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VI. Näher am Abgrund

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Verdammt, ich hatte es mir selbst zuzuschreiben. Hätte es ahnen müssen. Gegen zwei Prinzipien verstoßen. Grundlegende Dinge, die mein Leben zusammengehalten hatten. Shit! Keine Fotos mehr – was war so schwer daran? Die waren immer ein schlechtes Zeichen, nichts Neues also. Keine krummen Touren mehr. So etwas wie den perfekten Dreh gab es einfach nicht. Und die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Aber irgendwann wusste man es immer besser. War sich sicher. Hatte alles im Griff. Redete sich den ganzen Mist ein. Warum? Klar, ich wusste, weshalb. Nicht wegen dem Geld. Wäre es nur das gewesen … Nein, ich musste das zu etwas Persönlichem machen. Jeder Anfänger kapierte, dass Emotionen dich nur tiefer in die Scheiße ritten.

Dolores wäre bitter enttäuscht. Alles, was sie mir beigebracht hatte, war wegen Wut und Eifersucht über Bord gegangen. Verdammt unprofessionell, etwas, das sie niemals war. Ich konnte sie fast hören: „Niemals Persönliches und Job vermischen, Gideon. Niemals!“ Ja, …

Ich fragte mich ernsthaft, ob sie wegen mir heulen würde. Dolores weinte nie, nicht aus sich heraus. Zumindest hatte ich sie nie dabei gesehen. Nur für ihre Rollen. Sie war wütend, eingeschnappt, frustriert, traurig, aber … ich konnte mir nie sicher sein, ob das nun Teil ihrer Muttermaske wahr, oder wirkliche Gefühle. Und es gab bei uns niemand, der uns ansonsten in irgendeiner Form nahe gestanden hätte. Keine verdammten Todesfälle in der Familie. Nur uns beide, solange ich denken konnte. Also musste es ihr einfach etwas ausmachen, oder? Oder?

Bodo hievte mich über den Rand, die scharfe Felskante schnitt in meine Seite, meine tauben Hände fanden keinen Halt. Der beschissene Abgrund sprang mir entgegen. Der Schmerz in meiner Brust wollte mich umbringen, ehe ich unten aufschlug. Ich bekam keine Luft, mein Herz quetschte sich gegen den Brustkorb, sengende Linien rasten durch meine Eingeweide. Eine Woge von Panik kippte noch oben drauf. Schlimmer als alles, was ich je durchgemacht hatte. Selbst als der Moment, in dem man mein Leben für ein paar Jahre ausgesetzt hatte.

Es musste nur schnell zu Ende sein, jeder Augenblick machte es schlimmer. Der Druck in mir wuchs, presste sich in meine Kehle, in meinen Kopf. Ich war tot und brauchte doch eine Ewigkeit, bis ich im Nichts ankam.

In meinen Lungen brannte es, aber das Feuer brachte mich nur wieder zu Bewusstsein. Erschöpfung und Qual nisteten in meinem Körper, jede noch so kleine Bewegung verursachte mir Übelkeit. Im Licht der Scheinwerfer starrte ich mit aufgerissenen Augen in die Nacht. Der Regen fiel in Schnüren, es wirkte, als würde ich geradewegs in den dunklen Himmel gesogen. Erinnerte an eine Nahtod-Erfahrung, ein dumpfes Schweben, aber die Gedanken waren klar. Ich war eben nicht tot. Scheiße, ich fühlte mich so, aber mehr auch nicht. Stattdessen lag ich auf dem Rücken, meine gefesselten Arme unangenehm verdreht. Keuchte und stöhnte und versuchte, die Kontrolle über meinen zitternden Leib zurückzubekommen.

Neben mir kauerte Josiger, eine Hand noch immer in meinen Gürtel gekrallt, während er sich Regen und Schweiß aus dem Gesicht wischte. Auch er schnaufte heftig. Seine Basecap war verschwunden, das dunkle Haar klebte ihm am Schädel. Und die ganze Zeit über sah er mich an, während ich mich fragte, warum ich nicht mit gebrochenem Genick in der Schlucht lag. Ich war schon so gut wie unten gewesen, hatte den Abgrund unter mir gesehen, gespürt, wie ich überkippte. Ohne Halt. Aber er hatte mich nicht fallen lassen.

„Du verdammtes Arschloch! Mieser, kleiner Drecksack!“ Er schlug mir auf die Brust, vier- oder fünfmal, aber ohne viel Härte. Sein Fluchen ging über mich hinweg, stürzte sich in den Schlund neben mir. Schließlich verließ Bodo die Kraft und er sackte schwer atmend in sich zusammen. „Scheiße!“ Dann, noch einmal, leiser: „Du gottverdammter Scheißkerl.“

Ich sah vom Regenhimmel weg, mühsam zu ihm herüber. Im grellen Licht der Scheinwerfer war sein Gesicht voller Schatten. Ich brachte keinen Laut heraus, meine Kehle war wie zugeschnürt.

Josiger schniefte, dann spuckte er über mich hinweg. „Verdammte Scheiße“, raunte er, sah mich an und schüttelte den Kopf. „Warum machst du so was, Junge? Ich hätte dich fast umgebracht.“

Langsam kehrte etwas Leben in mich zurück. Ich bewegte vorsichtig die Beine, brachte mich in eine erträgliche Position. Meine Hände waren völlig taub, vielleicht hatte der Draht schon alles durchtrennt. Der Blutgeschmack in meinem Mund mischte sich mit der Bitterkeit von Galle. Alles fühlte sich ziemlich schlimm an. Wenn ich noch lange hier lag, durchnässt und frierend, war ich wieder kurz vor tot.

„Weißt du, Marr, ich habe dich immer gemocht. Hielt dich für clever, ganz wie deine Mutter. Ich habe dir einen Job gegeben, mehr als einmal. Alles koscher, nichts, was einem wie dir Probleme bereitete. Und wenn du weiter gewollt hättest … warum nicht? Ich habe es dir angeboten. Gibt genug zu tun in einer Firma wie der meinen. Aber du wolltest frei sein, unabhängig. Zumindest von anderen. Wie deine Mutter. Auch das war okay, ich verstand es. Du bist daraufhin auf die Schnauze gefallen, hast dafür bezahlt. Man sollte meinen, du hättest daraus gelernt …“ Er seufzte gequält: „Aber es ist wohl das verdammte Blut. Du kannst nicht dagegen an.“

Ich war überrascht ob der Bitternis in seiner Stimme. Zudem irritierte es mich, dass er so viele Dinge über Dolores wusste. Die beiden kannten sich, mehr aber nicht. Und wie es bei Josiger selbst war, ahnten ein paar Leute aus dem Milieu, wie er oder meine Mutter ihr Geld verdienten. Nur wurde nie offen darüber gesprochen, eine Art Berufsehre.

Es dauerte etwas, bis ich eine Antwort herauswürgen konnte. Jeder Buchstabe schien mir die Kehle zu zerschneiden. „Fick dich!“ Aber es tat gut. Dafür, dass er mich fast umgebracht hatte, musste ich mir auch noch diesen Mist anhören.

Bodo sah auf, als hätte er ohnehin nicht mit mir gesprochen, dann lachte er röhrend. Fast wie ein Besessener. Die Laute hallten noch in der Schlucht nach. „Du hast Nerven, Junge. Erblasten haben nicht nur Nachteile, was?“ Er schlug sich auf die Oberschenkel, dann wurde er abrupt wieder ernst: „Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt, Marr. Das hoffe ich wirklich. Noch einmal kommst du damit nicht durch. Das weißt du, ja?“

Shit, die Lehrstunde würde ich so schnell nicht vergessen. Ich nickte langsam.

„Gut“, Josiger zog ein Klappmesser aus seiner Jackentasche. Die Klinge war lang und schmal, schimmerte im Licht. Und war kalt, als er sie mir an die Kehle drückte. Ich zuckte unwillkürlich zurück, spürte, wie die Schneide über meine Haut glitt. „Ich will alle Fotos und Negative. Morgen. Du bringst sie mir ins Büro. Keine krummen Touren, kein gar nichts. Wenn du nicht lieferst, bist du tot. Wenn du abhaust, finde ich dich. Verstanden?“

Ich formte ein stummes Ja, wagte nicht, mich zu bewegen. Meine Augen schmerzten, weil meine Lider nicht mal blinzeln wollten. Bei dieser ganzen Geschichte hatte ich mich übel verschätzt. Verdammt übel. Ich verstand nicht an welcher Stelle das passiert war. Oder warum Josiger so heftig reagiert hatte. Nicht mal, warum er selbst mir ein scheiß Messer an die Kehle hielt. Man sollte meinen, er hätte seine Leute dafür.

Okay, ich war die Schlucht nicht hinuntergefallen. Gestolpert, ja, aber irgendwie hatte ich mich gefangen, balancierte über dem Abgrund. Keinen Fehler jetzt, und die Sache würde glimpflich ablaufen.

Bodo knurrte, dann nahm er die Klinge fort und säbelte damit an meinen Fesseln herum. Meine Hände waren immerhin noch nicht abgestorben, denn die Bewegungen peitschten neuen Schmerz hinein. Ich biss die Zähne zusammen, bis der Druck endlich nachließ, zwinkerte die Tränen fort. Rückte herum, bis ich der Schlucht den Rücken zukehrte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Josiger den Draht in den Abgrund schleuderte, das Messer zusammenklappte und einsteckte. „Morgen, Marr, enttäusche mich nicht.“ Sein behandschuhter Finger tippte mir gegen die Stirn, dann stand er auf und stapfte davon.

Ich schloss die Lider, fühlte mich unglaublich erschöpft und leer. Verdammt. Es hätte auch alles zu Ende sein können. Einfach so. Nur, weil ich mich verschätzt hatte. Vor allem aber, weil ich wieder mit Dingen angefangen hatte, von denen ich wusste, dass sie nichts Gutes für mich bedeuteten.

Die Tür des Wagens schlug zu, einen Moment später heulte der Motor auf und das Licht zog sich zurück. Eilte dem Jeep voraus, als er der Straße nach Prezella folgte.

Ich blieb alleine mit Stille, Regen und Schmerz.

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