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Opa Hauke

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Finella kaute auf ihrem Frühstücksbrot herum. In einer halben Stunde würde der Schulbus losfahren.

Am liebsten wäre sie heute Morgen einfach in den Federn liegen geblieben. Lange ausschlafen, sich behaglich in der warmen Bettdecke „herumlümmeln“, wie Mama es immer auszudrücken pflegte, und den Tag in aller Ruhe mit einer warmen Tasse Kakao beginnen – herrlich.

Stattdessen klingelte in aller Frühe der Wecker.

Ihr Ausflug nach Amarythien lag schon ein paar Tage zurück. Längst war die Erkältung ausgeheilt. Kaum dass sie wieder auf den Beinen war, stapelten sich auch schon die Forderungen der Lehrer: „Du musst den Unterrichtsstoff pauken!“ und „Nächste Woche schreiben wir eine Klassenarbeit!“

Seit zwei Wochen ging das nun schon so.

Damit nicht genug, hörte sie von Mama dasselbe. Fi­nel­la fiel beim besten Willen nicht ein, wie sie den leidigen Stress der doofen Klassenarbeit umgehen sollte. Man kann ja schließlich nicht immer krank sein. Kein Arzt würde ihr ein Attest ausstellen:

„Finella kann in der kommenden Woche an keiner Klassenarbeit teilnehmen. An diversen Vokabeltesten und so weiter übrigens auch nicht. Gezeichnet Doktor Soundso.“

Hm. Außerdem kam es ihr ohnehin nicht besonders klug vor, sich vor alledem zu drücken. Hm, hm und nochmal hm.

Finella mümmelte an einem Apfelstück. Jetzt hätte sie gerne den Wurbelschnurps dazu befragt, doch der hatte sich seit drei Tagen nicht mehr blicken lassen.

„Ich muss zum alten Dorjas. In ein paar Tagen bin ich wieder bei dir“, hatte er gesagt.

In ein paar Tagen. Was heißt hier in ein paar Tagen? Geht es nicht etwas genauer? Schließlich sind hier ganz wichtige Sachen zu lösen. Klassenarbeiten zum Beispiel.

„Finella! Der Bus kommt gleich! Schwing die Hufe!“

Die Stimme ihrer Mutter durchdrang sämtliche Räume.

„Jahaaaaaaaaaaa!“ rief Finella in selbiger Lautstärke zurück.

Gleich darauf fiel die Tür mit einem lauten Rumms hinter ihr zu, während sie mit geschultertem Rucksack bereits zur Bushaltestelle rannte.

In der Schule lief es wie üblich. Schulfach um Schulfach reihte sich aneinander. Diverse Cliquen und einzelne Schüler standen in der Pause auf dem Schulhof herum. Finella gehörte seit einiger Zeit zu denjenigen, die einzeln verstreut standen. Seit ziemlich genau zwei Wochen. Seit sie angefangen hatte, weniger gräuliche Ausdrücke zu gebrauchen. Seit sie es ihren Mitschülern sagte, wenn sie deren Ausdrucksweise nicht mochte.

In den ersten zwei, drei Tagen war ihre sanfte Beharrlichkeit für ihre Mitschüler lediglich ein Anlass allgemeiner Verwunderung oder Belustigung gewesen. Doch schon bald wurde es der Aufhänger für Ausgrenzung, offene Lästereien sowie auch Hetzreden hinter ihrem Rücken. Mit jedem Tag waren die Anfeindungen massiver geworden.

Die Erinnerung an vergangene Ereignisse stieg in ihr auf. Ereignisse aus dem vorherigen Schuljahr. Fotos von ihr waren verändert worden. Ihr Gesicht prangte plötzlich auf viel älteren Frauenkörpern. Oder sie hing blutverschmiert an einer Straßenlaterne oder lag vergammelt in stinkenden Mülltonnen. Und dann gab es da noch die Fotos, auf denen Finella nur Unterwäsche trug. Steffi hatte Finella in der Umkleide geknipst. Vor dem Sportunterricht. Das hatte Steffi später zugegeben. Sie hatte so getan, als ob sie Selfies von sich schießen würde. Tatsächlich war sie dabei immer näher an Finella herangerückt und hatte sie beim Umziehen fotografiert, ohne dass Finella es bemerkt hätte. Murat und Tom hatten einige der Fotos am Computer verändert. Allerdings hatten sie das wohl nicht alleine bewerkstelligt. So hieß es jedenfalls. Ein paar der Fotos hatten sie weitestgehend unbearbeitet gelassen. Auf denen war lediglich der Hintergrund verändert worden. Doch das reichte schon.

Finella in Unterwäsche an der Bushaltestelle. Finella in Unterwäsche in den Armen eines Typen. Finella in Unterwäsche auf einem Zeitungscover. Und so weiter. Alle hatten sie diese Fotos auf ihren Mobiltelefonen gehabt. Und auf ihren Rechnern. Und auf ihren Tablets. Und viele hatten sie gepostet, geteilt und kommentiert. Die besonders Witzigen hatten die Fotos noch weiter bearbeitet und Videos daraus gebastelt.

Finella schüttelte sich. Sie hätte kaum in Worte fassen können, wie all das sich angefühlt hatte.

Mobbing nennt man das, hatten sie im Lehrerzimmer gesagt. „Meinetwegen können sie es nennen, wie sie wollen. Das ändert nichts.“ dachte sie bei sich. Die betont einfühlsamen Gesprächsangebote der Lehrer und des eingeladenen Kinder- und Jugendpsychologen gaben ihr ebensowenig wie die diversen ihr empfohlenen „Mach dich stark gegen Mobbing“-Portale im Internet. All das hatte nichts mit ihrem wirklichen Leben zu tun. Niemand kam und sperrte die Schule mit einem Zahlencode zu, so dass nur die erträglichen Schüler hineinkamen und die Bescheuerten somit draußen blieben. Das hätte Finella mal eine verlockende Idee gefunden. Zumindest kurzzeitig. Aber nein, – sie musste immer wieder in dieselbe Klasse. Jede Woche.

Also hatte Finella die Idee an eine selektierte und auf sie maßgeschneiderte Klassengemeinschaft sehr bald ad acta gelegt und in ihrem Innern beschlossen, dass sie sich in keiner Weise unterkriegen lassen würde. Weder von ihren Mitschülern noch von der Mobbinggeschichte. Mit dieser ihr eigenen inneren Haltung hatte sie fortan das Schulgebäude betreten. Vielleicht nicht ständig in superguter Verfassung – wie sie am jeweiligen Tag so drauf war, hing nämlich von mehreren Faktoren ab –, jedoch immer mit jener inneren Haltung.

Die Lehrer und der Schulpsychologe hatten sie und ihre Eltern zu Finellas Einstellung und Vorgehensweise beglückwünscht und respektiert, dass sie keine weiteren Gespräche wollte. Sie hatte den Erwachsenen gesagt, dass sie ja ohnehin selber da durch müsse und da könne sie das auch gleich direkt so machen. Außerdem, so hatte Finella den Erwachsenen erklärt, wisse sie dann umso besser, was wirklich aus ihr selber komme und dass das ungemein hilfreich sei. Für sie persönlich sehr viel hilfreicher als dieser ganze andere Kram drumherum. Der Schulpsychologe hatte gesagt, das Finella eine positive Einstellung hege, ein verhältnismäßiges, gesundes Zutrauen zu sich selber habe, – in einem realistischen Maße, ohne dem Fallstrick der Selbstüberschätzung zu erliegen – und ihre Eltern beglückwünscht. Sowohl zu ihrer erfolgreichen Erziehung als auch zu ihrer ungewöhnlichen Tochter. Mama und Papa hatten komische glänzende Augen bekommen, die Glückwünsche entgegen genommen und Finella gesagt, dass sie stolz auf sie und immer für sie da seien. Das hatte sich gut angefühlt und Finella wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Wieso genau ihre Eltern stolz auf sie waren, hatte sie allerdings nicht so ganz verstehen können. Schließlich hatte sie einfach nur eine logische Schlussfolgerung geäußert. Davon einmal abgesehen: Wöchentliche Extrastunden! Das fehlte gerade noch! Sie hatte nun wirklich genug mit dem Unterricht, den anschließenden Hausaufgaben und der elenden Stoffbüffelei vor der jeweils nächsten Klassenarbeit zu tun. Mal muss der Mensch auch Freizeit haben.

Der Schulgong läutete und riss Finella aus ihren Gedanken. Der Unterricht wurde fortgesetzt. Martina notierte sich erste Stichpunkte.

Martina war diejenige, die im Klassenzimmer auf dem Stuhl neben ihr saß. Im Unterricht fast immer engagiert, im Umgang mit ihren Mitschülern eher still und zurückhaltend. Was nicht bedeutete, dass sie den Schnabel nicht aufmachen konnte.

Martina war eine der Wenigen gewesen, die sämtliche ihr zugesandten Fotos und Postings gelöscht hatte, sobald sie welche zugeschickt bekam. Sie hatte zwar nicht an die große Glocke gehängt, von wem sie die Bilder, Videos und Kommentare kamen, doch als sie vom Direx und der Klassenlehrerin dazu befragt wurde, hatte sie ihnen eine ehrliche Antwort gegeben.

Im Anschluss daran wurde sie von den anderen Mitschülern geschnitten. Seltsamerweise schien Martina das kaum etwas auszumachen. Sie saß nach wie vor jeden Tag auf ihrem Stuhl, beteiligte sich aktiv am Unterricht und behandelte Finella so wie sonst auch. Finella fand das gut. Hätten Martina oder die Lehrer sie nach den Mobbingvorfällen anders als vorher behandelt, so hätte permanent ein unsichtbares Schild auf ihrer Stirn geprangt. Das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Martinas Eltern hatten einen augeprägten Sauberkeitsfimmel. Eine Tatsache, die Martina manchmal in komische Stimmungsschwankungen versetzte. Es hatte Momente gegeben, in denen sie völlig panisch reagierte. Bloß weil ihr ein paar Brotkrümel und etwas Hüttenkäse auf ihr Poloshirt gefallen waren. Und nach der Sportstunde duschte sie immer besonders lange.

Sie war nicht wie die anderen aus ihrer Klasse und Finella hegte die vage Vermutung, dass Martina aus diversen ihr unbekannten Gründen auch nicht so sein durfte.

Andererseits, – wenn Finella es wahrheitsgemäß betrachtete, so musste sie sich eingestehen, dass sie selbst ebensowenig zu den anderen aus ihrer Klasse gehörte. Nicht so richtig. Wohl hatte es Zeiten gegeben, in denen sie gerne dazugehört hätte. Na ja, natürlich nicht zu allen. Nur zu der einen oder anderen Clique. Doch die wollten Finella nicht dabei haben.

Aber all das hatte sich vor langer Zeit abgespielt. Seit den Mobbingereignissen hatte Finella an Kontakten zu ihren Mitschülern sowieso keinen Bedarf mehr.

Manchmal sah Martina traurig aus. Finella verstand bloß nicht, woher Martinas Traurigkeit kam. Darum wusste sie auch nicht, wie sie Martina in solchen Momenten hätte trösten können. Sie hatte einmal probiert, Martinas Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass ein paar Krümel nichts anderes als Nichtigkeiten sind, man Kleidung waschen kann und sie doch jeglichen Grund zur Entspanntheit hätte. Zum Beispiel, weil sie regulär tolle Noten schreibt und ihr eine Menge Equipment und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Finella gab offen zu, dass sie ein paar dieser Annehmlichkeiten und Möglichkeiten selber auch gerne gehabt hätte. Sie missgönnte Martina keine einzige davon. Ganz im Gegenteil. Sie freute sich mit ihr. Seltsamerweise hatte Martina nur abgewinkt.

Während des vergangenen Schuljahres hatte Finella Martina zu ihrem Geburtstag eingeladen. Zusätzlich hatte sie sie hin und wieder gefragt, ob sie nach der Schule mit ihr schwimmen gehen wolle. Martina jedoch hatte jedes Mal abgesagt. Mal war es der Geigenunterricht, mal der Reitunterricht, mal das Kunstturnen. Finella wusste nicht, was sie davon halten sollte. Selbst an Tagen, an denen Martina keine Kalendereinträge vorlagen, fand kein Treffen statt.

Auch die Hausaufgaben wollte Martina immer alleine erledigen.

Hinzu kam, das Martina ihrerseits Finella bisher kein einziges Mal gefragt hatte, ob sie etwas zusammen unternehmen wollten. Geschweige denn, dass sie Finella jemals zu ihrem Geburtstag eingeladen hätte. Finella war sich nicht einmal sicher, ob Martina ihren Geburtstag überhaupt feierte.

Ihr gegenseitiger Kontakt ging kaum jemals über eine gewisse Schwelle hinaus.

In der Sitzbank war sie meistens freundlich zu ihr. Manchmal ließ sie sie sogar abschreiben. Und dann wieder gab es Tage, an denen Martina sich zickig, eingebildet, extrem selbstbezogen, überheblich und tyrannisierend gebärdete. Aus guten Gründen mochte Finella dies nicht. An solchen Tagen wurden Finella Martinas unliebsame Charakterzüge bewusst und sie war froh, nicht enger mit ihr befreundet zu sein.

*

Als Finella an diesem Tag nach Schulschluss zur Bushaltestelle ging, wurde sie von drei Mitschülern abgefangen. Es handelte sich um zwei Jungen und ein Mädchen aus ihrer Klasse. Tom, Murat und Stefanie, genannt Steffi. Sie drängten Finella zur Seite, während alle anderen zum Schulbus rannten. Finella probierte, an den dreien vorbeizulaufen. Doch Tom und Steffi hielten sie an ihrem Rucksack und an den Armen fest.

Tom baute sich vor ihr auf. Der Bus fuhr los. Na toll.

„Na, wään ham' wia denn daaa? D' kleine Pisserin, wo's nicht ap ham kann, wenn'sch Scheiße sach'. Sacht eine, wo selba ständisch Scheiße labat.“ Tom grinste dümmlich. Murat und Steffi johlten.

„Kann ja nicht jeder unter mangelndem Durchblick leiden! Ist leider 'ne Krankheit der Hirnlosen! Tut mir leid für dich!“ schnauzte Finella zurück.

Zu dritt schubsten sie Finella von einem zum anderen. Abwechselnd rempelten sie sie an, traten ihr gegen die Beine oder versetzten ihr Stüber gegen die Arme und in den Bauch. Nach endlos langen schmerzvollen Minuten gelang es ihr, sich los zu reißen. Blitzschnell raste sie davon. Tom, Murat und Steffi hinter ihr her.

„'Sch mach disch färtisch, du Opfa!“ schrie Tom.

„Wia krian disch!“ brüllte Murat.

„Schlampe!“ keifte Steffi.

Finella rannte und rannte. An parkenden Autos vorbei, durch Seitenstraßen, an einer Hecke entlang. Die drei holten auf.

„Ein Versteck! Ich brauche ein Versteck!“

Auf die Hecke folgte ein Bretterzaun. Nur verschwommen nahm Finella dies wahr. Der Bretterzaun wurde niedriger. Finella musste nicht lange überlegen. Noch während sie rannte, holte sie Schwung, stützte eine Hand auf den Zaun und schwang sich herüber.

Sie landete in unbekanntem Grün, duckte sich und wagte kaum zu atmen. Kurz darauf hörte sie Tom, Murat und Steffi an dem Zaun vorbeirennen. Sah, wie diese am Ende der Straße links abbogen und verschwanden. Finella keuchte. Sie atmete auf.

Schon durchfuhr sie ein neuer Schreck. Eine feste Hand griff in den Rücken ihrer Jacke. Finella fuhr herum. Die Hand gehörte zu einem älteren Mann. Er hatte weißgraue Haare und trug eine dunkle Kappe auf seinem Kopf.

„Hey! Was soll das? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

„Momentchen mal! Die Fragen stelle ich hier. Schließlich ist das mein Garten. Du hast meine Beete ruiniert! Was fällt dir ein?!“

„Bin ja schon wieder weg.“

„Nichts da! Du bleibst schön hier!“

„Ich soll nicht mit fremden Männern sprechen. Und mit fremden Männern mitgehen, soll ich schon mal gar nicht. Das hat mir meine Mama schon eingetrichtert, als ich noch in den Kindergarten ging. Also lassen Sie mich gefälligst los!“

„Das hättest du dir vorher überlegen müssen!“ Er hielt sie weiter fest.

Finella fischte ihr Handy aus der Jackentasche. Ohne Zögern rief sie ihre Mutter an. Nur im Notfall, hatte Mama gesagt. Auf der Arbeit anrufen: nur im Notfall. Dieses hier war eindeutig ein Notfall.

„Geh dran, Mama. Bitte, bitte, geh dran“, flehte sie.

Die Stimme ihrer Mutter erklang. Sie hatte den Anruf tatsächlich entgegen genommen.

„Mama?! Er lässt mich nicht weg! Ich habe ihm gesagt, dass es keine Absicht war, aber er lässt mich hier nicht weg! …“ Weiter kam Finella nicht.

Die noch freie Hand des Mannes griff nach ihrer. Sie ließ das Mobiltelefon nicht los.

„Finella? Was ist los? Wer? Ich verstehe kein Wort. Weswegen rufst du an?“ klang es ihnen aus dem Telefon entgegen.

„Sind Sie die Mutter von diesem randalierenden Mädchen?“

„Wer sind Sie? Ich möchte sofort wieder mit meiner Tochter sprechen!“

„Wilhelm Hauke mein Name. Ihre Tochter hat mir meinen Garten ruiniert. Ich verlange Schadensersatz.“

„Schadensersatz?“

„Jawohl, Schadensersatz. Die Rosen, die Tomaten, der Salat, alles hinüber. Also kommen Sie bitteschön hierher, holen ihr Kind ab und erstatten mir das. So geht's ja nun nicht!“

„Geben Sie mir sofort meine Tochter!“

„Ich bin hier, Mama. Holst du mich bitte ab? Bitte!“ schrie Finella in den Hörer.

„Ja, das sollten Sie wohl besser. Holen Sie Ihre Tochter hier ab. Dann klären wir alles Weitere“, setzte Herr Hauke nach.

„Hrrrrrrgggh! Wo soll ich hinkommen?“

„Kleingartenanlage ‚Zur friedlichen Taube‘, Schrebergarten Nummer 19.“

„Ich bin unterwegs. Wilhelm Hauke, Schrebergarten 19, Kleingartenanlage ‚Zur friedlichen Taube‘. Richtig?“

„Richtig. Sie müssen für den Schaden haften. Und seien Sie unbesorgt, ich tue Ihrem Kind nichts.“

„Bin unterwegs.“

Wilhelm Hauke drückte das Hörer-Symbol. Es piepste. Er hatte das Gespräch beendet. Finella starrte ihn an.

„Das ist mein Handy! Meines!“ empörte sie sich.

„Ich weiß“, erwiderte Herr Hauke, gab Finella ihr Handy zurück und wies in Richtung Gartenlaube.

Es war ein kleines Steinhaus, welches wohl gerade genug Platz für das Nötigste bot. Herr Hauke öffnete die Tür und sogleich standen sie direkt in einer Art Wohnstube. Dort setzte er Finella auf einen Holzstuhl, der vor einem Tisch stand. Er selbst nahm auf der hölzernen Sitzbank Platz.

An den Wänden rings herum hing ein eigentümliches Sammelsurium aus rustikalem Allerlei. Alte massive Holzräder, die irgendwer mit Metallhaken versehen hatte, so dass man nun Mäntel oder Regenschirme oder dergleichen mehr daran aufhängen konnte. Laternen, in denen sich heruntergebrannte Stumpenkerzen befanden. Eine großes altes Thermometer, das neben der Temperatur auch den Luftdruck, die Niederschlagswahrscheinlichkeit und die Windrichtung anzeigte. Blumenkübel, in welchen sich blühende Blumen befanden. Holzrinden in unterschiedlichen Größen, aus denen koboldähnliche Gesichter mit dicken knubbeligen Knollennasen herausgearbeitet worden waren. Kleine weiße Tierschädel, die Geweihe trugen. Ein überschaubares Hängeregal, in welchem vier Teller hinter einem Querbalken standen. Zusätzlich hatte es vier Haken, an denen wiederum vier Becher baumelten. Eine runde Wanduhr, die an einen Kupferteller mittlerer Größe erinnerte.

Die Zeiger dieser Uhr klackten laut.

„Deine Mutter kommt gleich“, brummte er.

Finella war mit ihren Nerven am Ende. Sie begann zu weinen. Wilhelm Hauke reichte ihr ein Taschentuch. Sie schüttelte ihren Kopf. Er legte es auf den Tisch.

„Erst redet in der Schule keiner mehr mit mir, dann jagen die mich durch die halbe Siedlung und jetzt auch noch du!“ brüllte Finella unter Tränen.

Herr Hauke rutschte unruhig auf seiner Sitzbank herum, bemüht, die Fassung zu wahren.

„Sie“, sagte Herr Hauke in einem ruhigen, fast schüchternen Ton. „Es heißt ‚Sie‘.“

„Du!!!“ brüllte Finella heulend.

Eine kleine Pause entstand.

„W… Wilhelm.“

Nun entstand eine etwas längere Pause. Minuten vergingen. Finella hatte ihren Kopf auf die Tischplatte gelegt und ihr Gesicht auf das Holz gedrückt. Mit beiden Armen umschlang sie ihren Haarschopf.

„Finella“, sagte Finella schließlich.

Sie hob ihren Blick und stellte fest, dass dieser alte Mann ein mürrisch herzliches Gesicht hatte. Instinktiv wusste sie, dass er ihr kein Leid zufügen würde.

Wilhelm rutschte indessen weiter unruhig auf seiner Sitzbank hin und her. Er wusste nicht, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Mit einem Kind, einem weinenden Mädchen gar, war er schlicht und ergreifend überfordert. Niemand musste Finella diese Tatsache mitteilen oder erklären. Sie konnte es sehen.

Und Finella konnte ihn nur allzu gut verstehen, denn sie war ihrerseits nicht minder überfordert. Der Ärger in der Schule, der verpasste Bus, die Hetzjagd, der Schrebergarten – uff. Sie schniefte.

Wilhelm Hauke nickte vorsichtig. Ohne ein Wort zu sagen, deutete er auf das noch immer bereit liegende Taschentuch. Finella griff danach. Sie schnäuzte sich. Wilhelm Hauke schaute etwas hilflos drein. Unbeholfen legte er ein weiteres Taschentuch auf den Tisch. Finella guckte ihn an.

„Hast du heißen Kakao?“ fragte sie heiser.

Wilhelm Hauke stand auf und kratzte sich am Kopf.

In der Gartenlaube gab es eine winzige Kochzeile. In einem kleinen Schrank fand er tatsächlich eine Dose Kakaopulver. Wilhelm Hauke rührte drei Esslöffel davon in etwas Milch ein. Er erhitzte den Kakao, schüttete noch etwas mehr Milch hinzu und reichte Finella daraufhin eine große Tasse heißen dampfenden Kakao an.

„Geht es dir jetzt besser?“

„Ja. Etwas.“

Ein richtiger Opa.

Opa Hauke.

*

Schritte. Mamas Schritte, ganz unverkennbar.

Herr Hauke nahm Finellas Mutter wohlwollend in Empfang, doch die hatte im Moment keinen Sinn für Freundlichkeiten. Sie wollte sich unverzüglich vom unversehrten Zustand ihrer Tochter überzeugen.

Finella starrte sehr konzentriert in ihre Kakaotasse. Da war noch gut die Hälfte drin. Sie ließ sich Zeit, nahm ganz kleine Schlückchen. Vornehmlich ohne dabei ihren Blick von der Kakaotasse abzuwenden.

Zunächst ließ Finellas Mutter sich kaum beruhigen. Die zwei Erwachsenen diskutierten sehr ausgiebig miteinander. Opa Hauke fast durchgehend ruhig und bestimmt. Finellas Mutter meistens hitzig und laut. Nachdem Finella ihren Kakao ausgetrunken hatte, gingen sie allesamt in den Schrebergarten hinaus. Wilhelm Hauke zeigte ihrer Mama die abgebrochenen Rosen und das matschige Gemüse.

Er sah traurig aus. Sehr traurig.

Mama schien es kaum aufzufallen.

Die Erwachsenen einigten sich auf eine Summe, Finellas Mutter schrieb seine Kontodaten auf. Sie sagte ihm zu, die Summe heute nach Feierabend zu überweisen. Herr Hauke nickte, sah jedoch kein bisschen weniger traurig aus. Minutenlang schaute er auf das Beet. Schließlich sah er auf, betrachtete seinen gesamten Garten, dann wieder das Beet.

Ihre Mutter schob sie aus der Gartenpforte, verabschiedete sich eilig von Herrn Hauke und startete den Wagen.

„Mein Chef hat mir netterweise eine kurze Pause eingeräumt“, sagte sie, während sie losfuhr. „Ich muss den Zeitausfall nacharbeiten. Ich muss heute Abend länger an der Kasse sitzen.“

Finella hörte sie kaum.

Sie sah Opa Hauke.

Sah, wie traurig er war.

*

„Ich habe mit Papa telefoniert“, eröffnete Mama ihr während des Abendbrotes. „Wir sind einer Meinung: Montag spreche ich mit deinem Klassenlehrer. Der muss die drei Gestörten abmahnen.“

„Oh nein, Mama! Bitte nicht! Weißt du, was dann los ist?“

„Und bis das stattgefunden hat, bringe ich dich morgens zur Bushaltestelle. So kann niemand dir auflauern.“

„Mama, nein! Bitte!“

Doch Finellas Mutter ignorierte die Einwände ihrer Tochter.

Verzweifelt sackte Finella in sich zusammen. Sie ließ das Abendbrot über sich ergehen und verschwand anschließend in ihr Zimmer.

Der leichte Anflug eines frohen Lächelns regte ihre Mundwinkel, als sie es betrat. Denn dort, auf ihrem Kopfkissen, saß der Wurbelschnurps. Sie freute sich sehr, ihn endlich wieder bei sich zu haben. Es dauerte auch gar nicht lange, da hatte sie ihm alles erzählt. Er lauschte sorgfältig, nickte ab und an und pustete ihr gelegentlich in ihre Haare. Dieses Pusten tat gut. Es machte das frohe Lächeln in ihren Mundwinkeln etwas beständiger.

Der Wurbelschnurps krabbelte auf ihre Schulter. Er begann nun, ihr von seinem Besuch beim alten Dorjas zu erzählen.

Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett, betrachtete die Sterne auf ihrem Kopfkissenbezug und hörte ihm aufmerksam zu.

„In wenigen Tagen macht Dorjas sich auf den Weg zu seiner Schwester“, schloß er seine Erzählung.

Finella nickte. Sie verstand sehr wohl, dass der alte Dorjas seine Schwester besuchen wollte. Wie gerne hätte sie einen Bruder oder eine Schwester.

„Kann ich nicht mitkommen?“ fragte sie den Wurbelschnurps.

„Oh, natürlich kannst du mitkommen. Bist du denn sicher, dass du mitkommen möchtest?“

„Ich möchte jedenfalls keine Klassenarbeit schreiben.“

„Hm“, machte der Wurbelschnurps nachdenklich. „Erst die Klassenarbeit.“

„Muss das sein?“

„Ja.“

„Och menno.“

„Erst die Klassenarbeit, dann Dorjas' Schwester besuchen.“

„Na gut“, seufzte Finella.

„Vielleicht solltest du noch ein wenig lernen, um gut auf die Klassenarbeit vorbereitet zu sein.“

„Wir haben Wochenende!“

„Ich weiß.“

„Und gestern hatte ich zu viel Stress, als das ich noch hätte lernen können.“

Der Wurbelschnurps sah sie abwartend an.

„Und morgen ist auch Wochenende!“

Der Wurbelschnurps sah sie weiterhin an, sagte jedoch nichts.

„Außerdem würde es sich gar nicht lohnen, wenn ich jetzt anfinge, den Stoff für die Klassenarbeit zu pauken. Bestimmt hätte ich bis zur Klassenarbeit alles wieder vergessen. Da ist es doch viel logischer, wenn ich direkt vor der Klassenarbeit lerne.“

„Wann schreibt ihr die Klassenarbeit?“

„Dienstag.“

„Heute ist Samstag.“

„Weiß ich.“

„Ich gehe jetzt nach Amarythien. Dienstag Abend bin ich wieder da.“

Sprach es und entfernte sich, ehe Finella protestieren konnte.

*

Montag Morgen, während der Mathestunde, fand Finella doch noch etwas Zeit für ihre Vorbereitungen. Die englischen Vokabeln lagen unter dem Mathebuch. Sie prägte sich eine um die andere der Vokabeln ein. Nach der großen Pause widmete sie sich der englischen Grammatik. Während der Physikstunde.

Heute, einen Tag vor der Klassenarbeit, würde Mama mit dem Klassenlehrer sprechen. Na toll. Weder Mama noch Papa hatten sich umstimmen lassen. Dass die Erwachsenen aber auch immer zusammenhalten müssen.

Finella suhlte sich noch ein bisschen in ihrem Selbstmitleid, wurde dieser Beschäftigung jedoch bald überdrüssig. Außerdem wusste sie genau, dass es in Wirklichkeit halb so wild war.

Wieder daheim vergrub sie sich nach dem Abendbrot in ihren Büchern. Die Zeit flog dahin, ohne dass es ihr besonders auffiel. Ihr selbst gebasteltes „Betreten verboten!“-Schild baumelte außen an der Türklinke ihrer Zimmertür. Mama klopfte an.

„Finella?“

„Ja?“

„Papa ist am Telefon. Möchtest du ihn sprechen?“

„Was für eine Frage!“ rief Finella, sprang auf, riss die Zimmertüre auf und ihrer Mutter das kabellose Telefon aus der Hand.

Leise zog ihre Mutter die Zimmertür von außen zu. Finella saß bereits im Schneidersitz auf dem Teppich, in der Mitte ihres Zimmers.

„Hallo Papa.“

„Hallo, meine kleine Springmaus. Wie viele Hecken hast du heute geentert?“

„Keine einzige. Und ich habe sogar geübt. Für die Englischarbeit morgen.“

„Ah, du hast dich also doch noch vorbereitet.“

„Ja.“

„Kluges Mädchen. Hattest du noch Ärger in der Schule?“

„Heute nicht.“

„Na, das ist doch mal was.“

„Ja.“

„Wie geht es dir?“

„Gut. Aber ich vermisse dich. Mama vermisst dich auch.“

„Autsch.“

„Wieso ‚autsch‘, Papa?“

„Du streust Salz in meine Wunden.“

„Wenn's doch wahr ist.“

„Eben drum. Ich vermisse euch auch. Sehr sogar.“

„Wann bist du denn wieder da?“

„Am Donnerstag. Und dann überraschen wir Mama.“

„Au ja! Aber nur, wenn es eine schöne Überraschung ist! Womit denn?“

„Aber nicht verraten, meine kleine Springmaus.“

„Nein.“

„Wir fahren über's Wochenende weg. Donnerstag bin ich wieder da. Und Freitag, nach der Schule, fahren wir los. Ich habe schon mit Mamas Chef telefoniert. Sie weiß zwar noch nichts davon, aber sie hat Freitag frei. Ich freue mich richtig auf euch. Ich vermisse euch so. Freitag Morgen, während du in der Schule bist, werde ich in aller Ruhe mit Mama frühstücken. Anschließend helfe ich ihr, unsere Taschen zu packen. Danach holen wir dich von der Schule ab und dann geht es los. Was sagst du?“

Finella schluckte. Was sie da gerade zu hören bekommen hatte, machte, dass sie kurz ein wenig schlucken musste. Ein glückliches Schlucken.

„Ich glaube, Mama freut sich“, flüsterte Finella vorsichtig in den Hörer.

„Das glaube ich auch.“

„Du, Papa.“

„Ja?“

„Ich glaube, Mama würde sich aber viel mehr freuen, wenn du mehr bei uns wärest.“

„Ja, das kann ich nachvollziehen. Geht mir ebenso.“

„Mir auch.“

Finella machte eine kurze Pause.

„Papa? Sprichst du mit deinem Chef?“

„Worauf du dich verlassen kannst.“

Wieder legte Finella eine kleine Pause ein. Sie hörte Papas Stimme tief in sich nachhallen und fühlte, dass er die Wahrheit sagte.

„Soll ich dir noch etwas aus meinen Büchern vorlesen?“ fragte sie anschließend sehr engagiert.

„Nein. Du sollst jetzt mal so langsam ins Bett gehen. Immerhin schreibst du morgen eine Klassenarbeit. Da musst du ausgeschlafen sein. Also: Gute Nacht, meine kleine Springmaus. Schlaf gut.“

„Du auch, Papa. Gute Nacht.“

*

Dienstag. Die Klassenarbeit kam und ging.

Tom, Murat und Steffi verhielten sich derart zurückhaltend, dass es regelrecht auffiel. Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Versetzung gefährdet? Schulverweis? Handyentzug? PC demontiert? Was auch immer, es hatte jedenfalls gewirkt.

Nach Schulschluss spazierte Finella noch ein wenig durch die Siedlung. Wem hätte sie auch von der Englischarbeit erzählen sollen? Mama verrichtete ihre Arbeit im Supermarkt und Papa hatte Außendienst.

Und der Wurbelschnurps? „Dienstag Abend bin ich wieder da“, hatte er gesagt. Finella musste gar nicht erst in den Himmel oder auf ihre Armbanduhr schauen. Sie wusste, dass es erst Nachmittag war. Immerhin fast schon später Nachmittag, aber definitiv noch kein Abend.

Sie stromerte weiter, bis sie schließlich vor der Kleingartenanlage „Zur friedlichen Taube“ stand. Opa Hauke harkte das Gemüsebeet in seinem Schrebergarten und pflanzte Setzlinge.

„Guten Tag, Herr Hauke.“

„Hm? Oh, Frau…“

„Finella“, sagte Finella.

„Ah ja, richtig. Frau von und zu Finella. Nein, aber ich muss ja Fräulein sagen. Denn verheiratet sind Sie ja noch nicht, junge Dame.“

Finella grinste. Opa Hauke lächelte.

„Haben Sie wieder Ärger in der Schule, Fräulein Finella?“

„Jedenfalls keinen, weswegen ich springen müsste.“

„Sehr gut. Das Beet ist nämlich noch nicht wieder so in Schuss, um hineinzuspringen. Und ehrlich gesagt, sehe ich die Setzlinge lieber wachsen.“

„Ich auch.“

Schweigen.

“Opa Hauke, hast du noch einen Kakao für mich?“

„Noch einen Kakao? Hm, wollen mal sehen. Ja, ich glaube schon. Ich gehe mal eben rein.“

„Ich kann doch mitkommen?“

„Ja, weiß denn deine Mutter, dass du hier bist?“

„Nö.“

„Dann bleibst du mal schön hier draußen. Deine Mutter hat sich letztes Mal so aufgeregt. Unter anderem darüber, dass du in meiner Gartenlaube gesessen hast.“

„Tja…“

„Und Recht hat sie! Ich hätte hier draußen mit dir warten sollen. Nein, du kommst nicht mit hinein. Ich habe keine Lust, mir nachsagen zu lassen, ich sei ein Sittenverbrecher.“

„O.k.“

Opa Hauke verschwand in seiner Laube.

Finella schaute über die Hecke in seinen Schrebergarten. Einige Setzlinge hatte er bereits eingepflanzt. Ein Großteil der Setzlinge lag allerdings noch in einem Weidenkorb, welcher neben dem Beet stand.

Dieses Mal nahm Finella die Gartenpforte.

Sie stellte ihren Rucksack ab, kniete sich auf die Erde und begann mit ihren Händen kleine Löcher in das Beet zu graben. Behutsam nahm sie Setzling um Setzling aus dem Korb heraus und gab jedem einzelnen einen Platz im Beet.

Vorsichtig bedeckte sie die Wurzeln der Setzlinge mit Erde. Nun war der Weidenkorb leer. Finella nahm ihn, drehte ihn in ihren Händen hin und her und schnupperte daran. Er roch nach Ästen, Zweigen und trockener Luft. Ganz anders als eine Plastikwanne. Schöner, so befand Finella. Sie mochte den Geruch dieses Weidenkorbes.

Opa Hauke trat aus seiner Gartenlaube.

„Nanu?“ staunte er, während er ihr den Kakao anreichte. „Waren hier Heinzelmännchen am Werke?“

„Nein“, antwortete Finella wahrheitsgemäß und griff nach der Tasse. „Das war ich.“

„Ja, das glaube ich wohl auch.“

Wilhelm Hauke betrachtete die frisch eingepflanzten Setzlinge.

Sehr ordentlich, doch, ja, sehr ordentlich. Vielleicht hier und da noch etwas Erde anklopfen.

Finella nippte an ihrem Kakao. Heiß.

„Ist ganz gut gelaufen“, pustete sie in ihre Tasse hinein.

„Was ist gut gelaufen?“ fragte Opa Hauke wie erhofft nach.

„Wir haben heute nämlich eine Englischarbeit geschrieben“, informierte Finella ihn. Sie blies in die kleinen Dampfwölkchen über ihrer Tasse.

„Oha. Englisch“, sagte Opa Hauke und stützte sich auf seiner Harke ab. „Fällt die englische Sprache dir schwer?“

„Nö. Dir?“

„Nein. Ich bin nur ein wenig aus der Übung.“

Finella trank ihren Kakao. Einträchtig schweigend standen Finella und Opa Hauke im Schrebergarten. Mal mit Blick auf die Setzlinge, mal mit Blick auf die Hecke, mal mit Blick auf die Gartenlaube. Hin und wieder sahen sie sich auch gegenseitig an.

Bald war der Kakao ausgetrunken.

„Danke“, sagte Finella und drückte ihm die Tasse in die Hand. „Tüss, Opa Hauke.“

„Tüss, gnädige Frau. Beehren Sie mich wieder.“

*

Während des Abendbrotes gab es natürlich nur ein Thema: die Klassenarbeit. Auch nach dem Abendbrot, als sie mit Papa telefonierten, berichtete Finella ausführlich davon. Ihren Besuch bei Opa Hauke erwähnte sie eher beiläufig. Ihren Eltern entging es jedoch nicht.

Finella entzog sich ihren Nachfragen und verkrümelte sich in das Badezimmer. Auf der Toilette ließ sie sich ganz viel Zeit. Gut, dass sie für alle Fälle ein paar Comichefte im Badezimmerschrank deponiert hatte. Diese Vorsorge machte sich nun bezahlt.

Nach dem Putzen ihrer Zähne durfte Finella noch eine halbe Stunde lesen. Dreißig Minuten später knipste Mama das Licht aus. Finellas Mutter bestand darauf, dass es nun Schlafenszeit sei.

„So, jetzt können wir los“, sagte der Wurbelschnurps und kroch unter ihrer Bettdecke hervor.

„Wird ja auch langsam mal Zeit“, erwiderte Finella, während sie ihre Nachttischlampe einschaltete und flugs aus ihrem Schlafanzug sprang.

Ihre Unterwäsche hatte sie gar nicht erst ausgezogen. Rasch schlüpfte sie in Jeans, Shirt, Socken und Schuhe. Fertig.

Dass der Wurbelschnurps immer so herumtrödeln musste. So oft musste sie auf ihn warten. Sie selbst würde niemals herumtrödeln. Allerhöchstens manchmal.

Finella legte eine Fingerspitze auf den Wurbelschnurps, er lief über die Buchstaben und der sanfte warme Sog entstand.

Sie landeten am Fuße eines Berges.

Eine ähnliche Landschaft wie diese hatte sie einmal im Fernsehen gesehen. In einem Umweltreport, von Kindern moderiert. Von Kindern für Kinder. Auf jeden Fall waren dies hier nicht die speienden Berge.

„Sind wir schon in Amarythien?“ fragte Finella.

„Ja“, antwortete der Wurbelschnurps ihr wahrheitsgemäß. „Dort oben wohnt der alte Dorjas.“

Er zeigte auf einen Felsenvorsprung. Finella kniff ihre Augen zusammen. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine massive Holzhütte erkennen.

„Wie sollen wir denn dorthin kommen?“

„Laufen“, antwortete der Wurbelschnurps, als sei es das Natürlichste von der Welt. „In Amarythien gibt es weder Autos noch Fahrstühle.“

Der Wurbelschnurps

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