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Das Tal der stinkenden Auswürfe

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Finella starrte seufzend aus dem Fenster. Draußen strahlte herrlicher Sonnenschein.

„Mannometer! Das kotzt mich an!“ Missmutig verzog sie ihre Augenbrauen.

„Also höre einmal, so geht das aber nicht“, sagte der Wurbelschnurps, während er über ihre Bettdecke lief. „Du kannst doch nicht in solchen Ausdrücken sprechen.“

„Na, ist doch wahr. Da draußen scheint die Sonne und ich liege hier mit dieser blöden Erkältung im Bett. Es kotzt mich an.“

„Ich glaube dir ja, dass es dir langweilig ist und du lieber hinaus in die Sonne möchtest. Trotzdem kannst du so nicht sprechen. Nicht in diesen Worten“, beharrte der Wurbelschnurps.

„Wieso nicht?“

„Na, ist dir denn nicht klar, was du dadurch anrichtest?“

„Was soll ich dadurch denn schon groß anrichten?“

„Eine ganze Menge. Und nicht nur du. Leider gibt es viele Menschen, die des Öfteren allerlei gräuliche Worte und Redewendungen gebrauchen. Da du aber der einzige Mensch bist, der mich sehen kann, so kann ich auch nur dir von Amarythien berichten. Und wir in Amarythien leiden schrecklich darunter, wenn Menschen solch gräuliche Worte oder Redewendungen dieser Art gebrauchen.“

„Na und? Vielleicht ist das etlichen Menschen egal. Vielleicht ist es sogar auch mir egal? Was soll da schon groß passieren? Du mit deinen Erzählungen von Amarythien. Das sind doch alles bloß Märchen.“

„So würdest du nicht sprechen, wenn du Amarythien kennen würdest. Wärest du schon einmal dort gewesen und hättest es mit eigenen Augen gesehen, dann würdest du anders reden.“

„Hab' ich aber nicht.“

„He, lass deine schlechte Laune nicht an mir aus.“

Finella versank in ein kurzes Schweigen. Bald darauf überkam sie ein hartnäckiger Schüttelfrost. Sie vergrub sich in ihre Kissen.

„Wurbelschnurps?“

„Ja, Finella?“

„Mir ist so elendig kalt. Und ganz furchtbar heiß. Mir tut alles weh. Ich will gar nicht so maulig sein. Ich möchte doch einfach nur wieder gesund sein. Und in die Sonne.“

„Na ja, ein klein wenig wird es wohl noch dauern. Ein klein wenig. Nicht mehr lange, dann bist du wieder gesund.“

„Du hast es gut, Wurbelschnurps. Du brauchst bloß in die Seiten eines Buches zu hüpfen und schon kannst du nach Amarythien reisen. Und wenn du genug von Amarythien hast, dann machst du dich einfach wieder auf den Weg zu den Menschen. Du hast es gut.“

„Oh, weißt du Finella, im Grunde ist das eine ganz einfache Angelegenheit. Soll ich dich mal mitnehmen?“

„Geht denn das?“

„Weiß ich nicht. Aber…“

„Merk dir, was du sagen wolltest. Ich muss kurz aufs Klo“, unterbrach Finella ihn, stand auf und verschwand im Badezimmer.

Zwei Minuten später rauschte die Klospülung.

„So, wieder da“, sagte Finella, während sie wieder in ihr Bett kletterte. „Wie war das jetzt? Du kannst mich nach Amarythien mitnehmen?“

„Ich denke schon“, erwiderte der Wurbelschnurps. „Ich bin kein normaler Bücherwurm. Und du bist kein normales Menschenmädchen. Ich meine, überlege doch einmal: Du kannst mich sehen und ich kann zu dir kommen.“

„Stimmt. Also abgemacht. Du nimmst mich nach Amarythien mit und ich gebrauche weniger gräuliche Ausdrücke“, nuschelte Finella schlaftrunken.

Kurz darauf, lag sie bereits in tiefem Schlaf.

So eine massive Erkältung war ziemlich ermüdend.

*

Als Finella am nächsten Morgen erwachte, gähnte sie lautstark, wuschelte sich durch ihre Haare und schlurfte in das Badezimmer.

Der Wurbelschnurps lag eingerollt auf ihrem Kopfkissen. Er sah ihr nach.

Finella putzte sich die Zähne und verrichtete ihre morgendliche Notdurft. Anschließend warf sie einen kurzen Blick in die Küche. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch. Mama war schon auf der Arbeit. Unter einer Abdeckhaube lagen frisch belegte Brote auf einem Teller bereit. Später. Finella hatte im Moment keinen Hunger.

Sie ging in ihr Zimmer zurück und kroch unter die noch warme Bettdecke. Der Wurbelschnurps reckte und streckte sich. Er schüttelte seine vielen kleinen Beine in sämtliche Richtungen aus. Abwartend sah er Finella an. Sie blinzelte.

„Wollen wir uns heute auf den Weg machen?“ fragte er sie.

„Wohin?“

„Nach Amarythien. Wir hatten doch darüber gesprochen.“

„Ach so, ja. Ja, gerne. Ein Glück, dass ich zur Zeit krank geschrieben bin. Wie machen wir das? Ich meine: Wie vollziehen wir die Reise nach Amarythien?“

„Du nimmst einfach ein Buch, schlägst es auf einer beliebigen Seite auf und legst deinen Finger auf mich.“

„Ich lege meinen Finger auf dich?“

„Ja, und du lässt nicht los.“

„Na gut“, sagte Finella, während sie sich in ihrem Zimmer umsah. „Das ist mal etwas anderes, als in dem blöden Schulbus mitzufahren. He, habe ich dir schon einmal davon erzählt, dass einige Schüler jeden Tag von ihren Eltern zur Schule gebracht und abgeholt werden? Mit dem Auto! Manche bilden sich ziemlich etwas darauf ein. Die lachen dann diejenigen aus, die den Bus nehmen. Echt, ich könnt' kotzen. Voll krank! Die sind doch total scheiße im Kopf!“

„Nicht schon wieder.“

„Oh! Du hast Recht. Entschuldigung. Du liebe Güte, – es fällt mir ganz schön schwer, mir die gräuliche Ausdrucksweise abzugewöhnen. Ich finde das wirklich schwierig, weil so viele Menschen sehr oft so sprechen. So viele und so oft!“ seufzte sie wütend. „Ich mag es nicht, wenn Menschen auf so eine Art und Weise sprechen. Miteinander oder übereinander oder überhaupt. Wieso und warum, kann ich gar nicht so genau beschreiben. Das ist auch egal. Ich mag es einfach nicht. Und dann muss ich feststellen, dass ich selber auch viel zu oft so spreche. Dabei will ich das gar nicht. Ich möchte anders mit meinen Mitmenschen reden. Oder auch über sie. Ich finde das schöner. Und irgendwie… wichtig. Kann man das so sagen? Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll. Jedenfalls möchte ich mich anders ausdrücken können. Ich will das selber!“

„Dann schaffst du das auch.“

„Ja“, entschied Finella. „Ich weiß nur noch nicht genau, wie ich das anstellen soll. Hast du vielleicht einen Tipp, wie ich mir eine weniger gräuliche Ausdrucksweise angewöhnen kann?“

„Na klar! Fange in deinen Gedanken damit an. Überlege dir einfach, welche Bezeichnungen es für welche Gegenstände, Situationen oder Verhaltensweisen gibt. Erfreue dich an der Vielfältigkeit der Begriffe. Sammele sie in deinen Gedanken. So, wie man Muscheln von einem Sandstrand aufliest und sammelt.“

„Geht denn das?“

„Ja.“

„Hmmmm. Und das kann Freude bereiten?“

„Und wie!“ lachte der Wurbelschnurps ihr aufmunternd zu. „Als Nächstes überlegst du dir einfach, was du sagst, wenn du mit oder über jemanden sprichst. Oder über etwas. Über eine Situation zum Beispiel.“

„Das möchte ich schon. Es kommt mir nur so schwer vor. Vielleicht auch umständlich.“

„Hinterher fluppt das wie von selbst.“

„Aber im Moment ist es ganz oft so, dass mir die Worte einfach aus dem Mund herausgeschossen kommen. Hinterher, also fast direkt im Anschluss daran, bemerke ich es dann selber. Aber da ist es schon zu spät, weil ich den ganzen Müll schon gesagt habe. Bevor ich gemerkt habe, dass es Müll ist. Und dann ärgere ich mich. Über mich selber. Weil ich es doch anders machen möchte. Und ich möchte das schaffen, weil ich das wichtig finde. Und viel schöner.“

„Immerhin merkst du es, wenn du Müll geredet hast. Das ist doch schon mal ein Anfang.“

„Ach Wurbelschnurps. Meinst du wirklich, ich kriege das hin? Bezeichnungen und Begriffe sammeln, weniger Müll quatschen und das alles?“

„Das wird. Du wirst es schon sehen. Lass den Kopf nicht hängen. Bald schon wirst du dich daran gewöhnt haben und dann ist es ganz selbstverständlich. Ohne, dass du großartig darüber nachdenken musst.“

„Das klingt toll.“

„Es ist​ toll, Finella.“

„Du, Wurbelschnurps?“

„Ja?“

„Ich möchte aber nicht wie diese Kotzbrocken werden, die über diejenigen lachen, die mit dem Bus fahren.“

„Finella.“

„Ach Mist! Scheiße!“

„Finella!“

„Oha! Herrje, herrje! Ja, ich weiß! Ich habe mich wieder furchtbar ausgedrückt. Ich achte darauf! Ich übe das! Ich schaffe das!“

Der Wurbelschnurps schmunzelte. Finella kaute auf ihrer Unterlippe herum. Angestrengt überlegte sie, in welche Worte sie ihre nächste Äußerung fassen konnte.

„Weißt du…“, begann sie vorsichtig. „Ich finde dieses Lachen von denen nämlich gemein. Und ich glaube, die haben komische verquere Gedanken in ihren Köpfen. Ansonsten würden sie sich doch nicht so verhalten. Sondern anders.“

„Das ist richtig. Es ist ja auch kein schönes Lachen.“

„Es ist ein Auslachen.“

„So ist es.“

„Ja. Aber, Wurbelschnurps: Mein Papa hat mal seine Kaffeetasse zerdeppert, als er verschmierte Hände hatte. Sie ist ihm einfach aus der Hand geflutscht, als er danach greifen wollte. Klirr! Da mussten Mama und ich lachen. Das war doch auch ein Auslachen? Dann war das doch auch gemein? Haben Mama und ich dann auch verquere Gedanken?“

„Versuche einmal, dir diese Fragen selber zu beantworten. Sei aber ehrlich zu dir.“

„In Ordnung. Übrigens bin ich zu dir auch ehrlich.“

„Weiß ich“, antwortete der Wurbelschnurps verlegen, während etwas Frohes sich über sein gesamtes kleines Gesicht erstreckte.

Finella überlegte.

„Und du bist auch ehrlich zu mir, Wurbelschnurps. Das weiß ich“, sagte sie nach einer Weile. Ein wenig zu sich selbst und ein wenig in seine Richtung.

Der Wurbelschnurps wartete.

Finella legte ihre Stirn in Falten und verstärkte ihre Grübelei.

„Na super“, sagte sie schließlich resigniert. „Menno, Wurbelschnurps. Ich hätte dich wohl kaum gefragt, wenn ich die Antworten wüsste.“

„Überlege in Ruhe: Worüber genau habt ihr gelacht?“

„Hm. Vielleicht über sein Missgeschick. Oder darüber, wie die Situation gewesen ist.“

„Worüber genau?“

„Über beides.“

„Und welcher Teil hat überwogen?“

„Überwogen? Uff, Wurbelschnurps. Du fragst Sachen! Hmmm. Gute Frage. Also… Der Situationsteil hat überwogen. Glaube ich. Weil es so komisch aussah, als die Tasse durch die Küche segelte. Und dieser Schwung, mit dem ihm die Tasse aus seiner Hand flutschte. Huuuuuiii! Erst hat er ganz schön verdutzt geguckt.“

„Und was hat dein Papa dann gemacht?“

„Hm. Er hat auch gelacht. Und er hat Witze darüber gemacht, dass der Kaffee ihm seine Hose eingefärbt hat. Er sagte, er habe nun ein echtes Unikat, ohne dass ihn dieses Design einen großen Batzen Geld gekostet hätte.“

„Dein Vater hat also mit euch gemeinsam gelacht?“

„Ja.“

„Habt ihr ihn also auf eine herabwürdigende Art ausgelacht?“

„Nein! Sonst hätte er doch nicht mitlachen können!“ antwortete Finella ohne nachdenken zu müssen.

„Aha.“

Stille. Finella guckte ihren Wurbelschnurps an, als wäre sie mit einem riesigen ‚Boing‘ gegen eine enorme Metallscheibe gerannt.

„Du hast einen guten Spürsinn, Finella“, ermutigte der Wurbelschnurps sie aufrichtig. „Es ist ein sehr feiner Unterschied, wie und worüber man lacht. Möchtest du jetzt mit mir nach Amarythien aufbrechen?“

„Ich möchte jedenfalls auch dann kein herabwürdigendes Auslachen in meinen Gedanken haben, wenn ich eine weniger gräuliche Ausdrucksweise gebrauche.“

„Das wirst du auch nicht, Finella. Nicht, solange du dir über so etwas Gedanken machst. Sei unbesorgt.“

„Dann ist ja gut.“

„Eben darum.“

„Na, dann wollen wir mal“, sagte Finella und schaute sich, noch immer in ihrem Bett sitzend, im Zimmer um.

„Na endlich“, seufzte der Wurbelschnurps.

Auf dem Fußboden lagen zwei Schulbücher, ein Comic-Heft und ein Buch mit Bastelideen. Die vielen anderen Bücher hatte sie halbwegs ordentlich in das große Wandregal gestopft. Zwischen die Bastelsachen, die CDs und das Schulzubehör.

Finella lehnte sich bäuchlings über die Bettkante, ohne allzu weit unter der warmen Bettdecke hervorkommen zu müssen. Mit einer Hand angelte sie nach dem Bastelbuch und zog es zu sich herauf.

Sie blätterte eine Weile zwischen den Seiten hin und her, bis sie das Buch schließlich aufgeschlagen vor sich liegen ließ.

„Und jetzt?“ fragte Finella den Wurbelschnurps.

Der Wurbelschnurps setzte sich auf die aufgeschlagene Seite.

„Jetzt legst du deinen Finger auf mich“, sagte der Wurbelschnurps.

Finella tat, wie ihr geheißen war. Sie legte einen Finger auf den winzig kleinen Körper des Wurbelschnurpses, welcher nun emsig zwischen den Zeilen hin und her wanderte. Ganz so, wie ein echter Bücherwurm es zu tun pflegt.

In einem der geschriebenen Worte kam der Großbuchstabe „A“ vor. Er spazierte über dieses „A“ hinweg. Gleich darauf wechselte er zu einem anderen Wort, in welchem ein kleines „m“ vorkam. Er spazierte auch über jenes „m“ hinweg. So ging es weiter, bis der Name seiner Heimat – Amarythien – vollends buchstabiert war.

Während der gesamten Zeit lag Finellas Fingerspitze auf dem kleinen Wurbelschnurps und folgte jeder seiner Bewegungen. Sie ließ nicht los.

Kaum hatte der Wurbelschnurps den letzten Buchstaben passiert, entstand ein sanfter warmer Sog. Schwupps, schon standen die beiden in Amarythien. Na ja, sagen wir mal, der Wurbelschnurps stand. Finella hingegen saß auf ihrem Popo. Ihr war recht schwindelig. Im Gegensatz zum Wurbelschnurps war sie an diese Art des Reisens noch nicht gewöhnt.

Ein wenig verdutzt schaute sie sich um. Auf den ersten Blick schien es keinen großen Unterschied zwischen Amarythien und der Menschenwelt zu geben. Auch hier gab es einen Erdboden und einen Himmel. Auch hier schien eine Sonne. Vermutlich regnete es auch ab und zu. Da Finella dem Wurbelschnurps allerdings oft und aufmerksam zugehört hatte, wusste sie ganz genau, dass Amarythien sehr wohl anders als die Menschenwelt war.

Finella musste niesen. Ihre Erkältung hatte mit ihr die Reise nach Amarythien angetreten. Sie seufzte genervt. Die Erkältung hätte ruhig in der Menschenwelt bleiben können. Oder sonstwo.

Sie rappelte sich auf und folgte dem Wurbelschnurps. In der Tat fiel ihr jetzt einiges auf. Der Weg, den sie entlang liefen, war gelb. Ein hell leuchtendes, freundliches, warmes Gelb strahlte ihnen unter ihren Füßen entgegen. Zusätzlich verstärkte die Sonne das Gelb des Weges durch ihre Leuchtkraft um ein Vielfaches. Links und rechts umsäumten fein geästelte, rote und orangene Sträucher den Weg. Zwischen den Sträuchern wuchsen etliche Blumen. Ihre roten, violetten, gelben und rosa Blütenköpfe reckten sich der Sonne entgegen. Grünes Efeu umrankte ebenso grüne Bäume, die zahlreich in einiger Entfernung hinter den orangenen Sträuchern standen. Die Form ihrer Blätter erinnerte an Wassertropfen. Manchmal auch an die Form der Zahl Acht. Finella staunte.

Sie genoss jeden Schritt dieses Weges.

Einträchtig schweigend liefen sie weiter und immer weiter.

Nach geraumer Zeit wurde die Luft mit jedem Schritt übelriechender. All die grünen Bäume rückten in weite Ferne. Die Blumen wuchsen karger, sie standen nur noch vereinzelt am Wegesrand. Die herrlichen Farben ihrer Blütenköpfe verblassten. Auch die fein geästelten Sträucher sahen karg aus. Ihre orange und rote Färbung wich einem modrigen Braun. Ebenso verhielt es sich mit dem Gelb des Weges. Es wurde langsam, aber unübersehbar dunkler. Mittlerweile sah der Weg eher ocker denn gelb aus. Mit der Zeit lagen immer mehr Klumpen auf dem Weg. Seltsam abstoßende Klumpen, von denen Finella den ganz starken Eindruck hatte, dass sie im Grunde dort nicht hin gehörten.

Tatsächlich stank die Luft inzwischen entsetzlich und äußerst Ekel erregend, so dass Finella kaum mehr atmen konnte. Doch der Wurbelschnurps lief weiter. Ohne Weg und Steg, durch Klumpen, Pfützen und übel riechende Pampe. Erst als sie an einem großflächigen Morast ankamen, hielt er an.

„Bitteschön“, sagte der Wurbelschnurps und bedeutete mit seinen Vorderbeinen eine Geste, einer einladend präsentierenden Handbewegung ähnlich. „Das Tal der stinkenden Auswürfe.“

Finella vermochte kaum zu atmen. Der Himmel zeigte sich schwefelgelb und von Wolken verhangen. Die Wolken hatten eine dunkelbraune Farbe. Sie wurden, obwohl es des Öfteren regnete, kaum kleiner. Doch es regnete kein Wasser, nein. Es regnete dunkelbraune Kackhaufen und gelben Urin.

Finella war sprachlos. Sie hätte gerne „Iiiiiiiiiihh!“ oder „Uuuuääähhh!“ geschrien, doch selbst das brachte sie einfach nicht mehr fertig.

„Siehst du. So ist das im Tal der stinkenden Auswürfe“, sagte der Wurbelschnurps. „Jedes Mal, wenn jemand bei euch in der Menschenwelt ‚Scheiße‘, ‚Pisse‘ oder etwas dieser Art sagt, dann regnet es hier eine ebensolche. Manchmal ist die Geruchsbelästigung schon sehr furchtbar.“

„Das merke ich“, stellte Finella erschlagen fest.

Jetzt hätte sie gerne einen Schal gehabt, den sie sich vor ihre Nase hätte binden können.

Der Wurbelschnurps ging unverdrossen weiter. Offensichtlich war er gegen dererlei Unbill auf bewundernswerte Weise immun.

Ein hohes Bergmassiv umsäumte das Tal der stinkenden Auswürfe. Die Berge bestanden aus einer graugelbgrünen Masse. Auf einigen Bergen klebte ein nasser Schleim. Gelegentlich enthielt dieser sogar einige Bröckchen. Der Schleim roch um keinen Deut besser als die herunter geregneten Kackhaufen.

„Was ist das?“ fragte Finella, während sie ihre Nase mit der Hand abschirmte.

„Das“, antwortete der Wurbelschnurps, „sind die speienden Berge. Immer dann, wenn jemand bei euch in der Menschenwelt ‚Es kotzt mich an‘, ‚Zum Kotzen‘ oder na ja, etwas Ähnliches sagt, dann schleudert Erbrochenes aus den Bergspitzen heraus. Das Erbrochene tropft dann an den Bergwänden herunter. Und während es da so herabfließt, erkaltet es natürlich. So entstanden die speienden Berge.“

Finella verschlug es die Sprache. Der Wurbelschnurps hatte ihr ja schon viel von Amarythien erzählt, doch von dem Tal der stinkenden Auswürfe und von den speienden Bergen hatte er ihr bislang noch nie berichtet. Finella wurde übel. Dermaßen entsetzlich roch es am Fuße dieser Berge.

„Ist es jedes Mal so, dass in Amarythien…?“ setzte Finella ihre Frage an.

Der Wurbelschnurps nickte. „Wenn ihr in der Menschenwelt gräulich sprecht, haben wir in Amarythien eine greifbare Geruchsbelästigung.“

„Au weia!“ entfuhr es Finella.

„Tja“, seufzte der Wurbelschnurps. „Die einzige Möglichkeit, das Tal der stinkenden Auswürfe und die speienden Berge auszuradieren, ist ein weniger gräulicher Sprachgebrauch in der Menschenwelt. Es gibt aber sehr viele Menschen. In allen Ländern der Erde. Theoretisch müssten alle Menschen zeitgleich aufhören, gräuliche Ausdrücke zu gebrauchen. Theoretisch müssten alle Menschen einen weniger gräulichen Sprachgebrauch fortwährend beibehalten. Praktisch ist das allerdings kaum machbar.“

„Das stimmt wohl“, erkannte Finella sofort. „Es gibt aber etwas, was man machen kann. Etwas, was ich machen kann. Etwas, was jeder machen kann. Jeder in der Menschenwelt.“

„Was denn?“ erkundigte der Wurbelschnurps sich.

„Das ist doch ganz einfach. Ich verwende einfach ein paar gräuliche Ausdrücke weniger. Oder noch besser: Gar keine mehr.“

„Ui“, staunte der Wurbelschnurps. „Da hast du dir aber etwas vorgenommen.“

„Och, keine Sorge. Das kriege ich hin. Und weißt du was? Ich bitte einfach jeden, von dem ich gräuliche Worte höre, er möge weniger davon gebrauchen. Wenn ich auf meine Ausdrucksweise achten kann, dann können die anderen Menschen das auch. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Also ist es menschenmöglich. Ganz einfach.“

„Ja, das ist wahr“, antwortete der Wurbelschnurps. „Gut erkannt. Finella, sag: Was machst du, wenn du deswegen ausgelacht oder gehänselt wirst? Was machst du, wenn man dich als arrogant oder belehrend ansieht?“

„Pff. Da stehe ich drüber. Mal sehen, vielleicht erzähle ich dem ein oder anderen von Amarythien. Im Grunde ist das aber noch nicht einmal notwendig. Es reicht doch, wenn ich sage: ‚Ich mag das nicht.‘ Vielleicht füge ich noch ein ‚Ihr verbreitet Unrat.‘ hinzu, aber das ist dann genug.“

„Ja. Sag ruhig, wenn du die ein oder andere Ausdrucksweise nicht magst“, stimmte der Wurbelschnurps ihr zu.

So beschlossen sie es.

Finella stand noch eine ganze Weile da, um sich das Tal der stinkenden Auswürfe und die speienden Berge sorgfältig einzuprägen. Mitsamt dem Übelkeit erregenden Geruch.

Schließlich gemahnte der Wurbelschnurps zum Aufbruch. Doch bevor sie wieder in die Menschenwelt reisen würden, wollte Finella noch etwas wissen.

„Du, sag mal, Wurbelschnurps. Gibt es noch mehr solcher greifbaren Geruchsbelästigungen in Amarythien?“

„Ja. Da gibt es zum Beispiel noch den Sumpf der Missgunst und des Argwohns. Glaube mir, dort gehen wir besser nicht hin. Meistens hängen giftige Nebelschwaden über jenem Sumpfgebiet.“

„Ist es dort noch schlimmer als hier, im Tal der stinkenden Auswürfe?“

„Ja. Viel schlimmer“, beantwortete der Wurbelschnurps mit fester Stimme ihre Frage. „Denn dort ist es anders schlimm. Auf eine andere Art und Weise. Doch wäre es vielleicht ein bisschen viel, würde ich dir jetzt davon erzählen.“

„Gut, dann machen wir besser einen großen Bogen um besagten Sumpf.“

„Ja, das ist gescheit. Und sehr viel gesünder.“

„Gibt es auch schöne Orte in Amarythien?“

„Aber ja. Die schönen Orte überwiegen sogar.“

„Dann komme ich vielleicht mal wieder mit.“

„Das kannst du gerne machen, Finella. Wir wissen ja jetzt, dass es geht. Ich möchte dir auch einmal zeigen, wo und wie ich wohne. Natürlich nur, wenn es dich interessiert. Ich will dich nicht langweilen.“

„Wurbelschnurps!“ erwiderte Finella beinahe beleidigt und ihre Augen blitzten.

„Ah, ähem“, stotterte der Wurbelschnurps verlegen, jedoch sichtlich vergnügt. „Gut. Gut. Wunderbar. Sehr gut, ja. Was wollte ich sagen? Ach so, ja. Nun reisen wir aber erst einmal zurück in die Menschenwelt. Du bist schließlich noch immer erkältet.“

„Es ist so langweilig, nur im Bett zu liegen und Medizin zu schlucken.“

„Ich weiß“, sagte der Wurbelschnurps. „Ein wenig wirst du diese Langeweile allerdings noch aushalten müssen.“

„Na gut“, seufzte Finella.

Der Wurbelschnurps krabbelte auf ihre Schulter. Fröhlich sagte er den Vers auf, der sie wieder in die Menschenwelt brachte.

„Eins, zwei, drei. Amarythien ist vorbei. Jetzt kommen wir heraus, in Finellas Haus.“

Finella kicherte. Diesen Vers hatte sie noch nie zuvor gehört. Sie fand den Reim sehr lustig. Die Reise in die Menschenwelt war vollzogen, noch ehe sie ihren Kopf nach rechts oder links hätte drehen können. Prompt lag sie wieder in ihrem Bett.

Der Wurbelschnurps blinzelte sie an, rollte sich zusammen und seufzte behaglich.

„Du, Wurbelschnurps…“, sagte Finella nach einer Weile in die Stille hinein.

„Hm?“ machte der Wurbelschnurps.

„Ich kann nicht schlafen. Ich bin so müde, aber ich kann nicht schlafen.“

„Doch, du kannst“, brummte es ihr von der Bettdecke entgegen.

„Ich möchte wohl, aber ich kann nicht. Zumindest nicht jetzt“, bekräftigte Finella.

„Och, Finella“, maulte der Wurbelschnurps und drehte sich zu ihr um. „Schließe doch einfach deine Augen und kuschele dich in die Kissen. Dann kommt der Schlaf von ganz alleine.“

„Schön wär's.“

„Was ist denn los? Was hast du?“ erkundigte der Wurbelschnurps sich, während er sie aus schlaftrunkenen Augen fragend ansah.

„Meine Gedanken purzeln so durcheinander.“

„Oha? Alle?!“

„Nein, nein. Die meisten meiner Gedanken sind super sortiert. Das passt schon, keine Sorge.“

„Ein Glück!“ schnaufte der Wurbelschnurps erleichtert und drehte sich wieder auf die Seite.

„Im Grunde sind es bloß zwei Gedanken.“

„Na sieh mal einer an. Das klingt ja schon ganz anders. Bestens“, murmelte er ihr rücklings zu. „Kann ich jetzt schlafen? Ich bin müde.“

„Einen Moment noch, Wurbelschnurps. Bitte.“

„Na gut. Wenn es denn sein muss“, seufzte er, wandte ihr sein kleines müdes Gesicht wieder zu, setzte sich auf und sah sie abwartend an.

„Bevor wir nach Amarythien gereist sind, haben wir doch über meinen Papa gesprochen. Und über die Kaffeetasse und über das Lachen und so.“

„Ja. Worauf willst du hinaus?“

„Ich muss dich noch etwas über das Lachen fragen.“

„Was denn?“

„Also, – wenn die älteren Schüler auf dem Pausenhof stehen, dann bekomme ich manchmal einige ihrer Gespräche mit. Ein paar der älteren Mädchen haben sich mal über ihren Sportunterricht und auch über das Schulschwimmen unterhalten.“

„Mm?“

„Eines der Mädchen mochte den Unterricht wohl nicht. Die anderen Schüler haben sich nämlich immer über ihre Pickel amüsiert und Witze darüber gemacht und so. Das Mädchen hat zwar mit denen über diese Witze gelacht, doch sie schien nicht wirklich amüsiert oder gar unbekümmert. Im Gegenteil. Sie schien sehr bekümmert. Für mich sah es so aus, als hätte sie sogar sehr viel Kummer. Vorrangig dann, wenn Witze über sie gemacht wurden.“

„Gut, soweit konnte ich dir folgen. Worum geht es dir?“

„Na ja, um das Lachen eben. Das Mädchen hat doch mit den anderen gelacht, – auch über sich selbst. Wieso schien sie dann trotzdem so bekümmert?“

„Meinst du wirklich, sie hat tatsächlich gemeinsam mit denen gelacht?“

„Hmmmmmmm?“

„Gemeinsam?“

„Nein. Die haben gelacht und sie hat fast zeitgleich gelacht, – aber sie haben trotzdem nicht gemeinsam gelacht.“

„Was war anders als bei deinem Papa?“

„Hmm. Also… Papa sah herzlich und unbekümmert aus. Das Mädchen sah ein bisschen so aus, als ob sie Angst hätte oder so. Vielleicht war sie auch traurig. Ohne dass die anderen es bemerken sollten.“

„Also?“

„Ich denke, sie hat nur mitgelacht, um sich auf diese Weise vor ihren Mitschülern zu schützen.“

„Das kann sein. Wie ich schon sagte: Es ist ein sehr feiner Unterschied, wie und worüber man lacht.

„Ja.“

„Das war also einer der beiden purzelnden Gedanken.“

„Ja. Der purzelt jetzt nicht mehr.“

„Wunderbar. Was ist der andere purzelnde Gedanke? Bitte fasse dich kurz, ich möchte gerne ein wenig schlafen.“

„Wieso ist der Weg, auf dem wir eine Zeit lang durch Amarythien gelaufen sind, gelb? Ich meine: Wie kann das sein? Hat eure Sonne das gemacht?“

„Och, Finella, ehrlich: Können wir uns nicht ein anderes Mal über die Sonne Amarythiens unterhalten? Ich bin wirklich müde.“

„Ich weiß. Ich bin auch müde. Erzählst du mir denn später etwas mehr über die Sonne Amarythiens?“

„Ja. Bitte schlafe jetzt endlich. Du musst deine Erkältung auskurieren.“

„Ich bin dabei, Wurbelschnurps“, antwortete Finella gedankenverloren. „Sag mal, dieser gelbe Weg. Wie ist das möglich? Die Sonne Amarythiens scheint doch über ganz Amarythien? Und wenn wirklich sie das Gelb verursachen würde, zum Beispiel durch ihre Strahlen, wieso ist es dann nicht überall gelb?“

Der Wurbelschnurps antwortete nicht. Stattdessen ertönten gleichmäßige Atemgeräusche. Laut, tief und regelmäßig.

Finella sann noch eine geraume Zeit über Amarythien nach, – ehe auch sie endlich einschlief.

Der Wurbelschnurps

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