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Die Berggipfel der Mandelas

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Sie waren nun schon eine geraume Zeit unterwegs und hatten das zerklüftete Felsgestein samt der dort hausenden Worgsens bereits weit hinter sich gelassen, da gelangten sie endlich an den Fuß des Berges, auf dem der alte Dorjas wohnte. Und dort, am Fuße jenes Berges, erblickte Finella etwas für sie beinahe Unglaubliches. Ein scheinbar unendliches Bergmassiv türmte sich unsagbar hoch vor ihr auf. Wunderschön und majestätisch anmutend ragte es weit in den Himmel empor.

Von den kaum mehr sichtbaren Berggipfeln ergossen sich unzählige überaus feine zarte Fäden in die Tiefe. Finella konnte nicht erkennen, wo diese hauchdünnen Fäden endeten. Einer Treppe ähnlich fielen sie in Stufen an den Bergwänden hinab. Vereinzelte wiegten sich bei jedem Windhauch sachte hin und her. Die meisten der hauchdünnen Fäden jedoch blieben an ihrem Platz und strahlten eine wohltuende Ruhe aus. Gleichermaßen sanft und unverrückbar. Als hätten sie sich zu unzerstörbaren Tauen verwoben. Und wären nach wie vor so einzeln filigran wie die noch wehenden Fäden. Allesamt erstrahlten sie in einem hellen leuchtenden Weiß und mancherorts glitzerten sie in dem Sonnenlicht. Unbeschreiblich schön.

Finella schluckte. Und atmete. Und schluckte. Und atmete.

Etwas anderes konnte sie nicht tun, denn zu mehr war sie in diesem Augenblick einfach nicht im Stande.

„Was ist das?“ fragte sie den Wurbelschnurps, als sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte.

„Hm?“ machte der Wurbelschnurps. „Oh, das sind die federkristallweißen Haare der Bagots.“

„Der Bagots? Was sind Bagots?“

„Na ja, diese orangenen Gestalten da, die zwischen den Haaren hin und her laufen.“

Angestrengt kniff Finella ihre Augen zusammen.

Nur mit Mühe erkannte sie hier und da einen winzigen orangenen Punkt inmitten der unzähligen Fäden, die sie nun als die federkristallweißen Haare erkannte. Sie grübelte.

„Willst du sagen, dass diese kleinen orangenen Wesen…“

„Bagots.“

„Willst du sagen, dass diese Bagots einen so enormen Haarwuchs haben, dass sie ihre Haare nach dem Duschen zum Trocknen über den Berg hängen, oder wie soll ich das verstehen?“

„Aber nein, nein“, lachte der Wurbelschnurps. „Würdest du dich jetzt bitte wieder in Bewegung setzen, Finella? Wir sollten wirklich weitergehen. Es wäre unhöflich, den alten Dorjas so lange warten zu lassen. Unterwegs kann ich dir von den Bagots und den federkristallweißen Haaren erzählen, wenn du möchtest.“

„Ja, das mach mal“, erwiderte Finella, während sie ihr Schritttempo wieder aufnahm. „Dann kannst du mir auch gleich erzählen, weswegen wir jetzt diese Strecke nehmen anstatt die, auf der wir vorher unterwegs waren. Bevor ich zu den Worgsens herunterkullerte.“

„Oh, das ist ganz einfach zu beantworten. Die Strecke, auf der wir vorher gingen, ist nicht ganz so steil.“

„Wie bitte?!“

„Na, diese hier hat einen deutlich höheren Anstieg.“

„He! Ich habe schon auf der anderen Strecke kräftig schnaufen müssen. Wieso nehmen wir denn jetzt diese hier?“

„Sie ist kürzer. Also führt sie um so schneller zu dem Haus des alten Dorjas. Der Aufenthalt bei den Worgsens…“

„Der unfreiwillige Aufenthalt! Unfreiwillig!“

„Der hat uns immerhin ein Weilchen Zeit gekostet. Nunmehr können wir uns die lange Strecke des weniger anstrengenden Anstieges nicht mehr erlauben. Und bevor du jetzt losjammerst, quengelst oder gar schimpfst und zeterst: Spare dir deinen Atem. Du wirst ihn noch brauchen. Sonst bekommst du Seitenstechen oder wirst ohnmächtig oder so etwas.“

Für einen kurzen Augenblick zog Finella erbost ihre Augenbrauen zusammen. Doch dann hielt sie inne, nickte dem Wurbelschnurps zu, signalisierte ihm durch eine kleine Handbewegung ihr Einverständnis und setzte sich gleich darauf wieder in Bewegung.

„Um auf deine Frage zurückzukommen…“, begann der Wurbelschnurps. „Nein, die federkristallweißen Haare sind nicht die Haare der Bagots.“

„Das verstehe ich nicht. Du hast gesagt, es seien ihre.“

„Nein. Na ja. Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt.“

„Dir passiert so etwas auch?“

„Natürlich, Finella. Denkst du, ich sei perfekt?“

„Nein. Aber du bist so klug und wortgewandt. Ich finde, dir misslingt kaum jemals etwas.“

„Oh.“ Der Wurbelschnurps errötete. „Ach was, hin und wieder ist auch mein Wissen begrenzt. Und auch ich habe gelegentlich einen Patzer in meinen Formulierungen.“

„Die hast du aber selten.“

„Was?“

„Patzer. In deinen Formulierungen. Erzählst du jetzt weiter? Ich kann nicht so viel reden, während wir bergsteigen.“

„Ach ja, richtig.“ Der Wurbelschnurps machte eine kleine Pause, ehe er weitersprach. „Hm, die Federkristallweißen und die Bagots. Es verhält sich so, dass die Bagots die federkristallweißen Haare, nun ja… Wie soll ich es beschreiben? Na, man könnte vielleicht sagen, die Bagots verwalten die federkristallweißen Haare.“

„Verwalten?“

„So ähnlich. Sie betreuen sie. Sie versorgen sie, wenn sie etwas brauchen. Sie schauen immer mal wieder nach ihnen. Sie passen auf sie auf.“

„Ich verstehe noch immer nicht“, japste Finella, während sie sich mühevoll in kleinen engen Schritten die Steigung empor schleppte.

Dem Wurbelschnurps hingegen schien dieser steile Anstieg kaum etwas auszumachen. Leichten Fußes trippelte er emsig voran, während er munter und engagiert vor sich hin brabbelte.

„Also, Finella, die federkristallweißen Haare sind weder das Haupt- noch das Körperhaar der Bagots. Niemand weiß, woher die federkristallweißen Haare kommen und wieso sie dort an jenem Bergmassiv herunterwallen. Jedenfalls kenne ich keinen Amarythier, der das weiß. Außerdem benennen wir Amarythier sie kaum jemals mit dieser Bezeichnung. Bei uns heißen sie oftmals einfach ‚Die Federkristallweißen‘. Weißt du, die Federkristallweißen sind fast so etwas wie eine eigenständige Lebensform. Ich sage aus dem Grunde ‚fast‘, weil sie ja irgendwo herkommen müssen. Man könnte also vermuten, dass es irgendwo dort in jenem Bergmassiv bereits eine eigenständige Lebensform gibt, zu welcher die Federkristallweißen zugehörig sind.“

„Seltsam. Wer hat denn so lange Haare? Und so viele?“

„Tja, es ist schon eigenartig. Selbst die Bagots wissen nicht, woher die Federkristallweißen kommen. Immerhin betreuen die Bagots die Federkristallweißen schon seit Generationen. Zudem leben die Bagots in unmittelbarer Nähe zu den Federkristallweißen. Sie wohnen in den Tunneln und Spalten, die sich in dem Inneren jenes Bergmassives befinden.“

„Du meinst, diese Berge sind innendrin hohl?“

„Nein, Finella. In einigen Abschnitten der Berge gibt es ein paar Tunnel und Schächte. Vielleicht auch vereinzelt schmale Höhlen. Das ist alles.“

„Wie können die Bagots dann dort zurechtkommen?“

„Es sind hagere Gestalten. Sehr hagere, die selbst durch den schmalsten Gang und die engsten Spalte noch hindurch schlüpfen können. So behende und biegsam sind sie. Da die Bagots in besagten Tunneln leben und es darin häufig kalt und nass ist, haben sie eine sehr dichte Körperbehaarung. Und diese wiederum ist orange. Deshalb kann man die Bagots auch auf eine weite Entfernung noch sehr gut ausmachen. Tja, man könnte sagen, die Bagots haben ein dichtes, warmes Höhlenfell. Es ist mindestens so biegsam, wie sie selbst es sind. Zwangsläufig ist es das. Auch ihr Fell muss durch die Tunnel und Spalten hindurch, wenn die Bagots dort unterwegs sind. Ach, die Bagots sind schon ziemlich merkwürdige Gestalten. Die murmeln und brabbeln eher, als dass sie deutlich vernehmliche Worte sprechen. Außerdem sind sie, wie schon erwähnt, sehr hager. Sie scheinen in ständiger Askese zu leben und nur einmal am Tag eine Mahlzeit zu verspeisen. Also ehrlich, für mich wäre das nichts.“

„Das glaube ich dir gerne, Wurbelschnurps“, keuchte Finella lächelnd. „Wenn du nicht ab und zu etwas zu beißen bekommst, läufst du nur auf halber Kraft. Ich weiß.“

Der Wurbelschnurps lächelte ebenfalls. Ohne zu keuchen. Er blickte sie fröhlich an und nickte zustimmend.

„Wenn man einen Bagot sieht, dann denkt man zuerst, das Fellknäuel sitzt auf einer massigen Körpersubstanz. Man erwartet quasi eine Art spürbaren Widerstand.“

„Und dann?“

„Sobald man einen Bagot umfasst, ist es, als versuche man, einen dünne Gardine zu umarmen.“

„Öff. Das wäre ja fast so, als würde man sich selber die Hand schütteln.“

„So in etwa.“

„Ich meine, wenn ich mit meiner Hand nach der Hand eines anderen greife, um diese zu schütteln und da ist dann nichts… das ist doch… nee!“

„Genau.“

„Woher weißt du eigentlich davon?“

„Der alte Dorjas hat es mir erzählt. Meistens hockt er in seiner Hütte und studiert dort in Ruhe vor sich hin. Munter, glücklich, humorvoll und in aller Gelassenheit“, schmunzelte der Wurbelschnurps. „Wenn aber jemand Fragen oder Sorgen oder ein Zipperlein oder einfach nur Langeweile hat, oder auch wenn es Neuigkeiten gibt oder ein Fest ansteht –, dann gehen viele zum alten Dorjas. Ihm ist das gar nicht immer so recht. Hin und wieder sagt er ihnen das auch. Je nachdem, wer sich in welcher Angelegenheit wie oft an ihn wendet. Aber ich schweife wohl gerade ein wenig von unserem Thema ab.“

„Ja.“

„Worüber sprachen wir doch gleich?“

„Über die Bagots.“

„Richtig. Also: Einmal, ein einziges Mal, wurde der alte Dorjas zu den Bagots gerufen. Einer der Bagots war gestürzt, während er seine Arbeit an den Federkristallweißen verrichtete. Die Federkristallweißen hielten ihn. Noch ehe diese arme Gestalt in der Tiefe aufgeschlagen wäre, hatten die Federkristallweißen sich zu einem Netz verwoben“, erzählte der Wurbelschnurps ihr mit einem nachdenklich erstaunten Gesichtsausdruck. „Blitzschnell. Einfach so. Niemand weiß, ob und wie sie sich verständigen. Auch ob und wieviel sie von ihrer Umwelt wahrnehmen, ist keinem bekannt. Aber das müssen sie wohl. Anders kann ich mir die Reaktion der Federweißen nicht erklären. Ein anderer Bagot, der ebenfalls dort seine Arbeit verrichtete, stand dabei und hatte all das gesehen. Daraufhin schickte er nach dem alten Dorjas, während er sich bereits an einem Tau aus Federkristallweißen abseilte. Gemeinsam haben sie den Bagot wieder nach oben gebracht und für dessen Genesung gesorgt. Als er wieder ganz gesund war, bedankte er sich bei dem alten Dorjas und nahm ihn aus diesem Grund in die Arme. Der alte Dorjas umfasste also den Bagot und… erschrak ein wenig.“

„Wusste er denn nicht, wie wenig Körper unter dem Fell ist?“

„Nein.“

„Aber er hat ihn doch zusammen mit dem anderen Bagot verarztet?“

„Ja. Aber Dorjas hat ihn nicht angerührt. Er hat dem Bagot erklärt, wie und womit er dessen Artgenossen versorgen muss. Er hat Tränke und Salben zubereitet, aber den Bagot selbst hat er nicht angerührt.“

„Aha?“

„Ja. Nur Bagots dürfen Bagots anrühren.“

„Aus welchem Grund? Ist das ein Gesetz?“

„Nein.“ Der Wurbelschnurps musste lachen. „Das hat einen sehr viel banaleren Grund.“

„Welchen?“

„Es ist deren Schutzmaßnahme. Sie zerbrechen sonst.“

„Sie zerbrechen?“

„Ja, Finella. Die Bagots leben dort oben seit Generationen. Sie müssen in der dünnen Luft atmen und in den schmalen Tunneln und Spalten zurechtkommen und häufig zwischen den Federkristallweißen umherlaufen können und so weiter. Ihr Körperbau hat sich von Generation zu Generation mehr und mehr auf diese Lebensbedingungen eingestellt.“

„Ach so, du meinst eine Anpassung. Das hatten wir in der Schule.“

„Vortrefflich. Wirklich vortrefflich.“

„Was genau ist denn vortrefflich? Die Tatsache, dass wir das Thema Evolution und Anpassung in der Schule hatten oder dass ich von diesem Thema tatsächlich etwas behalten haben?“

„Die Tatsache, dass ihr in der Schule derartige Themen abhandelt.“

Frustriert sackte Finella in sich zusammen. Insgeheim war sie nämlich fast ein wenig stolz gewesen, tatsächlich einmal etwas gewusst zu haben. Sie hatte auf eine lobende Erwähnung, eine Anerkennung seitens des Wurbelschnurpses gehofft. Doch sie sah ein, dass Lernen und Wissen eher der Regelfall sein sollte, denn eine erwähnenswerte Ausnahme.

„Hach, ich würde mir deine Schule so gerne einmal ansehen“, riss der Wurbelschnurps sie unbeabsichtigt aus ihren Gedanken. „Du erzählst so viel davon. Beinahe jede Woche.“

„Ich muss ja auch jede Woche hin“, erwiderte Finella halb maulig, halb belustigt. „Wie ging es weiter, nachdem der alte Dorjas den Bagot umfasst hatte?“

„Wie gesagt, er erschrak fast ein wenig.“

„Und dann?“

„Er hütete sich, den Bagot zu drücken. Er beließ es bei dem Umfassen des Bagots, wurde kurz von ihm gedrückt und ließ ihn gleich darauf wieder los. Die umstehenden Bagots umarmten den alten Dorjas nicht. Sie lachten erleichtert oder verbeugten sich oder klatschten in ihre Hände oder wedelten fröhlich ihre Arme in der Luft oder übergaben ihm Geschenke oder murmelten und brabbelten unablässig in ihrer typischen Bagotmanier, – aber sie umarmten ihn nicht. Und sie schüttelten ihm auch nicht die Hand. Auf diese Weise bedankten die Bagots sich bei dem alten Dorjas und verabschiedeten ihn. Gleich darauf machte er sich wieder auf den Heimweg.“

„Hat er auch gesagt, wie es sich anfühlt, von einem Bagot umarmt zu werden? Oder hat er dir nur davon berichtet, wie es ist, einen Bagot zu umarmen?“

„Oh, er hat durchaus davon erzählt. Der alte Dorjas war so gut wie fassungslos. Im Grunde hat er nur darauf geachtet, wann die Umarmung beendet war.“

„Um überhaupt feststellen zu können, dass er gedrückt wude?“

„Exakt. Hätte er nicht festgestellt ‚Aha, jetzt ist der Körperkontakt also beendet‘, so hätte er nicht gewusst: ‚Aha, dann muss das vorher also eine Bagot-Umarmung gewesen sein.‘ Er hat kaum etwas gespürt. Eher so etwas wie ein aufgeplustertes Fellknäuel, das plötzlich zerpufft.“

„Vielleicht so, wie eine buschige Perserkatze. Oder wie ein fülliger Hund, der in einen Teich springt und als nasse Bohnenstange wieder herauskommt“, überlegte Finella.

„Nein. Glaube mir, Finella. Selbst die haben mehr Körpersubstanz als ein Bagot.“

„Au weia.“

„Tja. Das sind Bagots. Ich verstehe vollkommen, was du meinst, Finella.“

„Du, Wurbelschnurps“, sagte Finella und hielt inne. „Ich wüsste gerne, was es mit den Federkristallweißen auf sich hat.“

„Das kann ich gut verstehen, Finella. Mir geht es ebenso.“

„Hmmm. Wen könnten wir fragen? Wo könnten wir hingehen, um etwas über die Federkristallweißen in Erfahrung zu bringen?“

„Ich weiß es nicht. Ich gestehe, ich habe schlichtweg keine Ahnung.“

„Hmmmmm.“

„Du, Finella?“

„Ja?“

„Würdest du mir davon erzählen, wenn du etwas über die Federkristallweißen in Erfahrung bringst?“

„Du stellst Fragen, Wurbelschnurps! Klar! Natürlich erzähle ich dir davon! Das versteht sich doch von selbst!“

„Ja.“ Der Wurbelschnurps lächelte glücklich. „Da hast du Recht. Können wir dann weitergehen? Wir sind schon ziemlich spät dran.“

„Wie kommst du darauf?“ erkundigte Finella sich ernsthaft.

„Die Sonne hat den Zenit bereits passiert. Weißt du denn nicht um die Sonnenuntergänge in den Bergen?“

„Nein. Wurbelschnurps. Ich habe diese Berge noch nie zuvor besucht. Wie soll ich denn da um die Sonnenuntergänge in den Bergen wissen?“

„Aber in der Menschenwelt gibt es doch auch Berge?“

„Schon.“

„Dort habt ihr doch auch Sonnenuntergänge?“

„Ja, schon.“

„Wieso weißt du dann so wenig darüber?“

„Jetzt hör auf, Wurbelschnurps!“ schnauzte sie ihn mit einem Male an. Einmal mehr wurde ihr ihre eigene Unzulänglichkeit bewusst. Tiefe Beschämung erfasste sie. Schmerzende Beschämung, die sie zu verbergen suchte. „Ich kann doch nicht alles wissen!“ setzte sie patzig verstockt hinzu.

„Nein. Das musst du auch nicht“, erwiderte der Wurbelschnurps. Er sagte es so, dass sie sein Mitgefühl ebenso deutlich hören konnte, wie die klare Grenze, mit der er ihren Tonfall nicht duldete.

Schweigend liefen sie nebeneinander her.

Finella wusste genau, dass es an ihr lag. Zwar ratterte sie in ihren Gedanken sämtliche „Der ist total blöd! Der ist gemein! Der hat keine Ahnung! Der ist schuld! Ich bin nur deswegen so ausfallend geworden, weil er…!“ und weitere Sätze dieser Art herunter. Sie wusste jedoch, dass sie Unrecht hatte.

Das wusste sie ganz genau. Es wäre ihr nicht einmal schwer gefallen, es zuzugeben. So etwas hatten Mama und Papa ihr zum Glück schon vor langer Zeit beigebracht. Nein, das war es nicht. Was sie schmerzte, zutiefst schmerzte, war ihre eigene Dummheit und das Wissen um ihre gelegentliche Faulheit. Nicht zuletzt auch die Momente, in denen sowohl ihre Bildungslücken als auch ihre Faulheit offenkundig zu Tage traten. Summa summarum taten ihr also sage und schreibe drei Faktoren auf einmal weh. Finella seufzte über ihr eigenes Elend. Was für eine schrecklich missliche Lage. Was für ein bedauernswerter Zustand. Welch ein Weltschmerz.

Vorsichtig guckte Finella zur Seite, las im Gesicht ihres Wurbelschnurpses. Nein, er bemitleidete sie nicht. Ganz eindeutig. Sie seufzte lauter. Sie stöhnte jammervoll. Der Wurbelschnurps verzog keine Miene.

Weiterhin liefen sie schweigend nebeneinander her.

Na bitteschön. Wenn der Wurbeschnurps bockig sein wollte, das konnte sie auch. Er würde schon sehen, was er davon hat. Ha.

Und noch immer liefen sie schweigend nebeneinander her.

Es dauerte eine Weile, bis Finella erneut einen Blick zur Seite wagte. So bockig sah der Wurbelschnurps gar nicht aus. Oder?

Vorsichtig schaute sie ein zweites Mal zur Seite. Und ein drittes Mal. Nur, um sich zu vergewissern.

Nein. Der Wurbelschnurps sah tatsächlich nicht besonders bockig aus. Höchstens ein ganz klein wenig. Genau genommen fand sie, so sehr sie auch suchte, nur eine sehr geringe Spur von Bockigkeit in seinem Gesicht. Verschwindend gering.

Wieder seufzte Finella. Dieses Mal allerdings nicht über ihren Weltschmerz, sondern weil der Schmerz, den sie ihm durch ihr Verhalten zugefügt hatte, jetzt auf sie selber überging. Und dieser Schmerz tat noch viel mehr weh als jener zuvor.

Finella sah ein, dass der Wurbelschnurps nichts für ihre Unzulänglichkeiten konnte. Klein und tapfer lief er wuseligen Schrittes den Weg zum alten Dorjas hinauf. Obwohl ihr Verhalten ihn schmerzte. Obwohl auch er einfach hätte stehenbleiben und sich verweigern können. Allein, – er tat es nicht. Finella bewunderte ihn dafür. Sie wollte das auch können.

Sie wusste, der Wurbelschnurps würde dem alten Dorjas freudig, höflich und aufmerksam gegenübertreten. Sie kannte den Wurbelschnurps. Sie wusste, er würde weder seinen Gram noch seinen Unbill an dem alten Dorjas auslassen. Auch dafür bewunderte sie ihn ein wenig. Auch das wollte sie gerne können.

Wie oft hatte sie nach der Schule einfach ihren Rucksack in die Ecke geschmissen und Mama oder Papa angeblafft. Je nachdem, wer gerade zuhause war. Wie oft war sie selbst Zielscheibe und Sündenbock für die Launen ihrer Mitschüler.

So wollte sie nicht werden. Das wusste sie ganz genau.

Aus diesem Grund hatte sie schon ganz früh beschlossen, dass sie selbst es anders machen würde. Bloß wie? Da gab es noch so viel zu lernen.

Finella kaute auf ihrer Unterlippe herum. Sie wollte lernen.

Sie wusste, sie musste sich überwinden. Vermutlich sogar mehrmals. Nicht bloß dieses Mal. Nicht nur einmal, sondern öfter. Warum und wieso, hätte sie nicht genau in Worte fassen können. Sie wusste nur, dass sie sich überwinden musste. Immer wieder, bis sie genug Übung darin hatte. Bis es nicht mehr weh tat. Bis sie vielleicht sogar ihre eigene Unperfektheit mit einem frohen Herzen betrachten konnte, – ohne jemals des Lernens überdrüssig zu werden.

Solche und ähnliche Gedanken kamen Finella in den Sinn und sickerten direkt im Anschluss daran in ihr Herz. Dort sammelten sie sich, wurden sie zu einem Gefühl und… Ja. Dieses Gefühl fühlte sich gut an.

Sehr gut sogar.

Anstrengend auch. Ja, vielleicht. Ein bisschen.

Na und? Sie wusste, es würde sich lohnen. Das spürte Finella ganz genau.

Ja, es blieb dabei: Dieses Gefühl fühlte sich gut an.

Sie räusperte sich.

Jetzt und hier galt es, eine Hürde zu nehmen.

Sie blieb stehen und hielt inne.

„Wenigstens einen Moment“, sagte sie in das Schweigen hinein.

Noch bevor sie ausgesprochen hatte, hielt der Wurbelschnurps an.

Sie bemerkte es, staunte ein wenig und schüttelte gerührt ihren Kopf.

Finella atmete durch, trat ein paar Schritte an den Wurbelschnurps heran und sagte:

„Danke. Und Entschuldigung. Das war blöd von mir.“

„Jep.“

„Jetzt reite nicht auch noch darauf herum.“

„Och menno“, sagte der Wurbelschnurps und wischte eines seiner Vorderbeine kurz durch die Luft. „Schade. Na gut.“

Finella starrte ihn fassungslos an. Er blinzelte ihr zu.

Von jetzt auf gleich schoss ein brüllendes Lachen aus ihr heraus. Dem Wurbelschnurps erging es kaum anders. Er lachte und keuchte und lachte und keuchte. Immer wieder schnappte er nach Luft, während das Lachen seinen kleinen Körper regelrecht durchschüttelte. Finella wollte ihn beruhigend tätscheln, konnte sich jedoch vor Lachen kaum mehr einkriegen und stütze sich schließlich vorne übergebeugt auf ihren Knien ab.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, standen sie da, schauten zu den Federkristallweißen herüber und schwiegen. Dieses Mal hingegen einträchtig miteinander und äußerst glücklich.

„Wunderschön. Nicht wahr?“ ergriff der Wurbelschnurps schließlich wieder das Wort, während sie noch immer die Federkristallweißen betrachteten.

„Mm“, machte Finella.

„Wir müssen weiter, Finella“, mahnte er vorsichtig. „Es ist schon spät. Wir sollten beim alten Dorjas ankommen, bevor es Abend wird.“

„Aber es ist doch noch ein Weilchen hell?“ fragte Finella, während sie ohne Murren ihr Tempo wieder aufnahm.

„Ja, schon. Aber nicht so lange wie im Tal oder am Fuße des Berges.“

„Aha? Wieso?“

„Das ist doch logisch, Finella. Stelle Dir eine eingeschaltete Lampe vor.“

„Ja. Ok.“

„Jetzt stelle dir einen großen, breiten, hohen Schrank vor.“

„Ok.“

„Was passiert, wenn du den Schrank vor die Lampe schiebst?“

„Er ist dem Licht im Weg.“

„Siehst du?“

„Aber natürlich!“ Finella patschte sich an den Kopf. „Stimmt, das ist logisch!“

„Jetzt gehe in Gedanken einmal einen Schritt zur Seite und stelle dich neben den Schrank.“

„Ok.“

„Was ist das Ergebnis?“

„Das Licht der Lampe verteilt sich anders. Ich kann mehr Licht sehen. Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke… im ganzen Raum halt.“

„So ist es.“

„Ich verstehe.“

„Großartig“, sagte der Wurbelschnurps erfreut. „So schwer ist es ja auch gar nicht.“

„Sag mal, Wurbelschnurps, wonach richtet sich eigentlich eure Zeitmessung? Ich habe dich noch nie mit einer Uhr gesehen.“

„Das mag wohl daran liegen, dass es in Amarythien keine Uhren gibt. Unsere Zeitmessung richtet sich nach dem Tageslicht und nach den Temperaturunterschieden.“

„Das klingt mysteriös. Bitte erkläre mir, wie das funktioniert.“

„Oh, das ist kein Geheimnis. Wenn das Tageslicht erscheint, stehen wir auf und beginnen unser Tagwerk. Die einen schneller, die anderen langsamer. Jeder in seinem Rhythmus. Das ist nur natürlich, denn ich zum Beispiel bin nicht wie Wranstos. Ich bin kein Worgsen. Und Wranstos ist nicht wie ich. Er ist kein Bücherwurm. Ein jeder beginnt und begeht sein Tagwerk entsprechend seinen Fähigkeiten, Rhythmen und Fertigkeiten. Und wenn es dunkel wird, dann gehen wir schlafen. So einfach ist das.“

„So einfach ist das?“

„Ja.“

„Dürft ihr denn das?“

„Was meinst du?“

„Dürft ihr denn das: So aufstehen, wie ihr wach werdet? In eurem Tempo frühstücken? In eurem Tempo das Tagwerk bestreiten?“

„Wieso sollten wir es denn nicht dürfen?“

„Gibt das denn keinen Ärger? Ist denn nie jemand böse auf euch oder unzufrieden mit euch, wenn ihr das alle so macht?“

„Nein. Wieso sollte man denn böse oder unzufrieden mit uns sein?“

„Na ja… ich meine… Ist denn nie mal einer faul und lässt sein Tagwerk unerledigt liegen? Oder versucht, es den anderen aufzubürden? Oder macht so viel Pfusch bei seiner Arbeit, dass sein Werk schon nach kurzer Zeit hinüber ist oder von vorneherein nicht so funktioniert, wie es funktionieren soll?“

„Nein! Wie kommst du denn auf so etwas? Erstens würde es demjenigen Amarythier sehr rasch langweilig werden, immer nur faul zu sein. Zweitens merkt ein jeder recht bald, dass es ohne Tagwerk auch keine Früchte desselben gibt. Und würden die Früchte des Tagwerkes ausbleiben, wären wir nach kurzer Zeit missmutig und traurig und sehr unzufrieden. Denn das mag kein Amarythier gerne. Nicht einmal ein Wranstos. Es liegt einfach nicht in unserem Wesen. Drittens käme kein Amarythier jemals auf die Idee, einen anderen Amarythier wider dessen Natur anzutreiben. Hier kommen die Temperaturunterschiede hinzu. Es gibt Amarythier, die im Wasser leben. Es gibt Amarythier, die zu Lande leben. Es gibt Amarythier, die eine Art Winterschlaf halten. Es gibt Amarythier, die schon vor dem ersten Tageslicht wach und munter sind. Ein Amarythier unterscheidet sich von dem anderen und doch greift alles so ineinander, dass es Hand in Hand geht.“

„Wie wundervoll. So etwas würde in der Menschenwelt nicht funktionieren.“

„Ja, das habe ich auch schon bemerkt.“

„Wurbelschnurps?“

„Ja?“

„Ich möchte jetzt nicht mehr so viel reden, bitte“, sagte Finella. „Ich muss nachdenken“, fügte sie einigermaßen gewichtig hinzu.

„In Ordnung“, antwortete der Wurbelschnurps.

„Und“, japste Finella angestrengt und etwas kleinlaut. „Ich muss mich auf meine Atmung konzentrieren.“

„Du musst ja auch gar nicht viel reden, Finella. Ich verstehe dich auch so“, erwiderte der Wurbelschnurps, während er etwas länger als gewöhnlich zu ihr herüberschaute. “Außerdem sind wir eh gleich beim alten Dorjas. Da, schau. Dort kannst du schon sein Haus sehen.“

So war es. Ein einzelnes Haus zeichnete sich deutlich sichtbar auf einem Felsen ab. Das Haus des alten Dorjas.

Erschöpft, aber glücklich und zufrieden, blickte Finella ihren Wurbelschnurps an. Und ja, sie war auch ein ganz kleines bisschen stolz auf sich. Ihre Beine schmerzten und sie war außerordentlich müde, aber sie hatte es geschafft.

Kommentarlos griff Finella nach dem Wurbelschnurps und setzte ihn in ihren Nacken, ehe sie ungestüm die letzten Meter zu Dorjas' Hütte hinaufstieg.

Er aber ließ es sich ohne einen Einwand gefallen.

*

Kamin, Bett und Tisch.

Dies stellte die gesamte Einrichtung der Holzhütte des alten Dorjas dar.

Nun, wenn man es ganz genau nimmt, stand da noch ein Regal. Neben dem Bett. Und natürlich gehörten Sitzbänke zu dem Tisch, – zwei an der Zahl. Auf eben diesen Sitzbänken saßen sie jetzt.

Finella, den Wurbelschnurps auf ihrer Schulter, saß auf der einen Bank. Der alte Dorjas, aus seinen klugen Augen herzlich dreinschauend, saß auf der anderen Bank.

Finella betrachtete eingehend das kleine Holzhaus. Es bestand nur aus einem einzigen Raum, war aber definitiv größer als Opa Haukes Gartenlaube.

An der Wand zur Linken: der Kamin. Recht groß. Glimmende Scheite in der Feuerstelle. Schmiedeeisernes Kochzubehör auf der Ablage des Kamins. An der Wand zur Rechten: das Regal. Pergamente, Schreibfedern und Vorratstöpfe. Sein Bett stand an der Wand, die an den Bergfelsen anschloss.

In der gegenüber liegenden Wand war die Eingangstür neben einem großen Fenster eingelassen. Der Tisch samt Sitzbänken stand in der Mitte des Raumes.

So hatte der alte Dorjas jederzeit einen grandiosen Ausblick. Er konnte das Fenster vom Bett aus sehen. Ebenso, wenn er an seinem Tisch saß. Ja, aus jedem Winkel seines Hauses.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, Finella, wie schön es hier ist“, sagte der alte Dorjas. „Jeden Morgen sehe ich einen wundervollen Sonnenaufgang.“

„Schon wieder diese Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge“, bemerkte Finella, halb verwundert, halb belustigt.

„Oh? Ihr habt unterwegs über die Sonne gesprochen? Oder über Licht?“

„Mmm“, machte Finella, die nicht an ihr schlechtes Benehmen erinnert werden wollte.

„Ein wenig“, ergänzte der Wurbelschnurps, während er von ihrer Schulter auf die Tischplatte herunter spazierte und dort Platz nahm.

Der alte Dorjas fragte nicht weiter nach.

„Selbst dann, wenn es einmal regnet, kann ich von hier aus die Sonne sehen“, sagte er stattdessen. „Die Luft ist hier so klar und rein, dass es kaum zu beschreiben ist.“

„Ja. Diese Tatsache habe ich schon während des Aufstieges bemerkt“, bestätigte Finella.

„Das Tal, in dem meine Schwester wohnt, ist der einzige Ort, der die hiesige Luft in ihrer Reinheit noch überbieten kann“, fuhr Dorjas fort.

Der Wurbelschnurps nickte energisch.

„Außerdem bemerke ich hier oben sehr rasch, wenn etwas Besonderes in Amarythien stattfindet“, stellte Dorjas sachlich fest.

„Weil du so weit schauen kannst?“

„Ja, Finella. So ist es.“

„Aber von noch weiter oben könntest du noch weiter schauen. Wieso hast du deine Holzhütte nicht auf dem Gipfel des Berges gebaut?“

„Ah Finella, das ist ganz einfach. Die Gipfel dieser Bergkette gehören den Mandelas. Das respektiere ich. Dort gehe ich nicht hin.“

„Wer oder was sind denn Mandelas?“

„Tja. Gute Frage. Hm. Ich könnte behaupten, es seien Vögel. Doch das trifft es nicht ganz.“

Nun schaltete der Wurbelschnurps sich in das Gespräch ein.

„Diejenigen Tiere, die du in der Menschenwelt als Vögel kennst, haben Federn. Die Mandelas haben keine Federn“, erklärte er ihr.

„Wie sehen sie denn aus?“

„Groß“, antwortete Dorjas. „Viel größer als eine Amsel in eurer Welt.“

„Hm“, machte Finella.

„Finella? Weißt du noch, dass wir neulich gemeinsam im Tierpark waren?“

„Ja, Wurbelschnurps.“

„Unter anderem gab es dort auch Aquarien. In einem der Bassins schwammen flache Fische umher. Man konnte kleine Wellen an ihren Flossen entlang gleiten sehen.“

„Ja. Ich erinnere mich gut.“

„‚Blaupunktrochen‘ stand auf dem Schild. So sehen die Mandelas aus. Fast ganz genau so. Nur viel größer. Wenn die Mandelas fliegen, dann sieht man die Luft an ihren Flügeln entlang gleiten. So, wie das Wasser an den Flossen der Rochen entlang glitt.“

„Aha. So also sehen Mandelas aus. Ich kann sie mir im Moment zwar nicht so richtig vorstellen, aber es muss schön aussehen, wenn sie fliegen.“

„Wundervoll“, bestätigte Dorjas. „Es ist wundervoll.“

„Und weshalb gehst du nicht dorthin?“ fragte Finella, an den alten Dorjas gewandt. „Sind die gefährlich?“

„Ja und nein. Im Grunde sind es äußerst sanfte Wesen. Wenn sie sich allerdings gestört oder bedroht fühlen, dann werden sie gefährlich. Gefährlich für den Störenfried oder Angreifer.“

„Aha.“

„Weißt du, ich bin schon einmal auf dem Gipfel dieses Berges gewesen“, erklärte der alte Dorjas ihr und zeigte zum Fenster. „Da habe ich die Mandelas entdeckt. Ich wusste bis zu jenem Zeitpunkt nicht einmal, dass es die Mandelas überhaupt gibt. Ich stieg damals auf den Gipfel des Berges, um eine Pflanze zu holen. Für einen Heiltee. Borsa und Wranstos hatten mich um Hilfe gebeten, denn einer ihrer Sprösslinge litt an Steinfieber. Eine nervende Krankheit. Wenngleich auch ungefährlich.“

„Du kennst Borsa und Wranstos?“

„Natürlich, Finella. Borsa und Wranstos samt ihren Kindern sind beileibe nicht die einzigen Worgsens, die ich kenne. Viele Amarythier sind meine Freunde. Es sind auch viele Amarythier mit meiner Schwester befreundet. Doch wir kommen vom Thema ab. Wo war ich?“

„Du hattest den Gipfel dieses Berges bestiegen.“

„Ach ja. Ich suchte also auf dem Gipfel dieses Berges nach einer Pflanze für den Heiltee, als ich die Mandelas entdeckte. Sie brüten auf den Gipfeln dieser Bergkette. Drei Eier legt ein Mandela-Weibchen. Einmal im Jahr. Liegen die Eier erst einmal im Nest, wechseln die Mandelas sich ab. Mal wärmt sie die Brut, mal er. Dreihundertundfünfundsechzig Tage dauert es, bis die jungen Mandelas schlüpfen. Ein ganzes Jahr. Manchmal überlebt nur ein Junges. Sobald die jungen Mandelas aus dem Gröbsten heraus sind, fliegen ihre Eltern los und suchen sich gemeinsam einen neuen Nistplatz. Manchmal suchen sie nur wenige Tage, manchmal mehrere Monate. Ist der richtige Platz gefunden, bauen sie dort ein Nest und beginnen wieder zu brüten. Und die jungen Mandelas machen es genauso, sobald sie ihren Partner haben. Mandelas sind wirklich wunderschöne und wahrhaft treue Geschöpfe. Haben sie einander gefunden, so bleiben sie ein Leben lang zusammen. In Treue miteinander verbunden. Treu bis in den Tod.“

„Wie kommt es, dass du so viel über die Mandelas weißt?“ fragte Finella.

„Als ich die Pflanze für den Tee pflücken wollte, warf etwas einen enormen Schatten auf mich. Ich sah auf. Über mir drehte ein großes Mandela-Männchen seine Kreise. Unweit der Stelle, an welcher ich die Pflanze pflückte, saß seine Gefährtin im Nest. Ich bewegte mich langsam. Sehr langsam. Stück für Stück kletterte ich den Gipfel hinunter. Leise sprach ich vor mich hin. Ich erklärte, aus welchem Grund ich auf den Gipfel gestiegen war.“

„Wusstest du denn, ob der Mandela dich versteht?“

„Nein Finella, das wusste ich nicht. Ich hatte Glück. Er hat mich verstanden. Als ich einige Tage später wieder einmal meine Schwester besuchte, berichtete ich ihr davon. Daraufhin hat sie mir von ihnen erzählt. Sie kannte die Mandelas und kennt sie glücklicherweise noch immer.“

„Und was hat der Mandela gemacht?“

„Er hat mir geantwortet, Finella. Weißt du, mit den Ohren hört man nur die Gesänge der Mandelas. Zugegeben, wunderschöne Gesänge. Ganz gewiss. Wenn man die Mandelas darüber hinaus aber versteht, dann ist das ein Geschenk.“

„Aha“, machte Finella.

„Oder eine Gnade“, bemerkte der Wurbelschnurps.

„Aha, aha.“ Finella trat unter dem Tisch von einem Fuß auf den anderen.

Diese Schwärmerei für ominöse Mandelas, von denen sie noch keinen einzigen gesehen hatte, wurde ihr jetzt doch etwas viel. So hörte sie auf, Fragen zu stellen, und wartete ab.

Der Wurbelschnurps kroch wieder in ihren Nacken. Er verstand sie nur allzu gut.

„Finella, sag, möchtest du wirklich mitkommen?“ fragte er sie daher nochmals.

„Ach Wurbelschnurps, du stellst Fragen. Na klar!“

„Gut!“ sagte er hocherfreut.

Der Wurbelschnurps strahlte über sein ganzes Gesicht. Er wuselte aus ihrem Nacken hinauf in ihre Haare, drehte dort eine Runde, wuselte dann wieder in ihren Nacken zurück und balancierte schließlich auf ihren Schultern hin und her. Vergnügt summte er vor sich hin.

„So ist es recht“, sprach der alte Dorjas.

„Weswegen willst du doch gleich deine Schwester besuchen, Dorjas?“ fragte Finella ihn.

„Na, weil ich meine Schwester schon eine Weile nicht mehr gesehen habe. Und weil mir die Lakritzschnecken ausgegangen sind.“

„Lakritzschnecken hätte ich dir mitbringen können. Die gibt es in der Menschenwelt in jedem Supermarkt.“

„Nicht solche, Finella“, wandte der Wurbelschnurps ein.

„Na gut, dann gehen wir eben Lakritzschnecken holen. Wo geht's lang?“

„Zuerst natürlich den Berg wieder hinunter“, erklärte Dorjas. „Dann einen relativ langen Fußmarsch, bis zum Tal der stinkenden Auswürfe.“

„Uäh!“ machte Finella.

„Nachdem wir die speienden Berge passiert haben, müssen wir den Sumpf des Argwohns und der Missgunst durchqueren. Erst dann erreichen wir Grüntal. Das Tal, in dem meine Schwester wohnt“, schloss Dorjas.

„Wie bitte?“ Finella glaubte, sich verhört zu haben.

„Es stimmt“, sagte der Wurbelschnurps. „Wir müssen durch den Sumpf des Argwohns und der Missgunst hindurch. Es gibt keinen anderen Weg. Es sei denn, wir könnten fliegen.“

„Ich kann aber nicht fliegen! Und du auch nicht! Und Dorjas auch nicht!“

„So ist es.“

Finella griff nach dem Wurbelschnurps.

Sie hielt ihn auf Höhe ihrer Nasenspitze direkt vor ihr Gesicht. Eng kniff sie ihre Augenbrauen zusammen.

Sie sahen einander an. Finella kniff ihre Augenbrauen noch enger zusammen.

„Du warst schon einmal dort.“

„Ja. Dorjas' Schwester hatte ihn und mich seinerzeit eingeladen.“

„Du bist also unbeschadet durch das Sumpfgebiet hindurch gekommen und ebenso wohlbehalten wiedergekommen.“

„Ganz offensichtlich.“

„Ha! Und ob ich mitkomme!“

„Meine Finella!“

„Wunderbar“, sagte Dorjas, der sich bis jetzt kommentarlos im Hintergrund gehalten hatte. „Dann kann's ja losgehen. Du darfst stolz auf deine Finella sein, Wurbelschnurps“, stellte er bewogen anerkennend fest. „Sie nimmt Unbequemlichkeiten in Kauf, anstatt wegzulaufen.“

Der Wurbelschnurps glänzte.

„Na, hör' mal!“ Empört funkelte Finella den alten Dorjas an. „Was denkst du von mir?! Außerdem würde Wurbelsschnurps dasselbe für mich tun.“

„Ja, Finella. Das würde er.“ Der alte Dorjas wirkte zufrieden „Es ist gut, dass du das weißt.“ Er erhob sich von seinem Sitzplatz.

Finella stand ebenfalls auf. Der Wurbelschnurps saß nun wieder auf ihrer Schulter.

„Das Eine sage ich euch: Das müssen die weltbesten Lakritzschnecken im gesamten Universum sein!“

„Sind es“, flüsterte der Wurbelschnurps in ihr Ohr.

So leise, dass nur sie ihn hören konnte.

Der Wurbelschnurps

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