Читать книгу Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht - Nadine Erdmann - Страница 11

Kapitel 7

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Am Waldrand hatten sich graue Schwaden gebildet, die träge zwischen Büschen und Unterholz hervorwaberten. Nervös kniff Cam die Augen zusammen und versuchte in der zunehmenden Dunkelheit mehr zu erkennen.

Waren das die ersten Schemen der Repeater?

Oder bildete sich in der kühlen feuchten Luft bloß Nebelbänke?

Verbissen zerrte er an den Kabelbindern, die ihn noch immer an den Stuhl fesselten, doch er merkte, wie ihm das Scheuern und Reißen immer schwerer fiel. Seine Arme schmerzten, die aufgeschürften Handgelenke brannten wie Feuer und seine Hände fühlten sich taub an. Trotzdem machte er unermüdlich weiter, weil Aufgeben einfach nicht infrage kam. Außerdem halfen Anstrengung und Bewegung gegen die verdammte Kälte.

Plötzlich wurde es rechts von ihm am Rande der Lichtung heller. Dort, wo einst ein breiter Weg in den Wald geführt hatte, erschienen grau schimmernde Gestalten, die aus den Dunstschwaden zwischen den Büschen und Bäumen zusammenzufließen schienen.

Sofort hielt Cam inne und spürte, wie die Atmosphäre sich veränderte. Knisternde Kälte kroch aus der Richtung der Geister über die Lichtung. Sie legte sich über Gras und Unkraut, überzog sie mit einer feinen weißen Frostschicht und ließ alles um Cam herum erstarren. Sein Atem kondensierte zu weißem Dunst, als er erschrocken auf das unheimliche Schauspiel am Waldrand starrte.

Repeater waren die einzigen Geister, die mit den Menschen, aus denen sie entstanden waren, verbunden blieben. Soweit Forscher es bisher hatten herausfinden können, fehlte ihnen zwar das Bewusstsein für ihr einstiges Ich, doch sie bildeten als Geister ihr früheres Äußeres perfekt nach und durchliefen Nacht für Nacht mehrfach den Moment, der zu ihrer Selbsttötung geführt hatte.

Die Repeater des Tumbleweed Parks waren gute zwanzig Meter von Cam entfernt und schienen sich am Rande der Lichtung zu versammeln. Cam erkannte Frauen und Männer, alt und jung. Die Nebelgestalten trugen lange fließende Gewänder wie Kutten mit weiten Ärmeln und einer Kordel als Gürtel. Jedes Detail war erkennbar: Falten, die der Stoff warf, die gedrehten Bänder der Kordel, nackte Füße in Riemensandalen, die unter dem Saum der Kutten hervorschauten, als die Gruppe sich einer gruseligen Prozession gleich in Bewegung setzte und auf ihn zu kam.

Cam schauderte.

Je näher sie kamen desto deutlicher erkannte er ihre Gesichter. Markante und feine Züge, Bärte, Falten – alles aus gräulichem, leicht durchscheinendem Nebel und doch so detailreich, so individuell, so echt.

Cam musste schlucken. Es war das erste Mal, dass er Repeater in natura sah, und ihr Anblick … Er spürte eine seltsame Vertrautheit, die ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Bei anderen Geistern fiel es leicht, sie als Seelenlose zu sehen und zu vergessen, dass sie aus Menschen entstanden waren. Sie zu vernichten, kostete keine große Überwindung. Doch die Repeater, die langsam über den überwucherten Weg auf den steinernen Festbanketttisch zukamen, wirkten so – so menschlich. Fast, als wären sie noch lebendig. Cam konnte sogar Emotionen in ihren Gesichtern lesen: Vorfreude, Entschlossenheit, manche wirkten seltsam entrückt, als wären sie gedanklich schon in einer besseren Welt, und allen war ein heller Glanz in den Augen gemein, der sie silbrig funkeln ließ.

Wieder lief Cam ein eisiger Schauer über den Rücken.

Das hier war definitiv das Unheimlichste an Geistern, das er je gesehen hatte.

Oder zumindest das Unheimlichste, an das er sich erinnern konnte.

Er konzentrierte sich auf den Repeater, der die Gruppe anführte. Er trug als Einziger eine Kapuze, hielt die Arme verschränkt vor seiner Mitte und hatte die Hände in den weiten Ärmeln seiner Kutte verborgen. Der Mann war groß und stämmig und unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkannte Cam einen Vollbart. Rechts und links an seinen Hüften hingen zwei prallgefüllte runde Beutel, die an die Kordel seiner Kutte geknotet waren. Er führte seine Anhänger direkt auf den Tisch zu, an dessen Stirnseite Cam gefesselt saß.

Die knisternde Kälte, die die Geister verströmten, hatte sich mittlerweile über die komplette Lichtung gelegt und die glitzernden weißen Frostkristalle ließen sie wie eine unwirkliche Winterlandschaft erscheinen.

Es war totenstill.

Repeater gaben keine Laute von sich.

Cam hörte nur das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren und spürte, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug.

Vielleicht bemerkten sie ihn nicht, wenn er sich völlig ruhig verhielt?

Repeater tickten nicht wie andere Geister. Sie gierten nicht danach, sich Lebensenergie zurückzuholen. Die Wissenschaftler sahen den Grund darin, dass ihre Menschen sich das Leben freiwillig genommen hatten, anders als bei Geistern, deren Menschen durch einen Unfall oder ein Verbrechen das Leben gewaltsam entrissen worden war. Repeater schienen für ihre Existenz auch keine Lebensenergie zu benötigen. Alles, was sie brauchten, war die nächtliche Routine, in der sie immer und immer wieder ihren Tod nachvollzogen. Je öfter und länger sie das taten, desto stärker wurden sie, doch ließ man sie dabei in Ruhe, stellten Repeater meist keine Gefahr dar.

Cam verharrte reglos auf seinem Stuhl und hielt die Luft an, um sich nicht durch Atemwolken zu verraten.

Der Anführer war jetzt keine drei Meter mehr vom Tisch entfernt.

Cam konnte nicht anders, als ihn anzustarren.

Diese Gestalt … diese Kutte … die Kapuze …

Der Anblick brachte irgendwas in seinem Inneren zum Schwingen. Wie eine vage Erinnerung, die zu tief vergraben war, um sie zu greifen. Aber er wusste, hätte er sie packen können, wäre es nichts Gutes gewesen, das er ans Licht gezogen hätte.

Der Repeater trat an die Mitte der Tafel, schien einen Moment auf die steinernen Speisen zu starren, dann drehte er sich um und wandte sich seinen Gefolgsleuten zu. Von seiner Position aus konnte Cam wegen der Kapuze nicht erkennen, was der Mann tat, doch er schien mit seinen Jüngern zu sprechen, denn die hatten sich mit etwas Abstand im Halbkreis vor ihm versammelt und sahen so aus, als würden sie ihm aufmerksam zuhören.

Vorsichtig wagte Cam ein paar langsame Atemzüge. Er brauchte Luft und hoffe, dass die Geisterschar durch die Rede ihres Anführers gebannt genug war, dass sie ihrer Umgebung keine große Beachtung schenkten. Wie schon zuvor stand in ihren Mienen Vorfreude, Verzückung und Entschlossenheit, während sie ehrfürchtig den Worten lauschten, die Cam verborgen blieben.

Schließlich zog ihr Anführer seine Hände aus den Ärmeln und hob die Arme. Das schien eine Aufforderung für die Jünger zu sein. Zu zweit, zu dritt oder zu viert begaben sie sich zu den umliegenden Picknicktischen und setzten sich, während ihr Anführer die beiden Beutel von seinem Gürtel löste und vor sich auf den Tisch legte. Er öffnete sie und Cam sah, dass er kleine Phiolen herausholte, die nicht größer als Cams Daumen waren.

Das Gift.

Cam spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, als der Mann die winzigen Fläschchen an seine Anhänger verteilte. Als alle versorgt waren, trat er zurück an seinen Platz vor der Festtafel, hielt seine eigene Phiole in die Höhe und richtete noch einmal das Wort an seine Leute. Die hoben ebenfalls ihre Phiolen und nach einer Aufforderung, die Cam nicht hören konnte, führten alle die kleinen Fläschchen an ihre Lippen und tranken das Gift.

Cams Herz hämmerte jetzt wie wild in seiner Brust. Er hatte gewusst, was passieren würde. Er kannte die Geschichte, die man über die Sekte erzählte, die hier im Tumbleweed Park Massenselbstmord verübt hatte. Die Vorstellung, dass Menschen sich selbst umbrachten, war für ihn immer fürchterlich gewesen. Das Ganze jetzt jedoch mit eigenen Augen ansehen zu müssen, war kaum zu ertragen.

Die Jünger schluckten die Flüssigkeit aus den Phiolen und sanken zurück auf Tische und Bänke. Keiner war gezwungen worden, das Gift zu schlucken, und niemand schien es zu bereuen. Viele wirkten entspannt, zufrieden oder freudig. So, als könnten sie es kaum erwarten, dieses Leben endlich hinter sich zu lassen.

Bis die Wirkung des Gifts plötzlich einsetzte und der Todeskampf begann. Ihre Körper krampften, ihre Gesichter verzerrten sich vor Schmerzen und weißer Schaum quoll aus ihren Mündern. Cam biss sich auf die Lippen und unterdrückte nur mit Mühe ein entsetztes Keuchen. Dunkles Blut quoll aus Augen und Nasen der Leute und ihre Leiber bäumten sich unter wildem Zucken auf, bis das Gift ihnen endgültig das Leben nahm. Nach und nach lagen alle still, auch ihr Anführer, der vor der Festtafel zu Boden gesunken war.

Cam schluchzte auf und spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Tränen liefen ihm über die Wangen, als er den Blick nicht von einer jungen Frau nehmen konnte, die zusammen mit einem jungen Mann auf einem der Picknicktische lag. Die beiden waren ungefähr so alt wie Sky und Connor. Groteske Muster aus dunklem Blut und hellem Schaum zogen sich über ihre bleichen Nebelgesichter. Sie hatten die Finger ihrer Hände verschränkt und einander selbst dann nicht losgelassen, als sie qualvoll mit dem Tod gekämpft hatten.

Das war falsch.

Verdammt, das war doch einfach nur falsch!

Cam presste die Lippen fest aufeinander, trotzdem schaffte er es nicht, ein weiteres Schluchzen zu unterdrücken.

Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht

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