Читать книгу Weibsstücke - Nadine T. Güntner - Страница 5
Mina
ОглавлениеDer Morgen begann düster, denn der Himmel war wolkenverhangen. Vom feuchten Boden stieg wabernder Nebel auf und die Landschaft schien an diesem Morgen in blaues Licht getaucht.
Ihre Tochter schlief noch, als Mina die kleine Hütte verließ. Es war noch früh und die Luft kalt. Mina musste sich ihren Fellumhang enger um die Schultern raffen. Seufzend und widerstrebend stapfte sie durch den schlammigen Boden, um sich zu den anderen Frauen des Dorfes zu gesellen, die bereits mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Die Vorbereitungen waren schon im vollen Gange, denn heute war ein ganz besonderer Tag, der wichtigste des ganzen Jahres. Dieser Tag war nur den Göttern gewidmet.
Der Druide hatte bereits die Nacht durchwacht. Er hatte sie in Trance und mit den unterschiedlichsten heiligen Handlungen verbracht. Als Mina an seiner Hütte vorbeikam, war er dabei, mit ernstem Gesichtsausdruck sein rituelles Messer zu schärfen. Es würde heute eine bedeutungsvolle Rolle spielen. Mina musste einen Moment stehen bleiben, denn ihr wurde das Herz schwer und der Druck nahm ihr den Atem.
Sie zwang sich weiterzugehen und erreichte die Frauen, die am Rande des Dorfes im Gesträuch hockten und die für das Ritual benötigten Kräuter sammelten. Die Männer hatten bereits lange vor Sonnenaufgang das Dorf verlassen, um ihr Jagdglück zu versuchen. Es sollte an diesem Abend wie jedes Jahr ein Festessen geben. Ihr ganzes Leben hatte sich Mina immer auf diesen Tag gefreut, doch heute hätte sie alles dafür gegeben, nicht daran teilnehmen zu müssen. Dieses Mal würde sie eine ganz besondere Rolle dabei spielen. Die anderen Frauen begrüßten sie herzlich, fast andächtig, als sie sich daran machte, mit ihnen die Kräuter zu schneiden. Mina spürte ihre neiderfüllten Blicke, als sie ihnen den Rücken zudrehte. Sie wusste, dass viele gerne mit ihr getauscht hätten. Mina hätte nicht gezögert, ihnen diese Gunst zu gewähren, doch es war unmöglich. Ihr allein wurde die Gunst der Götter zuteil. Es war eine Ehre, von ihnen erwählt zu werden, und man durfte sich ihrem Willen nicht widersetzen, denn das hätte ihren Zorn auf das ganze Dorf gezogen. Doch Mina spürte nichts von dem göttlichen Segen, sie fühlte nur den Schmerz, der mit ihm verbunden war. Wussten die Götter, welchen Schmerz sie den Auserwählten zufügten? Es war schlimmer als ein glühender Dolch im Herzen.
Als die Kräuter gesammelt und dem Druiden übergeben worden waren, kehrte Mina in ihre Hütte zurück. Ihre Tochter war inzwischen erwacht und freute sich über die Rückkehr der Mutter. Mina hätte am liebsten geschrien, so laut, dass ganz Germanien und die Götter selbst von dem Schmerz erfuhren, der ihr zugefügt wurde. Doch sie tat es nicht. Stattdessen nahm sie das Mädchen in die Arme und drückte es so lange an sich, bis die Kleine sich der Umschlingung entwand. Mina ließ sie mit Tränen in den Augen gewähren. Sie war sieben Jahre alt und sie verstand nichts von dem, was an diesem Tag geschehen würde.
Die Männer kehrten von ihrem erfolgreichen Jagdzug zurück. Sie brachten herrliches Fleisch mit, das die Frauen in Verzückung versetzte. Es gab viel zu tun. Die Tiere mussten ausgenommen und enthäutet werden. Dann wurden die Feuer angezündet.
Später, während ihre Tochter friedlich auf dem festgetretenen Erdboden der kleinen, rauchigen Hütte spielte, kamen die Jungfrauen des Dorfes und brachten Blumenkränze und ein feines Gewand, das nur für diesen Tag angefertigt worden war. Mina saß auf ihrem niedrigen Lager, hielt dabei ihre Tochter in den Armen und ließ, vom Schmerz wie betäubt, die Jungfrauen die heiligen Handlungen durchführen. Langsam wurde dem Mädchen bewusst, dass dies kein Tag wie jeder andere werden würde. Sie lachte und klatschte in die kleinen Hände, als sie in feinen Stoff gehüllt und mit Blumen geschmückt wurde. Mina hingegen weinte stumm. Es gab keinen Trost für sie an diesem Tag. Ein junges Mädchen mit strohblondem Haar, kaum drei Jahre älter als ihre Tochter, kam zu ihr und fragte sie mit verständnislosem Gesicht, warum sie weine. Sie könne doch stolz auf den Vorzug sein, der ihr gewährt wurde. Mina hätte sie am liebsten ins Gesicht geschlagen. Was wusste dieses dumme Ding schon?
Vor ihrer Hütte versammelten sich die Dorfbewohner. Zuletzt kam der Druide. Wenn sie gekonnt hätte, hätte Mina den offenen Zugang zu ihrer Hütte verrammelt und wäre mit ihrer Tochter nie wieder herausgekommen. Doch es wäre sinnlos gewesen. Es hätte nur den Zorn der Götter heraufbeschworen.
Der Druide betrat würdevoll ihre ärmliche Behausung. Er brachte wohlriechende Kräuter mit, die ihren Duft in der ganzen Hütte verströmten, und einen Trank, den er unter unzähligen Riten zubereitet hatte. Ihre Tochter schmiegte sich an Mina und umschlang mit ihren Armen die Hüfte der Mutter. Mit großen, ängstlichen Augen beobachtete sie den riesigen, unheimlichen Mann, der ihr noch nie ganz geheuer gewesen war. Sie wollte seinen Trank nicht annehmen. Erst nach der Aufforderung der Mutter, die diese nur mit größtem Leid über die Lippen brachte, nahm sie das Gefäß in die kleinen Hände. Der Trank schmeckte bitter und das Kind würgte. Es benötigte viel Zeit und Geduld, bis sie das Gefäß geleert hatte. Mina wusste, dass es ihrer Tochter nicht geholfen hätte, wenn sie den Trank verweigert hätte. Er machte die Sache nur erträglicher. Es dauerte eine Weile, bis das Gebräu seine Wirkung voll entfaltet hatte. Es machte das Mädchen gefügig und willenlos. Mit stumpfen Augen und abwesendem Gesicht hielt es die Hand der Mutter, die vom Schmerz fast ebenso betäubt war.
Der Druide führte die Prozession an, die hinaus ins Moor zog. Auf rutschigen, ausgetretenen Wegen, die geschickt alle gefährlichen Stellen umgingen, wanderten die Dorfbewohner zum heiligen Ort. Dort bildeten sie einen Kreis und nahmen das berauschte Mädchen in ihre Mitte. Einer der Männer musste es halten, denn Mina hatte nicht mehr die Kraft. Mit jedem Schritt wurde der Druck auf ihrer Brust größer, bekam sie weniger Luft, bis ihr schließlich schwindlig wurde und sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Jetzt stand Mina etwas abseits, von den Frauen des Dorfes umgeben, und der Druide stimmte einen heiligen Singsang an. Dann zog er das rituelle Messer hervor. Die blanke Klinge glänzte im bläulichen Tageslicht. Mina verspürte unbeschreibliche Übelkeit. Für einen Augenblick konnte sie Verständnis in den Augen ihres Kindes sehen, und dann, die Götter waren gnädig, ging alles sehr schnell. Noch bevor das Mädchen einen Laut von sich geben konnte, schnitt das Messer gekonnt durch das weiche Fleisch an ihrem Hals. Blut spritzte, dann brach der leblose Körper zusammen. Mina wurde schwarz vor Augen.
Als sie wieder erwachte, lag sie mit durchweichten Kleidern auf dem feuchten Erdboden. Sie raffte sich mühsam auf. Der Leichnam ihrer Tochter war bereits in ein helles Leinentuch gehüllt worden. Mithilfe zweier Männer und unter ständigem Gesang versenkte der Druide sie im Moor. Die Prozession wartete, bis das Opfer völlig von dem dunklen Morast verschluckt worden war, dann zogen sie wieder Richtung Dorf. Niemand bemerkte, dass Mina zurückblieb. Erst am Abend, während des Festmahls, wurde ihnen bewusst, dass sie nicht mehr unter ihnen weilte.