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Kalter Abendhauch England 1720, Sommer

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Mein Blick fiel auf eine junge Dame mit eisigen Augen und prächtiger Robe. Das Kleid legte sich wie ein Mantel über einen kuppelartigen Rock. Der Seidenstoff war mit blutroten Blumen bestickt, dazwischen schimmerte er golden. Sie reckte das Kinn und ging in ihren spitz zulaufenden und mit silbernen Schnallen verzierten Schuhen neben einem Herrn her, der ebenso fein gekleidet war wie sie. Über seiner Weste aus weißglänzender Seide trug er einen weinroten Rock, dazu unter den Knien gebundene braune Hosen. Das Paar spazierte auf einer staubigen Straße, die sich mitten durch die Stadt Woodshire schlängelte. Die Dame ließ die Blicke sachte schweifen, ihr Begleiter schenkte ihr indessen bewundernde Aufmerksamkeit, die Augen sprachen Bände. Seine Begleitung flüsterte ihm etwas zu, was ihn auflachen ließ und elfenbeinfarbene Zähne preisgab. Ihr Anblick erschreckte mich, denn sie erinnerten mich an spitze Zaunpfähle. Die Frau schien sich nicht daran zu stören, sie hakte sich bei ihm unter, blieb aber ernst. Ehe ich mich‘s versah, wanderte die Hand des Herren an ihren eckigen Ausschnitt, der einen recht freizügigen Blick auf ihre Schnürbrust bot. Welch Dreistigkeit. Dennoch löste sein Begehren, das er ungewöhnlich offen zeigte, ein seltsam wohliges Kribbeln in mir aus. Wie fühlte es sich an, wenn ein Mann eine Frau derart anfasste? Neugierde und Scham gaben sich die Hand, mein Gesicht erglühte. Ich presste meine Hände auf die Wangen, denn ich hatte das Gefühl, sie könnten meine unkeuschen Gedanken verraten. Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich von mir selbst so peinlich berührt war.

Ich wollte wegschauen, konnte es aber nicht. Die Dame schien das Gebaren ihres Begleiters zu genießen, denn sie schloss kurz die Augen und ihre Lippen öffneten sich ein wenig, verzogen sich gar zu einem Sekundenlächeln. Der Mann hob sein markantes Kinn gen Himmel und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Dame. Dabei musste ich an die Gattin unseres Grundherrn Leonard Ruven denken. Eve Ruven war wie diese Dame, immer elegant gekleidet, nur weniger auffällig. Ich hatte ja schon viele Städterinnen gesehen, doch diese hier war besonders adrett, wenngleich die kühle Arroganz, die ihr anhaftete, ein Stück von dem äußeren Glanz nahm. Bei jedem Schritt wippten die Locken ihres pechschwarzen, mit grünen und roten Seidenbändern durchzogenen Haares gegen ihre Schulterblätter. Der Straßenstaub und das herumflatternde Federvieh, sowie der Fischgeruch vom Markt, schienen sie nicht zu stören. Ihre Erscheinung passte nicht in diese Szenerie. Vielmehr sah ich sie auf Marmor wandeln oder, wenn das möglich gewesen wäre, auf einem Boden voller Sterne, aber auch in tiefster Dunkelheit. Warum dachte ich an Dunkelheit? Mir war, als hätte mir jemand anderes diesen Gedanken gerade eingeflüstert. Für einen Wimpernschlag trafen sich die Blicke der Dame und meiner, und in ihrem ovalen Gesicht mit den harten Zügen regte sich etwas, das ich nicht deuten konnte. Sie hob eine der sichelmondförmigen dunklen Brauen, und ich hatte das Gefühl, sie hätte soeben eine Maske abgelegt, denn sie schmunzelte in meine Richtung. Ihre großen dunklen Augen stachen wie dunkle Höhlen aus ihrem bleichen Gesicht hervor. Sie kam mir zunehmend unheimlich vor, wie eine wandelnde Tote aus Großmutter Emmas Geschichten.

Dem Mann neben ihr haftete die gleiche Kühle an, und er besaß genau wie sie einen auffallenden Porzellanteint. Er schenkte der Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit, so als würde sie gar nicht wirklich für ihn existieren. Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken. Ich wandte den Blick ab. Sicher hatten sie mein Gaffen bemerkt.

„Gehen wir“, flüsterte ich Adam rasch zu, der vor sich hinstarrte. Mich überkam das Gefühl, dass er mit offenen Augen schlief.

„Wir haben noch nicht genug, Rose. Vater wird enttäuscht sein, und auf seinen Wutausbruch hab ich keine Lust“, bemerkte er und zog die buschigen Brauen zusammen, die die gleiche Farbe hatten, wie die Streifen aus Staub und Dreck in seinem Gesicht. Ich spuckte in die Hände und rieb sie mit den Fingern weg.

„Hör auf!“, schalt er mich und wich zurück.

„Halt schon still. Du siehst aus wie ein Streifenhörnchen.“ Er war dabei, zu einer Erwiderung anzusetzen, aber ich kam ihm zuvor. In seinen grün-blauen Augen loderte ein Feuer, dessen Flammen nach mir züngelten.

„Du weißt, dass wir nicht zu auffällig betteln dürfen. Es erregt Aufmerksamkeit, wenn wir zu lange auf den Straßen bleiben. Am Ende werden sie Ruven benachrichtigen, der uns in eins der Arbeitshäuser steckt. Was dann? Schon daran gedacht? Außerdem ist zu Hause noch viel zu tun“, ermahnte ich ihn.

Adam presste die Lippen aufeinander. Mir seine Zustimmung zu geben, fiel ihm merklich schwer, deshalb nickte er nur. Vor Vaters Schelte fürchtete er sich mehr als vor allem anderen. Das war früher nicht so gewesen. Vater hatte sich verändert. So als wäre er schleichend zu einem wilden Tier geworden, wenn ihm etwas nicht passte. Ansonsten konnte er zahm sein wie eine Henne, die man per Hand aufgezogen hatte. Tante Abigail erklärte das Vulkangebaren Vaters mit seiner zunehmenden Verbitterung.

Ich schielte die Straße hinunter. Das Paar war verschwunden. Erleichterung durchflutete mich.

Meine anderen Geschwister Paul und Cecilia blieben ruhig. Wir alle waren in unseren lumpigsten Kleidern unterwegs, die Mutter für uns aus Sackleinen und Flachs genäht hatte. Es war allein Vaters Idee gewesen, uns hin und wieder in die Straßen und Gassen der Stadt zu schicken, durch die wir an manchen Tagen mit hoffnungslosen Mienen streifen mussten, um die Aufmerksamkeit reicher Leute auf uns zu ziehen. Wir hofften, sie würden uns ein Almosen zustecken. Das meiste Mitleid erweckte Cecilia. Sie war zart und bleich wie Seide und frisch gefallener Schnee. Das Auffallendste an ihr aber waren ihre milchigen Iriden, denn Cecilia war von Geburt an blind. Vater erzählte oft und gern von seiner armen Tochter. Vor allem, um Barmherzigkeit bei den Leuten zu erhaschen. Mutter hasste das, und Cecilia wollte kein Mitleid, was ich verstehen konnte. Aber Vater hatte seinen eigenen Kopf.

„Es darf nicht so aussehen, als würdet ihr betteln. Und wenn sie euch was geben, dann nehmt es rasch und bedankt euch stets. Cecilia lasst ihr beharrlich schön vorne gehen“, hatte er uns hinter die Ohren geschrieben.

Meine Brüder waren 15 und damit drei Jahre jünger als ich. Cecilias Geburt hatte Vater nicht erfreut, denn seitdem hatten er und Mutter noch ein weiteres Mäulchen zu stopfen. Außerdem bedauerte er, dass ich nicht schon verheiratet war.

Verguckt oder gar verliebt hatte ich mich noch in keinen der jungen Männer, denen ich bisher über den Weg gelaufen war. Dabei gab es einige, die Interesse an mir gezeigt hatten. Ich sei so hübsch, hatten sie gesagt. Zudem war darunter niemand, der meinem Vater angemessen erschien.

„Allesamt Lumpen“, hatte er gesagt.

Dass ich mich nicht nach Liebe sehnte, konnte ich nicht behaupten. Ich glaubte an das Schicksal. Irgendwann würde der Richtige schon kommen.

Mit Magengrummeln warf ich einen Blick auf den Inhalt von Paulchens staubiger Mütze. Die Ausbeute, die wir darin gesammelt hatten, war magerer denn je. Wie sehr ich diese Bettelei für Vater verabscheute! Aber nicht nur ich, wir alle kamen uns dabei schäbig vor, stets die Angst im Rücken, die Obrigkeit könnte uns erwischen. Diese Furcht trieb auch Mutter um. Vater aber war blind dafür geworden, wie sie es bezeichnete, und ihr Kummer darüber war groß. Für meine Geschwister tat es mir noch viel mehr leid. Jammern half aber nichts. Vater würde uns höchstwahrscheinlich schlagen, kämen wir mit leeren Händen nach Hause oder würden uns weigern zu betteln. Mutter gehorchte ihm ebenso wie der Rest der Familie, die aus meiner Tante, Mutters verwitweter Schwester Abigail, und deren Sohn William bestand.

Abigail war schlau. Sie hatte mir Schreiben und Lesen beigebracht. Sie selbst hatte es von ihrem Vater gelernt, der vor ein paar Jahren gestorben war. Er liebte es, sich Verse auszudenken und niederzuschreiben, und auch ich war sehr wissbegierig. Nun unterrichteten Tante Abigail und ich meine Geschwister gemeinsam, sodass sie schreiben, lesen und auch rechnen lernten. William war mehr als lernfaul. Seine Interessen lagen woanders, vornehmlich den Mädchen der Stadt hinterherzugucken oder mir unter den Rock zu linsen. Noch lieber aber machte er dumme Sprüche, bei denen er sich oft selbst vor Lachen krümmte. Neben uns gab es noch meine Großmutter Emma, die ein Herz besaß, das größer war als unser England, und uns ihre Liebe großzügig schenkte.

Ich spürte eine Berührung. Cecilia zog an mir und riss mich aus einer neuen Gedankenschleife. „Es riecht nach Blut“, murmelte sie und hielt für ein paar Sekunden die Luft an. Erstaunt blickten meine Brüder und ich die Kleine an.

„Blut?“, fragte ich irritiert.

Sie nickte. „Der Geruch kommt mit dem Wind von Norden.“ Sie streckte einen ihrer dünnen Arme in die Richtung.

„Ich rieche nichts“, bemerkte Adam. Er rümpfte die sommersprossenübersäte schmutzige Stupsnase und scharte mit der Spitze seines rechten löchrigen Schuhs am Boden.

Kurz darauf hallte ein Schrei durch die Straßen, so schrill und grauenhaft, dass nicht nur wir vor Schreck in unseren Bewegungen innehielten.

„Gott im Himmel! Heiliger Vater! Man hat ihm die Kehle durchgebissen. Helft uns, helft uns!“, schrie die Bäckersfrau und rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn aus ihrem Laden auf die Straße.

Blut klebte an ihren Händen und der Schürze. Die Farbe ihres Gesichts glich der des Mehls, das ihr dunkles, streng nach hinten gebundenes Haar benetzte. Sie riss die Augen auf, zitterte am ganzen Leib und sackte auf die Knie. Ihrer Kehle entwich ein panischer Schrei, der durch die Straßen und Gassen hallte. Zusammen mit den anderen Schaulustigen verharrten wir an Ort und Stelle und beobachteten das Geschehen. Eiskalte Wellen überliefen meinen Körper. Zwei Männer der Obrigkeit eilten an der Frau vorbei in die Bäckerei. Der Schneider der Stadt kümmerte sich um die Bäckerin, die zunehmend hysterischer wurde.

„Mein armer Sohn! Bestialisch ermordet“, schrie sie.

Cecilia atmete flach und schnell.

Ich legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Wieder einmal fiel mir auf, dass sie in letzter Zeit dünner geworden war. Unter der weißen Haube lugten ein paar ihrer zerzausten roten Locken hervor, als wollten sie sich davonschleichen.

„Der Wind, er ist so kalt. Der Mörder … er ist noch da. Ich kann ihn sehen“, stammelte sie.

„Was erzählt sie da für einen Unsinn?“, wollte der strohblonde Paul, unser anderer Bruder, wissen und ging vor ihr in die Hocke.

„Ihr Sohn, er atmet nicht mehr“, flüsterte Cecilia mit einem Zittern in der Stimme. Ich konnte spüren, wie es sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

„Du kannst ihn sehen?“, fragte ich.

Cecilia nickte wieder. „Inmitten meiner Dunkelheit. Er steht da und grinst. Aber er ist nicht allein. Da ist noch jemand. Neben ihm. In irgendeiner düsteren Gasse.“

„Cecilia fantasiert mal wieder. Erzähl ihr nicht immer Spukgeschichten“, warf Adam ein und strafte seinen Bruder mit einem verachtenden Blick.

„Hab ich schon lange nicht mehr“, verteidigte sich dieser und knetete sich die Nase mit zwei Fingern. Das tat er immer, wenn er flunkerte.

Cecilia träumte häufig und viel, oft auch tagsüber. Hin und wieder erzählte sie davon. Von Bildern, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten. Mutter war überzeugt, dass sie eine besondere Gabe zum Erzählen von Geschichten hatte. Vater wollte davon nichts wissen, denn was brachte das schon. Außerdem hielt er seinen jüngsten Sprössling für ein wenig verrückt.

Meine kleine Schwester besaß feine Sinne und war liebenswert, ein Lichtstrahl in meinem Leben, was sie für mich zu etwas ganz Besonderem machte. Doch an jenem Tag flößte sie mir Angst ein.

„Vater hat recht. Du spinnst ein bisschen, Cecilia. Sag das alles nur nicht zu laut, sonst stecken sie dich ins Irrenhaus“, behauptete Adam und schüttelte den Kopf.

„Hör auf damit!“, wies ich ihn schroff zurecht, was er mit einem Schulterzucken abtat. Kurz darauf kamen die Männer wieder aus der Bäckerei geeilt. Sie waren ebenso bleich wie die Bäckersfrau, die nun von einem weiteren Herren weggebracht wurde.

„Er wurde bestialisch ermordet. Wer etwas gesehen hat, der möge sich melden!“, rief einer der beiden.

Die Leute fingen an zu tuscheln.

„Untot“, murmelte Cecilia und rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren.

„Wir verschwinden nun besser“, zischte Adam und zog Cecilia hoch.

„Der Mörder, er ist untot. Aber auch seine Begleiterin“, flüsterte sie entschlossen.

„Hör jetzt auf mit dem Quatsch“, ermahnte Adam sie.

Ich nahm Cecilia an der Hand. „Hab keine Angst. Wir sind alle da und beschützen dich“, sagte ich zu ihr, während es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Hastig verließen wir die Stadt. Cecilia zitterte immer stärker.

„Manchmal denke ich, sie will nur mehr Aufmerksamkeit“, hörte ich Adam Paul zuflüstern. Der nickte.

„Es stimmt aber“, protestierte Cecilia.

„Erzähl das nur nicht Mutter und Vater. Die werden dich sonst für noch verrückter halten, als du es ohnehin schon bist, Cecilia, und dir ein paar feste Äste über den nackten Po ziehen. Und denk an das Irrenhaus. Aber eines muss man dir lassen, Kleine. Gute Ohren hast du jedenfalls“, entgegnete Adam.

„Blödmänner“, zischte ich und warf ihnen ein paar Gräser entgegen, die ich auf dem hügeligen Wiesenweg gezupft hatte, über den wir wenig später in Richtung unseres Dorfes gingen. In regelmäßigen Abständen warf ich einen Blick über die Schulter. Glaubte ich etwa wirklich, jemand würde uns folgen oder beobachten? Ich wusste es selbst nicht genau. Doch auch die Schatten der umliegenden Waldstücke kamen mir unheimlich vor. Ich war froh, als wir die Strohdächer unseres kleinen Dorfes sahen und wenig später zu Hause waren. Dort erzählte Adam der Familie alles. Ich und Cecilia hüllten uns in Schweigen, was Cecilias Aussage bezüglich des Täters anging. Das behielten aber auch die Buben für sich.

„Hatte der Dickwanst nicht eine Menge Spielschulden? Ja, so kann es dann enden mit dieser verdammten Kartenspielerei“, sagte meine Mutter mit einem Unterton, der Vater kurz aufblicken ließ. Sie strich sich ein paar Strähnen ihres fuchsroten Haares in den Haarknoten zurück, aus dem sie ausgebüchst waren, und rückte sich ihre weiße Haube zurecht. Vaters graue Augen funkelten. Natürlich wusste er, dass ihre Wortspitzen vor allem gegen ihn gerichtet waren. Eindringlich musterte er sie, woraufhin sie sichtbar der Mut verließ.

„Heißt es nicht, dass der, der böse Gerüchte streut, in die Hölle kommt, Weib? Halte also besser dein Schandmaul“, donnerte er.

Ohne eine Erwiderung ging sie ihrer Arbeit nach und tauschte mit Großmutter Emma ein leises Seufzen.

Vater wechselte das Thema. Es interessierte ihn weitaus mehr, wie viel wir eingenommen hatten. Seine Hände erinnerten mich immer an die Krallen eines Adlers, wenn er die Münzen aus der Mütze meines Bruders herauszog.

„Alles bekommt das gierige Maul nicht. Wir sind schlauer. Und wer weiß, vielleicht können wir irgendwann irgendwo neu anfangen. Ich vergrabe das Geld. Das tue ich alles nur für uns“, knurrte er.

Mutter, Großmutter und auch William sagten kein Wort dazu, aber ihre Blicke sprachen Bände. Einmal in der Woche traf sich Vater heimlich mit ein paar Männern in einem Hinterzimmer eines Wirtshauses der Stadt zum Kartenspielen. Es war offensichtlich, dass er inzwischen süchtig danach war.

„Und was, wenn dich einer dieser Männer verrät?“, hatte Großmutter Emma ihm einmal zu Bedenken gegeben.

„Lass das meine Sorge sein.“

Vielleicht war es für ihn eine Befreiung aus den Zwängen des Alltages. Selten war er jedoch guter Laune zurückgekehrt. Wenn er verlor, war es kaum mit ihm auszuhalten, und wir Kinder mussten so schnell wie möglich wieder losziehen, wenn neben der alltäglichen Arbeit etwas Zeit war.

Besonders an den beliebten Orten, wie in der Nähe der Kirche, wo sich viele Christen aufhielten, hatten wir manches Mal Erfolg. Die wohlhabenden Leute zeigten sich gerne mildtätig den armen Bauern- oder Waisenkindern gegenüber. Es ging der Glaube um, dass man sich mit einer guten Tat einen sicheren Platz im Himmel ergattern konnte.

Vater brummte. „Das ist alles? … Warum seid ihr dann schon hier? Hattet ihr die Hosen voll?“, wollte er wissen und warf uns die Mütze entgegen.

„Es ist doch Abendbrotzeit, Edward“, mischte sich meine Mutter Anna kleinlaut ein. Vater zog sich seinen Strohhut vom Kopf und warf ihn in die Ecke.

Zusammen mit Großmutter stellte Mutter Suppenschalen auf den Holztisch, während William mit einem Holzlöffel in dem Topf mit der heißen Hühnerbrühe rührte, der an einem Balken über der Feuerstelle hing. Zudem hatte Großmutter Brot gebacken, dessen Duft betörend durch das Haus zog. Im Winter blieben wir Kinder gern in der Nähe der auf Ziegelsteinen angelegten Feuerstelle oder im angrenzenden Stall bei den Kühen. Die Hälfte unseres Hauses war Wohnstätte, die andere diente als Stall. Daneben gab es noch eine kleine Scheune, die ebenfalls ein Strohdach besaß, und einen Hühnerstall. Wir setzten uns auf die Schemel, die um den Holztisch standen, den Großvater Aaron kurz vor seinem Tod angefertigt hatte, und warteten mit dem Essen, bis Großmutter das Abendgebet gesprochen hatte. Die zwei Mahlzeiten am Tag wurden stets schweigend eingenommen, doch dieses Mal war es anders. Ich und wohl auch die anderen merkten genau, dass es in Vater brodelte. Er wartete nicht bis nach der Mahlzeit, den Vulkan im Zaum zu halten.

„Ihr werdet morgen früh in die Stadt gehen und euch noch mehr anstrengen. Noch viel mehr. Habt ihr gehört?“, donnerte er.

„Aber da sollen wir doch für den Grundherrn aufs Feld und bei der Maisernte helfen, Vater. Beim ersten Sonnenstrahl bis zum Sonnenuntergang“, warf Adam ein und kratzte sich. Die Kleidung aus Sackleinen reizte die Haut.

Vater hieb seine Fäuste auf den Tisch. Die Wangenmuskeln zuckten, was uns alle mit dem Essen innehalten ließ. Beinahe blieb mir der Bissen Brot im Hals stecken. Tante Abigail stieß ein leises Seufzen aus, warf ihren dunkelbraunen Zopf hinter die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Leonard Ruven“, zischte Vater, und seine grauen Augen blitzten auf, während er an seinem beigen weiten Gewand zupfte. Beißender Schweißgeruch stob durch die Stube. Vater schwitzte, dass ihm das Baumwollhemd an der breiten Brust klebte.

„Wir sind ihm nun mal unterstellt und müssen tun, was er verlangt“, erinnerte ihn Großmutter Emma. Auch wenn sie genau wusste, dass keiner von uns das je auch nur eine Minute vergaß. Die Falten, die ihr aschfahles Gesicht durchzogen, wurden noch tiefer. Sie war die Einzige, auf die Vater manchmal hörte, wenn auch immer seltener.

„Der kriegt seinen Kragen genauso wenig voll wie die anderen reichen Pinkel. Jetzt will der feine Herr auch noch Sonderabgaben. Das beste Vieh im Stall. Ich spucke auf ihn.“

„Sag das nicht so laut“, mahnte Großmutter.

„Pah. Das feine Volk tanzt uns unfreien Wichten immer mehr auf der Nase rum. Da soll ich ehrlich zu Ruven sein? Für solche wie den sind wir doch nur reines Nutzvieh.“ Vater bebte regelrecht, und Mutter zog den Kopf ein.

Wieder ließ er seine von der Arbeit mit Schrunden übersäten Fäuste auf die hölzerne Tischplatte herabsausen. Diesmal so heftig, dass etwas Suppe über die Schüsselränder schwappte. Wir Kinder sahen uns mit großen Augen an. Cecilia begann leise zu schluchzen, was Mutter bewog, sie in den Arm zu nehmen. Dankbar für diese Wärme, die uns Mutter aus Zeitmangel nicht oft geben konnte, kuschelte sich die Kleine an sie.

„Und wenn ich sage, die Mädchen sind krank und wir verkleiden sie? Dann können sie in der Stadt betteln, und die Jungen arbeiten solange auf dem Feld“, schlug Vater vor, nachdem er ein paarmal durchgeschnauft hatte.

„Du willst die Mädchen allein betteln schicken? Das ist viel zu gefährlich, Mann“, stieß Mutter empört aus, auch wenn sie wusste, dass Vater sehr laut werden konnte, lauter und stürmischer als ein starkes Sommergewitter. Zudem besaß er einen Sturschädel.

„Herrgott noch mal, wir brauchen das Geld, Anna! Er wird nichts erfahren, wenn ihr alle schweigt und euch nicht dumm anstellt.“

„Du brauchst es hauptsächlich für dein Vergnügen“, flüsterte Mutter, und wir hielten alle den Atem an.

Wieder ließ Vater die Fäuste auf den Tisch niederfahren. „Was?“ Als hätte er nicht genau verstanden …

Mutter hob ihre braune Baumwollschürze an und vergrub das Gesicht darin. Das tat sie manchmal, um sich zu bremsen, bevor sie etwas Böses sagte.

„Wir werden noch alles verlieren wegen dir, Edward“, murmelte Großmutter Emma. Abigail rann eine Träne über die rechte Wange. Vater blickte in die Runde und kämpfte innerlich mit sich.

„Ist ja gut. Meinetwegen. Alle sind morgen auf dem Feld. Lasst uns wieder gehorchen.“ Er zeigte auf uns. „Aber sobald es möglich ist, werdet ihr in die Stadt gehen.“

Wir nickten. Vaters Gewissen, das zum Glück noch existierte, und die Angst vor dem Grundherrn, hatten ihn in die Knie gezwungen. Auch wenn er diese Furcht wohl niemals offen zugeben würde in seinem Stolz. Wir alle konnten ein wenig aufatmen. Aber ich musste Vater recht geben, was die Obrigkeiten betraf. Viele von ihnen waren tatsächlich gnadenlos und beuteten andere aus. Ich teilte seine Träume, aber eben auch die Ängste, die sich zusammen mit der Vernunft die Hand reichten.

„Und jetzt esst“, befahl Vater. Ich brachte nur noch zwei Löffel von der Suppe runter. Den Rest verteilte ich an meine Geschwister, die dankbar zugriffen. Nur Cecilia nicht. Sie aß wieder wie ein Spatz. Ich blieb sitzen, bis alle fertig waren, und verlor mich in Tagträumen. Darin konnte ich fliegen wie die Vögel, frei und ohne Grenzen.

Ich sehnte mich danach, weit weg von hier zu sein, zusammen mit meiner Familie, auf einem eigenen Stück Land, das nur uns gehörte, wo wir uns frei bewegen und wirtschaften konnten, ohne Abgaben und Frondienste leisten zu müssen. Dann, da war ich mir sicher, würde unsere Familie genauso harmonisch sein, wie sie sollte. So aber standen wir alle ständig unter Beobachtung und den Pantoffeln des Grundherrn, was sich nicht selten auf die Gemüter und Nerven niederschlug.

Leonard Ruven wohnte etwa zwei Meilen von unserem kleinen Dorf entfernt, über dessen Bauern und deren Angehörige er Aufsicht, Schutz und Herrschaft pflegte, wie er es gern ausdrückte. Wir waren seine Hörigen. Für die Hörigkeit durften wir den uns zugeteilten Hof nutzen, mussten dafür aber Frondienste leisten. Die Kühe der Bauern, die dem Grundherrn Leonard Ruven angehörten, grasten auf seinem Weideland. Die Bauern und ihre Familien bearbeiteten die Felder und leisteten Wegearbeiten, Hand- und Spanndienste. Wenn alle stets taten, was und wie Leonard Ruven es wollte, konnte er sogar annähernd verträglich sein.

Seit dem Tod seines Vaters Eugene Ruven hatte Leonard Zügel und Peitsche fest in den Händen. Zu mir war er in letzter Zeit zunehmend freundlich, was mich nicht selten in Verlegenheit brachte. Vielleicht bildete ich mir seine wachsende Zuneigung aber auch nur ein. Ich hoffte es, nicht nur weil er verheiratet war. Ich mochte Eve Ruven, seine Frau. Sie war eine sehr hübsche und sanftmütige Dame, ebenso zierlich wie meine Tante und Mutter. Außerdem liebte sie Kinder und Tiere. Allein das war ein Zeichen für mich, dass sie ein großes Herz besaß. Schier schleierhaft für mich, wie sie sich in einen Mann wie Leonard Ruven verlieben konnte. „Der Auralose“, so nannte Tante Abigail ihn gern. Aber wie hieß es da in einem Sprichwort? Die Liebe findet einen immer, egal, wie gut man sich versteckt. Und schließlich, oder in einigen Fällen wohl auch leider, konnte man sich nicht aussuchen, bei wem das eigene Herz hängen blieb.

Rose

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