Читать книгу Rose - Nadine Stenglein - Страница 6

Die Wesen

Оглавление

Nach dem Essen erledigte ich ein paar Näharbeiten. Unter anderem musste ein Kittel für Vater, den Mutter und Abigail aus dunkler Schafwolle gefertigt hatten, mit Flicken ausgebessert werden. Cecilia leistete mir Gesellschaft. Vorsichtig betastete sie die Nadelspitzen. Dabei wirkte sie in Gedanken versunken.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich deshalb und überlegte, ob ich sie noch einmal nach den Untoten fragen sollte, beschloss dann aber, es nicht zu tun. Vielleicht hätte es sie zu sehr aufgeregt, was am Ende ihren Husten heraufbeschworen hätte. Nicht einmal dieser grässliche Lungenwurztrunk von Großmutter half. Ruven hatte den Medicus zu ihr geschickt, wofür ich ihm dankbar war, auch wenn ich wusste, dass es aus reinem Eigennutz geschah. Er schätzte Cecilias flinke, kleine Arbeitshände, mit denen sie auch in Nischen putzen konnte, wo sonst niemand so leicht hinkam. Allerdings hatte der Medicus ihr nur Wickel verordnet, ansonsten aber wenig für sie tun können.

„Auch so ein Quacksalber, dieser Medicus. Viel frische Luft hilft am besten“, lautete die Diagnose meines Vaters.

Es war ein Wunder, dass der Husten nach jenem Erlebnis nicht wiedergekommen war. Mutter und Großmutter hatten William einmal gebeten, stets in unserer Nähe zu bleiben, was Vater sofort zurückgewiesen hatte. William schien mehr als froh darüber zu sein und wir ehrlich gesagt auch. Im Grunde konnte ihn keiner von uns Kindern sonderlich gut leiden. Denn offensichtlich mochte er uns nicht. Wieso sonst sollte er uns wegen jedem kleinen Fehltritt bei Großmutter und meinen Eltern anschwärzen? Sogar dem Grundherrn Leonard Ruven hatte er einmal gesteckt, dass wir bei der Obsternte mehrere Äpfel verschlungen hätten und uns „Aasgeier“ genannt. Was folgte, waren ein paar Hiebe mit dem Stock auf den Allerwertesten, wobei er bei mir am heftigsten zuschlug. Ein paar Tage konnte ich nicht mehr sitzen. William hatte sich nie dafür entschuldigt und Vater uns allen eine gesalzene Predigt gehalten. Auch William, dem er offenbar nicht glaubte, es ihm aber nicht beweisen konnte. Mutter hatte über die Sache nur geweint, und meine Tante und Großmutter hatten uns mit ihrer Güte Milderung und Trost geschenkt.

Während Cecilia und ich im Haus am Tisch saßen und unseren Gedanken nachhingen, waren alle anderen draußen mit den anfallenden Arbeiten beschäftigt.

„Rose?“, flüsterte Cecilia. Ich blickte auf.

Sie tastete mit den Fingern nach mir und rutschte auf ihrem Schemel ein Stück näher an mich heran.

„Ja?“

Cecilia schluckte schwer und biss sich kurz auf die Unterlippe, dann sagte sie: „Es roch wie damals, genauso.“

„Wie damals? Was meinst du?“

„Ich bin nicht verrückt. Ich bin mir sicher, dass da einer war. Ein Untoter. Damals, als wir zwei zusammen Beeren gerissen haben, im Wald, da war jemand, der mir einen Ast absichtlich ins Gesicht hat schnellen lassen. Die Wucht war so enorm gewesen, dass ich rücklings auf den Waldboden gefallen bin. Wumm. Was für ein Schock. Das musst du doch noch wissen.“

Ich sah in ihre milchigen Augen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich doch sehen konnte. Im Grunde tat sie das auch, in ihrer Vorstellung.

„Ja, ich erinnere mich. Das war letztes Jahr im Spätsommer gewesen. Aber glaubst du wirklich, dass da jemand war?“, fragte ich.

Sie legte ihre Lippen an mein rechtes Ohr. „Da war einer. Im Wald. Und er oder sie besaß den gleichen Geruch, den ich heute in der Stadt gerochen hab, als die Bäckersfrau auf die Straße gelaufen kam.“

Ich schluckte trocken. „Nach Blut, meinst du?“

Sie nickte. „Geronnenes Blut in den Adern eines Wesens. Geronnen, weil es tot ist, schon lange tot. Es hat den Sohn auf dem Gewissen. Ich weiß es einfach. Und es war nicht allein da in der Stadt.“

Ich schob das Nähzeug weg und legte einen Arm um Cecilias Schultern, die ihren Kopf an meinen lehnte. Tränen schimmerten in ihren Augen.

„Die Gedanken und Bilder kamen einfach, Rose. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber sie waren so klar und deutlich. Glaubst du … glaubst du, ich bin verrückt?“

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nein, Cecilia. Ich glaub dir. Aber du weißt …“

„Ja, ich weiß. Ich erzähle es auch nur dir.“ Sie zitterte am ganzen Körper. „Der Mörder, er war noch da, Rose“, flüsterte sie dann.

„Und du sagtest, er atmete nicht?“, fragte ich.

„Ja, er atmete nicht. Geronnenes Blut in den Adern. Ich sah sein Gesicht direkt vor mir. Es blitzte nur ein paar Sekunden auf. Dunkle, große Augen wie Höhlen, in die kein Lichtstrahl dringt. Er trug einen weinroten Rock, braune Hosen und seine Haut war ganz hell.“

Mein Herz schlug schneller, als sie noch hinzufügte: „Er war nicht allein. Eine feine Dame war bei ihm. Etwas in mir sagt mir, dass er den Bäckerssohn umgebracht hat. Dass er und diese Frau Untote sind.“

Mir wurde kurz übel. „Was?“ Schweißperlen liefen mir über den Rücken.

„Ich weiß nicht genau, was sie sind. Es … es liegt mir wie ein fauler Apfel auf der Zunge, Rose. Mehr weiß ich nicht.“ Cecilia verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen. Für ihr Alter drückte sie sich schon viel reifer aus, als es eigentlich möglich war. Doch was sie sagte, klang wirklich verrückt.

Mir fiel die Dame in dem blumenbestickten Kleid und ihren Begleiter mit den spitzen elfenbeinfarbenen Zähnen wieder ein.

„Hallo, Vater“, sagte Cecilia plötzlich und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

Ich fuhr herum. Er war wirklich da, betrat den Raum und legte frisches Holz vor die Feuerstelle. Die Ohren meiner kleinen Schwester waren deutlich besser als meine. So schnell hätte ich ihn nicht bemerkt.

„Ihr sollt nicht flüstern. Ich mag das nicht, das wisst ihr genau. In dieser Familie gibt es keine Heimlichkeiten.“

Das sagt der Richtige, dachte ich. Mir lagen die Worte auf der Zunge, aber ich schluckte sie wie so oft hinunter.

Als er wieder weg war, unterhielten Cecilia und ich uns weiter im Flüsterton. Ich beschrieb ihr das Paar, das ich in der Stadt gesehen hatte.

„Das waren sie“, platzte Cecilia aufgeregt heraus.

Ich stockte, verstand das alles nicht. Cecilia hatte sie gesehen, obwohl das unmöglich war.

„Wer waren sie? Kannst du es jetzt benennen?“, fragte ich meine Schwester, die nach neuen Nadeln tastete.

„Ich sagte doch, ich weiß es nicht, Rose. Es sind nur Gedanken. Gedanken und Bilderfetzen, die mir sagen und zeigen, dass er bereits tot war, ebenso wie sie. Und doch auch nicht. Wie Schauergestalten, die in ihnen drin leben“, erklärte Cecilia, und ich merkte ihr an, dass sie mit sich kämpfte, die richtigen Worte zu finden. Ich runzelte die Stirn und dachte fieberhaft nach, bis ein Gedanke in meinen Kopf schoss, der so abwegig war, dass ich beinahe lachen musste.

„Du glaubst doch nicht etwa, er war ein Vampir oder ähnliches, Ceci? Hat Paul dir von Vampiren erzählt? Die gibt es nicht, Schatz.“

Cecilia hob den Kopf. Mit einem Mal verdrehten sich ihre Augen, sodass ich nur noch das Weiße in ihnen sehen konnte. Sie atmete wie in der Stadt flach und schnell. Sofort legte ich ihren Kopf in meinen Schoß und strich ihr beruhigend über das Haar. Ihre Lider begannen zu flattern. Tränen rannen ihr über die Wangen. Der Husten kehrte zurück.

„Meine Gedanken sind schlecht, Rose. Ich werde doch verrückt.“ Sie schluchzte.

„Nein, nein. So meinte ich das nicht. Einatmen, ausatmen. Konzentrier dich“, versuchte ich sie und mich gleichermaßen zu beruhigen. Sie gab sich Mühe und wurde tatsächlich allmählich ruhiger. Dann sagte sie ein wenig atemlos: „Ja, Vampire. Das lag mir auf der Zunge. Paul hat mir vor langer Zeit einmal von Vampiren erzählt. Aber das … das in der Stadt und im Wald war so wirklich und hatte nichts mit seiner Geschichte von damals zu tun. Du sagtest doch selbst, liebes Schwesterlein, dass die aus der Stadt genauso aussahen, wie ich sie dir beschrieben hab.“

„Ja, haben sie. Ich glaube dir auch, Ceci. Das Ganze macht mir nur selbst Angst“, musste ich zugeben. Cecilia schmiegte sich enger an mich. „Rose?“

Ich wiegte sie in meinen Armen. „Ja, Ceci?“

„Eben hab ich sie noch einmal gesehen. Du weißt schon …“

„Vor deinem inneren Auge?“

„Ja. Und der Geruch, er veränderte sich. Es roch nach … Blumen. Rosen, es waren Rosen. Hinter den beiden stand noch jemand. Er gehörte zu ihnen und auch nicht. Sein Gesicht war wunderschön. Es war seltsam. Denn auch er war tot, aber sein Herz …“ Sie machte eine Pause.

„Was war damit?“, fragte ich verwirrt, während mir meines gegen die Rippen hämmerte.

„Nun, es war anders. Es strahlte Wärme aus, als wäre es noch lebendig.“

Rose

Подняться наверх