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Kapitel 3: Gehetzt

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Einen Tag in Freiheit zu verbringen, ist eben doch nicht so einfach wie Erika dachte. Am Morgen hatten Gabriel und sie sich getrennt, und er war wieder kühl gewesen wie stets. Nur in dem kurzen Moment, als er sie bei der Quelle überreden wollte, da war er feurig, redselig und zärtlich gewesen. Nun war er wieder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, die er nicht mit ihr teilte.

Da Erika nicht bei Gabriel bleiben sollte, Gabriel aber bei Ho Nung, war es Erika, die sich ihren Platz in der Welt suchen sollte. Sie plante, in die Stadt zurück zu reiten und dort zwischen den vielen Menschen unsichtbar zu werden und zu lernen. Dazu würde sie das Wäldchen zwischen Schafweide und Stadt durchqueren müssen. Der Bach, der von der Heiligen Quelle gespeist wurde, wand sich in großen Schleifen ins Tal durch die fetten Wiesen. Unten lief er dann durch das Wäldchen, das von der Stadt immer weiter zurück gedrängt wurde, weil die Stadt Brennholz benötigte und Felder. Erikas Pferd betrat vorsichtig den grünen Teppich, denn es schien nicht gewohnt zu sein, dass seine Hufe im Überfluss versanken. Und Erika selbst wandte sich immer wieder nach Gabriel um. Sie konnte sich kaum von seinem Anblick lösen, wie er mit Ho Nung gemeinsam scherzte und die Schafe den Hang entlang trieb, wobei beide etwas hinkten, weil am Hang das eine Bein länger zu sein scheint als das andere. Erika wusste, dass man nicht zurück blicken soll, wenn man vorwärts will. Sie wusste auch, dass ein Pferd dahin geht, wo der Reiter hin blickt. Und tatsächlich blieb es stehen, senkte den Kopf und naschte am Gras. Erika riss sich zusammen, sammelte die Aufmerksamkeit des Pferds mit den Zügeln wieder ein und trieb es zu einem zügigen Reisetritt.

In der Nähe des Bachs versank das Pferd dermaßen tief mit den Hufen zwischen Gräsern und Sumpfdotterblumen, dass es kleine erschreckte Hopser machte. „Ruhig, Brauner“, murmelte Erika und klopfte ihm den Hals. Sie lenkte den Wallach in einem weiteren Bogen um die Bachwindung herum. Über das Rinnsal zu springen wagte sie nicht, da in seiner Nähe offensichtlich der Boden durchweicht war. Eine Gänsehaut zog sich über ihre Unterarme, sie wusste nicht wieso. Mehr als Feuchtigkeit im Boden hatte sie nicht zu befürchten. Glaubte sie. Dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Sie durfte nicht beginnen, ihren Instinkten zu misstrauen. Irgendetwas stimmte tatsächlich nicht. Sie blickte wieder den Berg hinauf. Gabriel schien schon sehr weit fort zu sein. Er blickte ihr nicht nach, für ihn war sie bereits fort. Und wenn etwas passierte, könnte er ihr von dort oben ohnehin nicht helfen. Sie war allein.

So allein wie nie in ihrem Leben. Stets war sie Teil einer Gemeinschaft gewesen. Erst der Gruppe von Kindern, die sich im Verbrechen übte, dann Teil des Hofstaats der Fürstin Maagi. Nun gehörte sie zu verrückten Leuten wie Li B, Ho Nung und Josua, und ihren anderen Verbündeten war sie nicht vorgestellt worden. Man würde einander nicht einmal erkennen, wenn sie sich begegneten und würde sich womöglich töten. Gut und Böse musste sich nun gegen sie stellen, denn jeder musste sie für seinen Feind halten. In welche Lage hatte sie sich gebracht! Und es war Unsinn gewesen, tagsüber alleine los zu reiten. Als sie mit Li B und mit Josua sprach, da klang es schön und richtig, ihren eigenen Weg zu gehen. Doch ihn allein zu gehen, könnte sie das Leben kosten.

Sie hielt an. Das Pferd spitzte die Ohren und blähte schnüffelnd die Nüstern, und Erika tat es genauso. Der Wind raschelte in den Grashalmen, und alle Geräusche waren im Einklang mit den Windböen und deren Stärke. Kein Fußtritt oder schwerer Atem mischte sich darunter. Alle Gerüche gehörten zu den Pflanzen, zu ihr oder dem Pferd. Keine Bewegung war eine andere als die der Wind hervorrief oder das Schwirren kleiner Flügel. Kein großes Wesen war unterwegs, keine schwarzen Augen beobachteten sie. Und doch war etwas hier. Etwas Bedrohliches.

„Ja, dein eigener Schatten“, schalt Erika sich selbst.

Da sprang er aus dem Bach. Mit einem Satz, wie ihn ein Lachs macht, um über einen Felsen zu springen, schoss etwas aus dem Wasser, spritzte und flog auf sie zu. Das Pferd schrie auf und sprang zurück. Erika ließ sich herabgleiten und hing nun mit einem Fuß im Steigbügel, ihren Körper hinter dem Leib des Pferdes verborgen. Ein Ruck ging durch das Tier, dann stolperte es, drehte sich schreiend im Kreis und Erika wusste, dass der Mörder auf der anderen Seite hing und das Pferd tötete. Sie sprang herab, bückte sich, ließ das Pferd über sich hinweg kreiseln und da hing der Mann: am anderen Steigbügel, das blutige Messer schon wieder in der Hand. Doch Erika war schneller. Sie erwischte mit dem Dolch seine Schulter, so dass er seine Waffe fallen ließ und mit einem Ächzen zu Boden sank. Das Pferd stolperte davon, dann hörte man es zusammen brechen. Die Erde bebte. Erika warf sich auf den Mann, den Ellenbogen auf seinem Adamsapfel. Er riss die Augen auf. Sie kannte ihn. Er war noch jung, sie hatte ihn ausgebildet. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Maagi hatte ihn geschickt. Maagi, nicht Natas.

„Geh nach Hause“, sagte Erika heiser. Sie sah keinen Nutzen darin, den Jungen zu töten. „Geh zu Maagi und sag ihr, dass ich mich entschieden habe. Wenn sie nicht mehr wütend ist, wird sie mich verstehen.“

Der Junge starrte sie nur mit weiten Augen verständnislos an.

Erika stand auf und wiederholte: „Geh nach Hause. Und bring Maagi meine Nachricht.“

Er rappelte sich langsam zum Sitzen hoch und griff nach seinem Messer, das im Gras lag. „Behalt es“, sagte Erika. „Du solltest es stecken lassen bis du zu Hause bist.“

„Macht keinen Sinn“, keuchte er, ohne sie anzusehen. „Kann nicht gehen.“

„Oh doch, du kannst!“

Er saß da und schüttelte nur den Kopf, die Zähne aufeinander gebissen. Er war noch so jung. Etwa sechzehn Jahre. Es war beleidigend, dass sie ihr einen Anfänger nachsandte. Doch Maagi würde als nächstes bessere als ihn schicken.

„Leider kann ich dir kein Pferd anbieten“, höhnte Erika. „Also geh zu Fuß. Es ist ja nicht weit.“

„Aber warum?“ fragte er und sah sie nun mit großen runden Augen an. Er hatte schöne lange Wimpern wie ein Mädchen, doch der Rest seines Gesichts war hager. Sie glaubte sich zu erinnern, dass er aus demselben Stadtviertel stammte wie sie.

„Warum ich dich leben lasse? Weil ich jetzt auf der Seite der Guten bin. Ich töte nur noch aus Notwehr.“

Er verstand das nicht, doch er widersprach nicht. Kluger Junge.

Erika ging in die Hocke, wobei sie den Kleinen nicht aus den Augen ließ. Dann hob sie sein Messer auf. „Behalt meins, ich nehme deins“, sagte sie. Dann wandte sie sich ab. Ihr Pferd lag auf dem Boden und schlug zuckend mit den Beinen. Sie ging hin und kniete sich daneben. Der Junge hatte eine Arterie erwischt, und daraus strömte nun pulsierend das Blut. Erika versuchte gar nicht erst, den Blutfluss zu stoppen. Sie beugte sich über den Hals des Tieres, strich ihm beruhigend über den Hals und den Kopf. Es rollte die blutunterlaufenen Augen. Dann schnitt sie mit einem geübten Schnitt seine Halsschlagader auf. Noch mehr Blut quoll heraus, doch das Tier würde bald ohnmächtig werden und ruhig sterben. Erika seufzte.

Dann fuhr sie herum, mit ausgestrecktem Arm und warf den Jungen zu Boden. Er fiel auf die Seite ins Gras und schrie auf. Weniger aus Schmerz als aus Enttäuschung. Seine Rechte umklammerte noch immer Erikas Messer.

„Dummkopf“, zischte sie und entwand ihm ihre eigene Waffe. „Du brauchst keine Messer mehr. Du wirst sterben.“

Er lag da und weinte. Sein dummer Stolz hatte es nicht zugelassen zu gehen und den Auftrag unerledigt zu lassen.

„Ich kann nichts für dich tun“, sagte Erika. „Oder soll ich dich zum Schloss tragen? Lass Maagi für dich sorgen.“

„Das tut sie bereits!“ sagte eine kalte Frauenstimme. Erika stockte das Herz, sie richtete sich auf, und sie sah Maagi auf ihrem schwarzen Pferd mit dem weißen Zaumzeug. Maagi lachte. „Glaubst du, ich schicke dir nur einen einzigen Mann? Dazu bist du zu wertvoll.“

Erika sträubten sich die Haare im Nacken, denn wie aus dem Nichts spürte sie plötzlich, dass sie umzingelt war. Aus dem Augenwinkel sah sie Männer, die einen Kreis immer enger um sie zogen. Wollten sie sie töten oder nur fangen? Wahrscheinlich fangen und später töten. Vor den Augen des gesamten Hofes, zur Abschreckung.

Erika wirbelte herum und rannte. Maagi lachte. Zwei Männer stürzten sich auf Erika, doch sie schlug um sich und entwand sich den zupackenden Griffen, die an ihr keinen Halt fanden. Sie rannte den Hang hinunter und hörte sich verfolgt von Reitern. Die Erde bebte, das Gras raste unter ihr vorbei, ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren, und gleich würde sie stürzen und niedergetrampelt werden. Die Furcht verlieh ihr Flügel. Ihr eigenes Keuchen erschien ihr unanständig laut. Sie würde sterben. Nach einem Tag der Freiheit war es schon vorbei. Das Schatten eines Pferdes fiel von links auf sie. Der Reiter rechts neben ihr hielt ein Netz in seinen Händen bereit. Sie war verloren.

Dann blieb sie schliddernd stehen. Die Pferde rasten an ihr vorbei. Der linke Reiter riss die Zügel seines Pferdes herum, doch damit brachte er es nur zum Straucheln, und es stürzte. Der andere ritt einen Bogen nach rechts. Erika rannte los und links an ihm vorbei. Zu Pferd war er wenig wendig, der Mann fluchte, riss sein Pferd wieder herum, dabei verhedderten sich seine Hände in dem Netz. Ihr Vorsprung betrug nur wenige Meter, und es ging wieder auf den Bach zu. Der Boden quietschte nass unter ihren nackten Füßen. Der Reiter überholte sie rechts in einem Bogen und schnitt ihr den Weg ab. Sie machte einen Haken nach links, in den Bach. Dabei trat sie auf eine harte Steinkante und wäre beinahe gestürzt. Der Reiter folgte ihr. Keuchend verließ sie den schmalen Bach und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Wie erwartet versuchte der Reiter einen Sprung. Dabei glitt das Pferd aus und es rumste. Erika blickte sich nicht um, hörte aber ein Fluchen, als der Mann versuchte, sein Pferd wieder auf die Beine zu zerren.

Leider hatte Maagi noch mehr Reiter mitgebracht, die nun von links im Galopp den Hang herunter nahten. Erika rannte weiter bergab, wieder auf den Bach zu, doch bevor sie ihn noch erreichte, riss etwas ihren Kopf zurück und sie stürzte rücklings zu Boden. Sie spürte die Schlingen eines Netzes in ihrem Gesicht und riss daran, während sie sich zur Seite rollte und versuchte aufzustehen. Dann warf sich jemand schwer auf sie, andere folgten und packten ihre Hände und Füße. Sie war verloren.

Sie wurde hochgezogen, ihre Hände gefesselt. Jemand riss sie nur zum Spaß an den langen Haaren und lachte. Dann knufften sie sie in den Rücken, damit sie voran ging. Die Reiter stiegen wieder auf die Pferde, bis auf den, der sie führte. Die Seile waren sehr straff um ihre Handgelenke festgezurrt, ihre Hände schmerzten.

Oben wartete Maagi auf sie. Mit einem Blick sah Erika, dass sie dem verletzten Jungen den Hals durchgeschnitten hatten. Zum ersten Mal verursachte ihr der Anblick einer Leiche Brechreiz.

Maagi grinste und sagte: „Er war ein Versager. Aus ihm wäre nie ein nützlicher Mörder geworden.“

Und aus ihr würde auch keiner mehr. Sie war des Todes. Erika fragte sich, ob Gabriel das alles mit angesehen hatte, doch sie wagte nicht, nach der Schafherde Ausschau zu halten, um Maagis Aufmerksamkeit nicht dorthin zu lenken.

Sie führten Erika zurück zur Burg des Fürsten Natas. Ihre Füße waren taub als seien sie nicht mehr ihre und hinterließen dunkelrote Flecke auf den Steinen des Weges. Kaum konnte sie mit den Pferden Schritt halten und sie musste immer wieder laufen. Auf keinen Fall durfte sie stürzen. Man hätte nicht auf sie gewartet, sondern sie geschleift. Das war ein kurzer Ausflug in die Freiheit gewesen!

Fürst Natas

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