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Fremde Sehnsucht

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Meine Geschwister waren inzwischen vollzählig neben Tante Abigail auf dem Feld angekommen. Nur William und meine Mutter, die dazu stoßen wollten, fehlten. Wahrscheinlich hatten sie noch auf dem Hof zu tun. Meine Brüder sollten, wie ich mitbekam, den Wagen mit dem geernteten Mais nach Hause ziehen, sobald er voll war. Vater stand auf dem Wagen und nahm die Maisstauden entgegen. Cecilia rannte mir buchstäblich in die Arme.

„Langsam, langsam“, sagte ich und drückte sie an mich. Die Kleine erwiderte meine Umarmung. Dann wich sie zurück und verzog das Gesicht. „Igitt, du riechst aber komisch. Wie der Grundherr und nach noch etwas, das …“

Ich stockte. „Da bist du ja, Rose“, rief Vater und unterbrach Cecilia.

Er sah vom Wagen, der nur ein paar Meter von Cecilia und mir entfernt war, zu uns herüber.

Was, wenn Ruven ihn und den Rest meiner Familie nun wirklich bestraft, weil ich mich ihm verweigert habe?, durchfuhr es mich siedendheiß.

Noch einmal drückte ich Cecilia fest, sog ihren Duft nach frischem Mais und Karamell tief in mich. Sie roch meistens nach Karamell, den ich einmal in der Stadt gegessen hatte. Es war an meinem letzten Geburtstag gewesen. Ein Geschenk von Großmutter Emma.

„Ist etwas passiert? Du siehst ganz zerzaust aus, Rose“, bemerkte Vater und reckte den Hals.

Ich winkte ab. „Nein. Alles in Ordnung“, gebrauchte ich eine Notlüge.

„Ich hatte vorhin richtig Angst um dich“, flüsterte Cecilia mir zu.

Ich sah sie an. Sie wartete auf eine Antwort. „Mir geht es gut. Hast du wieder etwas gesehen? Ich meine, vor deinem inneren Auge?“, musste ich sie dann leise fragen.

„Nein, nichts mehr.“ Sie verzog einen Mundwinkel. „Du bist so aufgewühlt. Ist wirklich …“

„Ja, Ceci.“ Zur Beruhigung tätschelte ich ihren Rücken und sah zu Vater, der mich immer noch fixierte. „Ich hab mich nur beeilt und bin dabei einmal über die eigenen Füße gestolpert!“, rief ich ihm zu.

Meine Brüder lachten.

„Nicht lachen, weitermachen“, sagte Abigail und forderte auch mich dazu auf. Vater nickte. „Ja, weitermachen.“

Die Arbeit lenkte mich ein wenig von den dunklen Gedanken um den Grundherrn ab. Vielleicht aber, beruhigte ich mich dann, hatte er umgekehrt auch Angst, ich könnte seiner Gattin alles erzählen. Er wusste, dass Eve mir vertraute. Letztendlich blieb die Hoffnung, dass er mich in Zukunft in Ruhe ließ und mein Vater alsbald die Schulden bei ihm tilgen konnte. Fieberhaft überlegte ich, was ich noch dazu beitragen konnte.

Zwei Tage hatten weder mein Vater noch sonst jemand aus unserer Familie etwas von Ruven gehört. Ich dankte Gott im Himmel dafür. Allerdings waren wir von Vater wieder zum Betteln verdonnert worden, nachdem er von seinen Spielpartnern gehört hatte, dass Fremde durch die Stadt zogen. Der Mord an dem Bäckerssohn machte noch immer die Runde, doch gab es bislang keine neuen Spuren, nur Vermutungen.

Heute Abend wollte ich es wagen, noch einmal in Richtung des Waldstückes zu gehen, in dem ich den jungen Mann gesehen hatte. Es war mehr als seltsam oder sogar verrückt. Denn ein Teil meines Herzens sehnte sich nach dem Fremden. Als sich seine und meine Blicke getroffen hatten, spürte ich, dass etwas Vertrautes zwischen uns lag, auch wenn ich mich zuerst vor seiner Anwesenheit erschreckt hatte. Ein älterer, vornehm gekleideter Herr stoppte vor Cecilia und strich ihr sanft über den Kopf. Er ging am Stock. Sein graues Haar war licht.

„Mein Sohn ist auch blind“, sagte er und drückte Cecilia zwei Münzen in die Hand.

„Danke, Sir“, sagte sie, und ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Der Mann lächelte zurück und nickte uns zu.

„Vielen Dank. Gott sei mit Ihnen, Sir“, bemerkte ich, als er mich ansah.

„Schon gut. Ich war früher auch arm.“ Er ließ seine Blicke über unsere dreckigen Gewänder, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, wandern. „Glaubt an eure Träume und schaut, dass etwas Gescheites aus euch wird. Aber lasst euch bloß nicht erwischen beim Betteln. Bleibt nie lange stehen“, riet er, bevor er weiterging.

Nicht nur ich sah ihm verwundert nach. Dass jemand so nett zu uns war, kam selten vor. Die Retourkutsche kam prompt.

Schon hatte uns eine Gruppe anderer Bettler entdeckt, Burschen in Williams Alter, die uns von einer Gasse aus Fratzen schnitten. Einer davon hieß Philip Smith. „Verschwindet, sonst kassiert ihr Prügel, dass ihr nicht mehr sitzen könnt!“, zischte er. Allesamt spuckten sie in unsere Richtung.

Ich straffte die Schultern und ging zwei Schritte auf sie zu. „Kleine Kinder schlagen. Das ist wohl alles, was ihr könnt. Aber bevor das passiert, müsst ihr erst einmal an mir vorbei.“

Adam und Paul schoben sich neben mich. „Was heißt hier kleine Kinder? Hier gibt es nur ein kleines Kind, und das ist Cecilia“, maulte Adam.

Die jungen Männer lachten. Auch sie waren aus der Stadt. Ich kannte sie nur vom Sehen. Zwei von ihnen waren auf der Straße aufgewachsen. Philip wohnte bei seinen Eltern, die allerlei Arbeiten nachgingen. Seinen Vater hatte ich bereits zwei Mal mit meinem in der Stadt in der Nähe des Wirtshauses gesehen, das sie sicher nicht nur von außen betrachtet hatten.

Philip, dessen dunkles Haar voller Staub hing und dadurch grau wirkte, lachte böse. Die anderen zwei schlossen sich an. Einer von ihnen drehte sich um und zeigte uns seine Popacken, deren Haut man teilweise durch die zerschlissene, viel zu weite Stoffhose sehen konnte. „Leckt uns doch am Hintern.“

Philip zeigte auf mich. „Du bist hübsch. Pass auf dein Gesicht auf, Rose Walsh. Nicht, dass der Mörder des Bäckersohnes zu euch nach Hause kommt und euch alle aufschlitzt. Dein Alter hat Schulden bei meinem. Erinnert ihn daran“, zischte er dann.

„Und bei seinem Grundherrn soll er auch in den Miesen stehen“, behauptete sein Kumpel. Adam und Paul ballten die Hände zu Fäusten.

„Nicht“, zischte ich ihnen leise zu.

Die jungen Männer lachten noch lauter, während sich Cecilia von hinten an mich klammerte. Ihre Arme schlossen sich um meine Taille. Ich legte meine Hände auf ihre.

„Mein Vater ist ein ehrbarer Mann und begleicht immer alles. Dummes Geschwätz also!“, rief ich.

Philip spuckte aus und kniff die dunklen Augen zusammen. „Ich wüsste da schon einen Weg, wie man einen Teil zumindest an meinen gnädigen Vater zurückzahlen könnte. Damit wäre er auch einverstanden. Und ihr wollt ja auch nicht ins Arbeitshaus wandern. Denn ihr wisst ja, dass Betteln verboten ist.“ Er ließ die Brauen wackeln. Adam und Paul waren kaum noch zu zügeln.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Was erlaubte sich dieser Wicht?

„Das Verbot gilt auch für euch. Auf das andere gehe ich erst gar nicht ein.“

Smith lachte. „Was denn? Wir betteln nie. Also, was ist mit dem Angebot?“

„Rede doch, was du willst, und träume weiter. Wir gehen jetzt“, gab ich stolzer zurück, als ich mich im Moment fühlte. Aber meine Wut über diesen Rotzlöffel schäumte bereits über.

„Was ist das Angebot, Smith?“, rief Adam dazwischen. Böse sah ich ihn an, doch seine Blicke duellierten sich geradezu mit denen der anderen Seite.

„Wie dumm bist du eigentlich?“, fragte Smith und zeigte dann auf mich. Dabei leckte er sich mit der Zunge über die Lippen, wie Ruven es getan hatte. Widerlich! Die anderen beiden neben Smith zeigten mir ebenso ihre Zungen, da gingen Paul und Adam zum Angriff über. Im letzten Augenblick bekam ich sie zu fassen und konnte sie zurückdrängen, nachdem ich Cecilia behutsam, aber schnell zur Seite geschoben hatte.

Adam schnappte nach Luft, und Paul knirschte mit den Zähnen, während Cecilia zu weinen begann. Ich sah meine Brüder eindringlich an. „Diese Schweine!“, rief Adam.

„Sie wollen doch nur, dass wir angreifen. Leg dich nicht mit ihnen an. Sie sind dumm, was sie damit bewiesen haben. Wir stehen drüber“, riet ich den Buben.

Philip und seine Begleiter spuckten zusammen aus. „Ihr traut euch doch nur nicht. Eine Wette. Wenn wir die Schlägerei gewinnen, bekommt ihr unseren Gewinn von heute, wenn nicht, bekommen wir eure Schwester!“, rief Philip.

Ich musste meine ganze Kraft aufwenden, um Adam und Paul abermals zurückzuhalten. „Denkt an Mutter. Wollt ihr, dass sie sich noch mehr Sorgen macht?“, redete ich ihnen ins Gewissen.

Mutter war für die beiden ein Heiligtum. Der Gedanke an sie kam einer Läuterung gleich. Gleichzeitig nickten sie und schielten zu Smith und seinen Freunden hinüber. Dann spuckten sie ebenfalls aus und traten zusammen mit mir und Cecilia den Rückzug an.

Das Mondlicht schien auf die Wipfel der entfernten Bäume des Waldstückes, in dem ich dem Fremden begegnet war.

„Warum schläfst du nicht?“, fragte Adam mich leise.

„Ich kann noch nicht. Schlaf weiter und weck die anderen nicht“, gab ich flüsternd zurück.

Mein Blick wanderte hinüber zu Cecilia, die sich schon ein paarmal hin- und hergewälzt hatte. Paul hingegen schlief wie ein Stein. Natürlich hatten wir unseren Eltern nichts von dem Vorfall in der Stadt erzählt. Vater hatte sich nach dem Abendessen auf den Weg dorthin gemacht. Und er war nicht allein gegangen. Er nahm alles Geld mit sich, das wir in den letzten Tagen nach Hause gebracht hatten. Mutter hatte danach wieder geweint, und Emma und Abigail hatten sie zu trösten versucht.

„Such dir endlich einen Mann. Damit wäre uns allen geholfen“, sagte Vater mir noch, bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Auch das ließ mich nicht schlafen. Es klang beinahe, als wäre ich der Grund, warum er spielen gehen musste.

Adam seufzte und kroch zu mir.

„Du sollst doch schlafen“, erinnerte ich ihn.

Sein Blick richtete sich auf den vollen silbernen Mond. Nebelschwaden zogen durch die Umgebung, als wären sie Geister. In der Ferne rief ein Uhu.

Ich wickelte eine ausgerissene Haarsträhne um das Ende des Zopfes und warf ihn über die Schulter.

„Ich bleibe nicht ewig hier und arbeite für diesen Schuft Ruven.“ Adam spuckte die Worte nahezu aus. Ich konnte ihn so gut verstehen. „Ich werde einen Weg finden, damit alles besser wird“, legte er nach.

„Das wünschen wir uns alle. Und eines Tages soll es so sein.“ Mit diesen Worten lehnte ich mich weit aus dem Fenster, das wusste ich allerdings. Aber ich wollte es wirklich versuchen. Nur, dass ich keinen blassen Schimmer hatte wie, verriet ich Adam nicht.

„Du hast eine Idee? Welche?“ Seine Augen weiteten sich.

„Lass mich weiter nachdenken und geh schlafen.“ Ich deutete hinter mich. Adam bat mich noch einmal, tat dann aber, was ich von ihm verlangte.

Ich wickelte mir eine Decke um den Körper, die Großmutter aus Ziegenhaut genäht hatte, und spähte weiter hinaus. Hier oben gab es auch Mäuse. Ich konnte ihre kleinen Füße hören, wie sie zwischen und auf den Dachbalken entlang huschten und manchmal quiekten. Fieberhaft suchte ich in den Tiefen meines Gehirns nach einer brauchbaren Lösung, die uns von diesen Zwängen befreien würde, denen wir durch den Grundherrn ausgesetzt waren. Zwischendurch holten mich abermals die Gedanken an den geheimnisvollen jungen Mann aus dem Wald wieder ein. Unwillkürlich ließ ich zwei Finger zu meinen Lippen wandern, schloss die Augen und stellte mir vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn seine Lippen meine berührten. Meine Wangen glühten, die Scham stieg mir in den Kopf und brachte mein Herz zum Hämmern, wie ich es noch nie erlebt hatte. Es machte mir Angst und war zugleich auch schön. Mir wurde so heiß, dass ich die Decke zur Seite legen musste. Wie er wohl hieß? Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und wurde dadurch wieder wach, öffnete die Lider und schaute der Realität ins Gesicht.

So wie er ausgesehen hatte, war er ein feiner Herr, der mit Sicherheit nichts von einem Bauernmädchen wollte. Bestimmt hatte er unsere Begegnung schon längst vergessen. Schließlich schloss ich die Luke und legte mich zurück ins Bett, um mich besser auf eine Lösung für unser Problem zu konzentrieren. Bis jetzt war die Suche danach ergebnislos geblieben. Die seltsame Sehnsucht nach dem Fremden aber ließ mich dennoch nicht los.

Rose

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