich ließen. Die Wiese fühlte sich saftig und weich an unter ihren Füßen und duftete nach der Stille des Abends. Erika hatte auch dies noch nie getan: in dunkler Nacht auf ein Feuer in der Ferne zuzugehen und dann offen in den Flammenschein zu treten.

„Guten Abend, Ho Nung“, grüßte Gabriel.

Ho Nung blickte vom knackenden Feuer auf, über dem in einem rußigen Dreibein ein runder Kessel hing, in dem sie rührte. Erika fand, dass sie nun älter aussah als heute Mittag im Sonnenlicht. Es roch nach Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Erika schmerzten der Mund und der Magen und ihr fiel ein, dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Ein üppiges, spätes Frühstück aus Eiern und frischem Brot, das sie mit Maagi eingenommen hatte, die nicht gern alleine aß. Heute Morgen, als die Welt noch in Ordnung schien, weil Erika wusste, auf wessen Seite sie stand.

„Setzt euch“, antwortete Ho Nung. „Ihr kommt gerade rechtzeitig.“

Erika wunderte sich über nichts mehr, fragte sich aber beim Hinsetzen, ob es nicht gerecht wäre, wenn Ho Nung ihnen vergifteten Eintopf vorsetzen würde.

Ho Nung fing mit kindlicher Stimme an zu erzählen, wie heute Morgen die beiden Pferde die Schafe beschnupperte hatten und die Schafe erschreckt davon stoben. Das wiederum erschreckte die Pferde, und sie wären über die Wiese davon galoppiert, was wegen der vielen Schafen nicht ging, so dass sie nicht fliehen konnten, ohne auf eines zu treten. Und so gewöhnten sich die Tiere allmählich aneinander. Gabriel lachte bei jedem Satz, selbst bei denen, die gar nicht witzig waren. Er schien dreiundzwanzig Jahre nachholen zu wollen, in denen er nicht gelacht hatte. Er war an seinem Ziel. Er war frei. Erika jedoch fühlte sich ausgeschlossen. Was tat sie hier? Warum konnte sie nicht über die kleinen Scherze lachen? Warum fühlte sie sich derart unwohl, obwohl dies der einzige Tag ihres Lebens war, an dem sie das Recht dazu hatte?

Ho Nung füllte vier Blechschüsselchen mit dem Eintopf, der nach Zwiebeln, Fleisch und diversen Gewürzen roch. Sie reichte das erste an Erika, die rechts von ihr saß, und das zweite an Gabriel links. „Und für wen ist das vierte?“ fragte Erika.

„Für Josua“, erwiderte Ho Nung beiläufig. Sie reichte es an Gabriel, und der gab es weiter an den König. Erika erschrak. Sie hatte den Mann nicht kommen sehen. Sie erkannte ihn selbst in dem Flackerlicht des Lagerfeuers, denn sein Porträt prägte alle Münzen, die durch ihre Hände gegangen waren: Josua der 206te, König von Quell-Tal. Und er saß hier mit ihnen auf einer Schafweide und aß Zwiebeleintopf. Er lächelte, wünschte fröhlich „Guten Appetit“ und begann schweigend zu löffeln. Erika tat es ihm nach, doch ihre Hände zitterten. Gabriel grinste ihr über seinen Napfrand hinweg zu. Er schien diese verrückte Welt für ein amüsantes Abenteuer zu halten. Sie tat das nicht.

Sie betrachtete unauffällig den König von der Seite. Er trug sein lockiges schwarzes Haar etwas zu lang und dazu einen gekräuselten Vollbart. Lachfältchen in den Augenwinkeln machten ihn sympathisch. Sein schlichtes langes Gewand war wohl einst weiß gewesen, nun aber etwas schmuddelig und am Kragen ausgefranst.

Nachdem König Josua seine Schüssel geleert hatte, reichte er sie an Erika, die sie an Ho Nung weitergab. Ho Nung fragte: „Noch eine Portion?“ doch der König wehrte ab: „Herzlichen Dank, Ho Nung. Er schmeckt köstlich, aber ich kann nicht mehr.“

Erika und Gabriel waren ebenfalls fertig, denn es gehörte sich nicht, eine zweite Portion zu nehmen, wenn der König mit einer zufrieden war. Nur Ho Nung schöpfte sich ein zweites Mal und aß wie selbstverständlich.

Josua erklärte, an Erika gewendet: „Hier ist es viel gemütlicher als in meinem Thronsaal. Ich bin oft hier draußen unterwegs bei meinem Volk.“

In Erika begehrte es auf, sie wollte sich nicht Untertanin nennen lassen. Und dabei war sie genau das. Indem sie vor Fürst Natas geflohen war, hatte sie sich unter den Schutz des Königs gestellt. Des offiziellen Herrschers von Quell-Tal, dessen Bewohner alle seine Untertanen waren, abgesehen von dem Hofstaat des Fürsten Natas. Und auch diese lebten oft unerkannt unter der übrigen Bevölkerung und wurden nur zu besonderen Aufträgen herangezogen.

Josua lachte: „Im Palast gibt es so viel Papierkram zu erledigen. Manchmal laufe ich gerne davor davon.“

Höflich lachte Erika über diesen Scherz und fragte sich, was er von ihr erwartete.

Josua wurde wieder ernst und erzählte, während der Feuerschein auf seinem Gesicht tanzte: „Dabei bedeutet König zu sein doch, sein Ohr am Mund des Volkes zu haben. Und seinen Mund am Ohr des Volkes. Ich möchte wissen, wer ihr seid und was ihr denkt und was ich für euch tun kann. Und ob es genug war.“ Er seufzte.

Erika fühlte sich unangenehm berührt von König Josuas Art. Biederte er sich bei ihnen an, um sie zu unbedachten Äußerungen zu verleiten? Was erwartete dieser Mann von ihnen? Schließlich gehörten sie nicht zu denen, die man gewöhnlich als „sein Volk“ bezeichnete.

„Heute Morgen wart ihr also noch bei Fürst Natas“, sagte Josua gar nicht beiläufig, wand die Arme um seine angezogenen Knie und wirkte wie jemand, der sich unwohl fühlte.

Gabriel räusperte sich verlegen.

Entsetzt entfuhr Erika: „Ihr wisst, wer wir sind???“ Dann schlug sie die Hand vor ihren Mund. Niemand stellte unaufgefordert einem König eine Frage. Niemand. Selbst dann nicht, wenn dieser in einem zerschlissenen Gewand neben einem saß und sich gab als sei er ein einfacher Schäfer. Er war es nicht.

Josua legte ihr seine knochige Hand auf die Schulter. „Ja, meine Tochter. Ich weiß, wer ihr seid und was ihr getan habt. Ich verzeihe euch eure Schwäche, denn nun seid ihr ja zurückgekehrt.“

Sie senkte den Blick und fürchtete, in der Feuerhitze zu verglühen. Dieser Mann musste sie hassen. Erst heute hatte sie einen seiner Leute getötet. Und verflucht. Der König musste ihren Tod wünschen. Falls er wirklich von allem wusste, mit dem sie ihm geschadet hatte.

Zwar verkörperte er das Gute. Und doch standen Meuchelmörder in seinen Diensten. Sein gütiges Lächeln und die väterliche Geste waren nur gespielt. Perfider als Fürst Natas’ geschliffene Freundlichkeit. Trotzdem wagte Erika nicht, seine Hand von ihrer Schulter abzustreifen und auf Abstand zu gehen. Sie musste mitspielen und Vertrauen heucheln.

„Ja“, flüsterte Josua, und er klang enttäuscht über das, was seine Hand gespürt hatte. Er zog sie zurück und wiederholte seufzend: „Ich weiß, wer ihr seid. Besser als ihr selbst vielleicht. Aber keine Seele ist jemals verloren.“ Er wandte sich an Ho Nung und fragte: „Über wen freut sich ein Schäfer mehr? Über die braven Schafe, die immer bei der Herde bleiben, oder über die, die verloren gegangen waren und wieder gefunden wurden?“

„Über diejenigen, die der Schäfer am längsten gesucht hat. Diejenigen, deren Lage schon aussichtslos war, weil sie am Abgrund standen oder ein Stück weit gefallen waren.“

Josua nickte zufrieden. Erika hakte nach: „Und wir beiden sind solche Schafe?“

Josua lächelte: „Ja, ja, genau!“

Er schien in Erklärlaune zu sein. Darum fragte Erika: „Herr, ich habe heute einiges gehört, was ich nicht verstand.“

Josua neigte sich ihr entgegen, mit aufmerksam auf sie gerichtetem Blick seiner dunklen Augen: „Frag.“

„Wer ist Li B?“

Josua lachte. „Eine sehr gute Frage! Ja, wenn du das verstehst, dann erklärt sich alles andere von selbst. Dabei weiß niemand so recht, wer sie ist. Mal ist Li B jung und schön, manchmal alt und hässlich, und manchmal ein hilfloses Kind.“

Erika fröstelte. Woher wusste er, dass sie sich eingebildet hatte, sie in diesen Gestalten gesehen zu haben? „Aber wie kann ein Mensch mal alt sein und dann wieder jung werden? Wird Li B wiedergeboren?“

Josua schüttelte den Lockenkopf und erklärte: „Sie ist nicht um ihrer selbst willen in dieser Welt, und sie wird dauernd neu erschaffen von denen, die lieben.“

„Das verstehe ich nicht.“

Josua grinste. „Li B stößt die Leute nicht gerne darauf. Sie will, dass jeder selbst darauf kommt und sie erkennt. Wie eine alte Schauspielerin, die seit zwanzig Jahren auf keiner Bühne mehr stand und doch von jedermann erkannt werden will.“

„Li B ist eine Schauspielerin?“ fragte Erika. Das wäre eine halbwegs verständliche Erklärung für manches.

Doch Josua schüttelte den Kopf. „Li B ist kein Mensch.“

„Sie ist eine Göttin?“

Josua schüttelte wieder den Kopf. „Ich gebe dir einen Hinweis: Sie ist ein Gefühl.“

„Wie kann…“, begann Erika. Dann schwieg sie. Ein Gefühl. Die Erkenntnis brach über ihr zusammen wie eine Woge und sie glaubte, husten zu müssen. Sie war der Personifikation der Liebe begegnet! Fieberhaft versuchte sie sich an jedes Wort, jede Geste und jedes Detail des heutigen Gesprächs zu erinnern.

„Oh“, entfuhr es Gabriel. „Ihr habt mir den ganzen Spaß genommen. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, Li B kennen zu lernen. Nun weiß ich ja alles.“

Josua schüttelte wieder heftig den Kopf. „Nein, junger Heißsporn. Du weißt immer noch nichts. Du wirst viel Zeit brauchen. Du musst das Gefühl der Liebe in dir spüren und ganz von ihr durchdrungen sein. Dann erst kennst du sie.“

Erika nickte. Erst dann fiel ihr auf, dass ein Mensch kein Gefühl sein konnte. Und ein Gefühl kein Mensch. Es musste sich um ein Spiel handeln, das ihre Freunde spielten. Oder doch eine Rolle in einem Theaterstück, die sie in ihrer Jugend spielte.

Gabriel rang die Hände, sprach aber nicht. Josua sagte: „Geduld, junger Freund. So können wir dich auf keinen Fall auf die Welt los lassen. Wer die Liebe nicht kennt, ist gefährlich. Bleibe bei Ho Nung, lerne das Schafehüten, sprich mit Li B und der Rest ergibt sich.“

„Und was soll ich tun?“ fragte Erika ungeduldig.

Josua wandte sich ihr zu und fragte: „Was sagte Li B?“

„Sie drückte sich nicht sonderlich klar aus. Sie sagte nur, ich könne dir nicht als Meuchelmörder dienen, weil ich die Logik der Liebe nicht verstehe. Weil ich etwas für Liebe halte, das keine ist.“

„Dann musst du also erst die schmerzhaften Bande lösen, die deine Seele binden, und dann die Liebe kennen lernen?“

„Keine Ahnung. Fragt sie selbst, mein König.“ Ein kaltes Gefühl packte Erika. Angst? War dies die Furcht, die sie ihr Leben lang nie fühlte? Weil sowieso alles gleichgültig war für ein unsichtbares Kind?

„Li B wird Recht damit haben“ erwiderte Josua. „Du musst erst noch einiges lernen. Wenn du bereit bist, in meinen Dienst zu treten, werde ich dich finden.“

Erika lag ein Fluch auf der Zunge. Stattdessen beherrschte sie ihre Wut, wie sie das immer tat gegenüber Mächtigen und fragte unterwürfig: „Habt Ihr keinen klaren Auftrag für mich?“

„Nein“, er bestand darauf. „Du musst erst noch lernen.“

„Aber wo? Von wem? Wie?“ fragte Erika hastig, die fürchtete, morgen früh allein in der Wildnis zu erwachen und nicht zu wissen, wohin.

Erika wartete, aber Josua blickte nur nachdenklich in das flackernde Feuer als habe er vergessen, worüber sie eben gesprochen hatte und dass sie noch auf seine Antwort wartete. Sie wurde wütend auf diesen dummen König, der nicht wusste, eine scharfe Waffe wie sie sinnvoll einzusetzen. War das nicht seine ureigenste Aufgabe, seinen Untertanen zu sagen, wofür er sie brauchte? Wenn er nicht wusste, wie sie dem Guten am besten dienen konnte, wer sonst? Und wurde das Leben eines einzelnen Menschen nicht erst dadurch wertvoll, dass es ein tragender Stein in einem größeren Gebäude war?

„Nicht verzweifeln“, beruhigte er sie. „Du wirst deinen Weg finden. Die Liebe und Weisheit ist überall, sie findet dich, wenn du dich finden lässt.“

„Das geht nicht!“ rief Erika verzweifelt. „Ich muss doch etwas tun können!“

Danach sprachen sie alle kein Wort mehr. Die Holzscheite knisterten und sprühten Funken, wenn einer zusammenbrach. Schließlich fragte Erika: „Verzeiht meine Frage, Gebieter, aber wie steht Ihr zu Li B?“

Josua schmunzelte. „Sie ist einer meiner Ratgeber. Und doch muss man ihren Rat vorsichtig prüfen. Wer hätte je Li B eine weise Frau genannt? Nein, sie hat viele Gesichter. Manchmal ist sie weise, manchmal ein albernes Mädchen. Sie ist herzensgut, aber sie schmiedet ein wenig zu gerne süße Geheimnisse, stellt Menschen auf die Probe und gibt ihnen gerne Recht. Niemand kann sich auf ihren Rat verlassen. Das musst du doch wissen.“

Erika nickte. Die Liebe hatte sie gegenüber Gabriel blind gemacht. Und dann dachte sie doch an den jungen, dunkelhäutigen Soldaten, den sie nie wieder gesehen hatte. Dieser Glao Bej hatte sie angehimmelt und sich damit lächerlich gemacht. Er war ein Anfänger und sie ein Profi. Er hatte keine Chance bei ihr gehabt, aber er hatte es viel zu spät begriffen.

Keiner sprach. Die Zikaden zirpten unermüdlich ihre kleinen Weisen, die nur sie selbst verstanden und die die Gesprächspause der vier Menschen betonend untermalten und ins Unendliche auszudenken schienen.

„Herr“, begann Gabriel mit demütig gesenktem Blick leise. „Ich möchte Euch über Natas erzählen.“ Erika fiel auf, dass er Natas seinen Titel nahm. Gabriel fuhr fort: „Stellt mich auf die Probe, Herr.“

Erikas Augen brannten. Wenn Gabriel vor dem gefährlichen Fürsten Natas im Staub kroch, hatte das sie weniger geschmerzt als ihn vor diesem wunderlichen Weisen kuschen zu sehen. Er hätte sich weigern können zu reden und es wäre ihm nichts geschehen. Josua hätte Geduld mit ihm gehabt. Doch stattdessen biederte Gabriel sich an und bot, was nicht gefordert wurde. Hatte er es nötig, sich zu beweisen? Oder wollte er vor sich selbst endgültig den Verrat vollziehen?

„Bewundert ihr ihn?“ fragte Josua und meinte sie beide damit.

„Herr!“ rief Gabriel verwundert aus und antwortete nicht.

„Ja“, gab Erika zu. „Seine Macht reicht weit und er kennt die Schwächen der Menschen. Niemand kann ihn belügen und er kommt jedem Verrat zuvor. Niemals hat seine Hand gestockt, wenn es darum ging, ein Leben zu beenden, oder seine Stimme versagt, wenn er ein Urteil fällte. Er weiß, was er tut, und er tut es sofort. Jedem ist klar, woran er bei ihm ist.“ Sie hatte Josua nicht dabei angesehen, als sie so sprach. Sie vermutete, dass er verstehen würde, dass sie genau dies alles nicht bei ihm fand. Doch sie wagte so zu sprechen, weil sie Josua nicht fürchtete. Für weniger Kritik schon hätte Natas ihr die Zunge herausreißen lassen oder das Herz. Nicht Josua, er würde verzeihen. Sie fühlte eine ohnmächtige Wut, diesen Mann zu packen und zu schütteln, bis er zu schreien und zu fluchen begann. Neben ihm fühlte sie sich schmutzig, wütend, ungeduldig und dumm.

„Ich verstehe“, sagte Josua schließlich ruhig, nachdem sie alle betroffen geschwiegen hatten. „Ich verstehe dich, Erika.“ Das hätte eine Drohung sein können, doch Josuas Stimme klang sanft.

„Wenn Natas uns findet“, erinnerte Gabriel sie daran, „werden wir sterben.“

„Du fragst dich sicher“, sagte Josua, „was ich täte, wenn meine Leute so zu Natas überlaufen und mit ihm sprechen würden?“

Erika wagte zu höhnen: „Euch über ein verlorenes Schaf freuen, wenn so einer zurück kriecht? Erst muss es ja verloren gehen, damit man es wieder finden kann.“

„Nein“, erwiderte Josua scharf. „Nur das Wiederfinden erfreut mich. Wenn ich ein Schaf verliere, weine ich darum.“

„Und was tut Ihr, um es wieder zu gewinnen? Welcher Art ist Eure Macht, Majestät?“

„Nicht Furcht“, antwortete Josua traurig. „Sie kommen von selbst zu mir zurück. Weil ich der König bin, der sie liebt. Und weil mich zu lieben sie glücklich macht.“

Liebe? Erika sah ihn an. War das etwas, wonach sie strebte? Dass ihr König sie liebte? Maagi hatte sie verachtet und verhöhnt, wenn sie nicht gerade einen ihrer sentimentalen Tage hatte. Und der Hohn war gerechter als ihr gelegentliches Vertrauen, denn Erika blieb eine Meuchelmörderin, auch wenn sie Maagis Speisen vorkosten durfte.

Gabriel räusperte sich. „Aber wenn einer zurückkehrt“, fragte er vorsichtig, „fürchtet Ihr nicht, dass er Euch abermals verraten wird?“

„Doch“, antwortete Josua. „Aber ich muss mit meiner Furcht leben können, sonst wäre ich kein guter König.“

Erika wagte nicht zu widersprechen, denn sie hatte schon zu viel gesagt. Und König Josua alles verstanden. Er war nicht so naiv wie er sich stellte. Und doch fand sie, dass Fürst Natas eben darum ein guter Herrscher war, weil er so misstrauisch auf sein eigenes Wohlergehen achtete und kein Risiko einging. Dass König Josua noch lebte, grenzte an ein Wunder. Es mochten ihn alle seine Untertanen lieben. Alle bis auf einen, und dieser eine könnte sein Tod sein. Leichtsinnig von ihm, auf das Gute in den Menschen zu vertrauen, wenn es um sein Überleben ging.

„Das Gute und das Böse“, erklärte Josua, „folgt unterschiedlicher Logik. Ihr müsst noch viel lernen.“

„Ja, Herr“, sagte Gabriel. „Werde ich die Logik des Guten verstehen, wenn ich Li B verstehe?“

Josua lachte erfreut. „So ist es, mein Sohn.“

Erika fühlte sich schlecht, als Gabriel gelobt wurde. Er begann, seine Gedanken nach denen Josuas zu richten. Das machte Erika eifersüchtig und gleichzeitig überheblich, weil Gabriel so leicht aufzugeben bereit war, was bisher sein Überleben gesichert hatte. Ob er auch mit Josua ins Bett steigen würde, so wie mit Natas?

„Tut mir leid“, sagte Josua und beugte sich zu Erika, ohne sie erneut zu berühren, „dass du noch nicht ganz bei uns angekommen bist. Aber du bist jederzeit willkommen, meine Tochter.“

Schließlich reckte Josua seine Beine, stellte fest, dass es spät geworden sei und verabschiedete sich. Ho Nung brach gemeinsam mit ihm auf zu einer Runde um die Herde, um nach dem Rechten zu sehen.

Als sie allein waren, stellte Gabriel enttäuscht fest: „Er hat uns nicht viel gefragt.“

Ironisch erwiderte Erika: „Und dabei warst du so begierig darauf, ihm alles zu berichten, bis hin zu den Bettgeschichten, nicht wahr?“

Gabriel wand sich unangenehm berührt ab. „Nein“, sagte er schließlich, „nicht das.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. Sie war zu weit gegangen. Gabriel sprach nie über das, was sich zwischen ihm und dem Fürsten abspielte, wenn sie allein waren.

„Warum magst du den König nicht?“ fragte Gabriel.

„Ich verstehe ihn nicht“, antwortete Erika. „Kommt er dir nicht weichlich vor? Und seltsam?“

„Er sagt doch, dass Gut und Böse unterschiedlicher Logik folgen.“

„Und verstehst du seine?“

„Noch nicht“, gab Gabriel zu und sah sie über das Feuer hinweg an. „Aber ich vertraue darauf, dass ich sie mögen werde.“ Er lächelte. „Man sagt, sie macht glücklich.“

„Hm“, machte Erika und fragte sich, wer solche Dummheiten zu ihm gesagt haben könnte. Vermutlich war es dieses Vertrauen, das ihr fehlte.

„Aber eines hat mich an ihm gestört“, gab Gabriel zu. „Dass er so hässliche Dinge über Li B sagt. Und ich glaubte, sie sei seine wichtigste Ratgeberin.“

„Vielleicht hat Li B ihre Bedeutung am Hof übertrieben? Das tun viele.“

„Sie ist nicht albern“, erwiderte er und klang wie ein trotziger Knabe. Wie ein Verliebter.

Erika rätselte: „Vielleicht besteht deine Aufgabe darin, auch die alberne Seite der Liebe achten zu lernen. Alle ihre Gesichter.“

„Unsinn. Ich kenne sie besser als er.“

„Wann hast du sie gekannt?“

„Als Kind. Natürlich war ich nie in ihrem Haus und sprach nicht mit ihr. Aber ich habe sie beobachtet, und ich kenne sie gut.“

„Du hast sie beobachtet, aber du warst ihr nie nahe.“

„Das brauche ich nicht, denn ich bin ein guter Beobachter.“

Erika erwiderte nichts mehr darauf, dachte sich aber, dass ihr nun klar war, was mit Gabriel nicht stimmte. Er hatte nur immer zugesehen, hatte aber selbst nie geliebt. Nur leider war sie nun, nachdem Josua gegangen war, nicht mehr so sicher, dass sie ganz begriffen hatte, was ihr selbst fehlte. Gabriels Liebe. Doch es gab nichts, das sie tun konnte, um dieses Ziel zu erreichen. Sie seufzte. Vermutlich würde es sie auch nicht glücklich machen, die wankelmütige Liebe dieses in sich gekehrten Menschen zu gewinnen.

Fürst Natas

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