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Alles begann mit einem Blick auf eine Tapete in einem Zimmer in einer Burg. Obwohl das nicht ganz stimmt. Eigentlich begann es mit dem Hereinbrechen einer eisigen Kälte, die das Reich Agrona überzogen hatte und in den Wochen, in denen sie nun bereits anhielt, viele Menschen hatte verhungern und erfrieren lassen. Aus Angst um seine Kinder, die den Schnee liebten, es genossen, in ihm herumzutollen, und die es erfreute, über den zugefrorenen Fluss auf der Ostseite unterhalb der Burg zu rutschen, hatte Lord Warner es ihnen strengstens verboten, hinauszugehen. Seine Tochter Prinzessin Laoghaire und sein Sohn und Erbe Prinz Anrai waren ihm und seiner Frau Herzogin Ailís das Liebste und Teuerste, das sie besaßen, und sie zu verlieren, so wie viele Eltern ihre Kinder verloren hatten in den vergangenen Tagen, wäre für sie das Tragischste gewesen, was sie sich vorstellen konnten, und würde dem Untergang ihres Hauses gleichen.

Doch wie Kinder nun einmal sind, voller Kraft und Bewegungsdrang, hielten es Prinzessin Laoghaire und Prinz Anrai nicht lange aus, still zu sitzen. Mit jedem verstreichenden Tag, an dem sie nicht ihre Energie verbrauchten, wurden sie unruhiger und zappeliger. Nicht einmal mehr am Esstisch konnten sie sich zusammennehmen und manierlich mit ihren Eltern speisen.

„Himmelherrgott nochmal!“, rief Herzog Warner und schlug mit der Faust auf den Tisch, nachdem der Fuß seines Sohnes wiederholt gegen das Tischbein gestoßen war. „Ihr seid schlimmer als eine Horde Wiesel! Bevor ich euch doch noch in die Kälte gehen lasse“, hierbei blickte Herzogin Ailís entsetzt drein, „steht besser auf und tut irgendetwas, bei dem ihr euch austobt, damit ihr alsbald erschöpft und müde seid und endlich stillhaltet.“ Seine Kinder, die sich vor Freude strahlend erhoben, nun da sie die Erlaubnis hatten, in der Burg zu – ja, was?

„Wir könnten Fangen oder Verstecken spielen“, schlug Prinzessin Laoghaire vor, als sie mit ihrem Bruder das Speisezimmer verlassen hatte und sie beide den Flur entlangliefen, der zur Eingangshalle führte. Prinz Anrai schnaubte verächtlich bei der Vorstellung, sich die Zeit mit seiner Schwester und kindlichen Spielen zu vertreiben. Sie mochte sich mit ihren vierzehn Jahren noch für derlei Dinge interessieren. Doch er, nunmehr sechzehn Jahre alt, war bereits dem Kindesalter entwachsen und ein Mann. Er hütete sich gleichwohl, dies seiner Schwester gegenüber zu äußern. Sie würde ihn dafür nur auslachen und sagen, dass nur er sich für einen Mann hielt. Also stimmte er, wenn auch widerwillig und ohne anderweitige Ideen im Kopf, zu, Fangen zu spielen.

Sie jagten sich durch die gesamte Burg, rannten Treppen hinauf und hinunter, sprangen um Steinsäulen herum, liefen um Rüstungen und Bedienstete herum, bis es sie langweilte und sie zum Versteckspiel wechselten.

„Du zählst bis einhundert“, wies Prinzessin Laoghaire ihren Bruder an.

„Wieso das? Das kommt mir doch sehr lange vor. Bis ich bei einhundert angekommen bin, könntest du bis ins Dorf gelaufen sein“, entrüstete sich Prinz Anrai.

Seine Schwester zuckte mit den Schultern. „Dann wirst du eben schneller zählen müssen“, sagte sie und lief lachend los. Prinz Anrai rief ihr nach, dass sie unfair spielte und er wäre noch nicht bereit. Aber es war zwecklos. Ihr langer blonder Zopf und der letzte Zipfel ihres sonnengelben Kleides waren schon hinter der nächsten Ecke verschwunden und sie war zu weit weg, um ihn hören zu können. Mit knirschenden Zähnen begann er also zu zählen und übersprang dabei die eine oder andere Zahl, immerhin hatte seine Schwester mit ihrem frühzeitigen Loslaufen ebenfalls geschummelt. Denn wenn es eines gab, was Prinz Anrai nicht ertragen konnte, dann war es zu verlieren. In dieser Hinsicht kam er ganz nach seinem Vater, der nach der größten Schlacht, wie man sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte, das eroberte Reich kurzerhand in Agrona umbenannt hatte, zu dem selbst der Name Warner, dem neuen Herrscher, passte: Heer. Und genau wie dieses war der Herzog groß und stark.

Als Prinz Anrai fertig gezählt hatte, rief er: „Ich komme.“ Und schon jagte er seiner Schwester nach. Er schob Vorhänge beiseite, öffnete Truhen, hob umgedrehte Körbe an, kletterte in Kamine, krabbelte unter Betten, durchwühlte Kleiderschränke und suchte auch in den Hohlräumen unter Bodenbrettern, von denen er wusste, dass es diese Geheimverstecke gab. Unzählige Türen zu Räumen öffnete er und begegnete dabei etlichen Dienern, die ihm keine Auskunft, wo seine Schwester steckte, geben konnten oder wollten.

Die Zeit verging und Prinz Anrai kam es vor, als hätte er jeden Winkel der Burg nach Prinzessin Laoghaire abgesucht. Ob sie tatsächlich das Dorf als ideales Versteck erwählt hatte? Aber nein. So einfältig konnte selbst sie nicht und hingegen der Anordnung ihres Vaters hinausgegangen sein. Trotzdem warf er einen Blick zum Fenster hinaus, um nach verräterischen Fußspuren im Schnee zu suchen, die von der Burg wegführten. Erleichterung machte sich in ihm breit, als er den Schnee unberührt vorfand, der am Vormittag gefallen war.

„Hm, wo könnte sie sein?“, überlegte er und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. Er musste lange nachdenken, bis ihm der Ort einfiel, an dem er noch nicht nachgesehen hatte: im Ostturm. Doch war es wirklich möglich, dass Prinzessin Laoghaire dorthin gegangen war? In dem Turm gab es lediglich ein Zimmer und dieses war, seit Prinz Anrai denken konnte, verschlossen. Selbst die langjährige Dienerschaft konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich dort oben befand, da der Schlüssel zu dem Raum verloren gegangen war. Nachfragen bei seinem Vater waren ebenso wenig gestattet wie bei seiner Mutter, die für gewöhnlich die Ruhe in Person war. Nur wenn es um den Ostturm, der im Gegensatz zu den übrigen Türmen aus unbekanntem Grund eine doppelte Zinnenkrone besaß, und sein Geheimnis ging, geriet Herzogin Ailís in heftige Aufregung. Prinz Anrai zuckte mit den Schultern und lief in Richtung des Turms. Einen Versuch war es wert.

Außer Atem erreichte Prinz Anrai die Stufen, die den Ostturm hinaufführten.

„Laoghaire? Bist du da oben?“, rief er und lauschte auf Antwort. Doch es blieb alles still. Er fragte sich, ob er sich geirrt hatte und sie doch nicht hierhergekommen war. Machte er sich lächerlich, suchte an völlig falscher Stelle und jeden Moment würde sie hinter ihm stehen und Buh! rufen, dabei schallend lachen? Stirnrunzelnd blickte er hinter sich. Nein, er war allein.

„Also schön“, sagte er zu sich selbst, „ich gehe hinauf und schaue nach, ob du dort bist. Aber das ist mein letzter Versuch. Wenn ich dich jetzt nicht finde, sollst du eben verschollen bleiben.“ Und so erklomm er die Stufen eine nach der anderen und erreichte schließlich die verriegelte Tür zu dem rätselhaften Raum. Allerdings – die Tür war gar nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, sie stand weit offen und in der Mitte des runden Zimmers saß seine Schwester auf dem Boden und starrte vor sich hin. Prinz Anrai wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte: über die geöffnete Tür, in deren Schloss kein Schlüssel steckte, oder über seine Schwester, die Löcher in die Luft schaute.

Schmunzelnd und mit verschränkten Armen vor der Brust lehnte er sich gegen den Türrahmen. „Wie bist du hier hereingekommen, Schwesterchen?“, fragte er. Als Antwort zog sich Prinzessin Laoghaire eine der Nadeln aus ihren Haaren, mit denen sie widerspenstige Strähnen zähmte, und zeigte sie ihrem Bruder. Anerkennend pfiff Prinz Anrai. „Ich bin überrascht, welch ungeahnte Talente du besitzt, liebste Schwester. Wo hast du nur gelernt, Türen auf diese Weise aufzubekommen?“

„Glyn“, sagte sie nur, weiterhin vor sich hin starrend. Einer der Küchenjungen, der einen Narren gefressen hatte an ihr, dachte Prinz Anrai grinsend, auch wenn es schon skandalös war, was einer der Bediensteten ihr beigebracht hatte. Er würde wohl mit ihm ein ernstes Wörtchen reden müssen.

„Und wie oft hast du dir auf diese Weise bereits Zutritt zu Orten verschafft, an denen du nicht sein solltest?“, hakte er weiter nach.

„Probiert habe ich es schon öfter. Heute war es das erste Mal, dass es tatsächlich geklappt hat und die Tür aufgesprungen ist“, antwortete sie ihm nach wie vor abwesend.

„Weißt du“, begann er zu sagen und trat in das Zimmer, „wenn du dir schon die Mühe machst, hier einzudringen, dann hättest du die Wahl eines Versteckes zu Ende treffen sollen. Setzt dich einfach hier mitten auf den Boden. Tss!“ Prinz Anrai sah sich in dem runden Zimmer um und allmählich begann er zu begreifen, wieso seine Schwester sich nicht weiter bemüht hatte, sich zu verbergen. Es gab nichts hierin, keinen Schrank, keine Kiste, kein Bett, keine Vorhänge, nur den staubigen Teppich, auf dem sie mit ihrem guten Kleid saß, und die Tapete, die das Rund, lediglich unterbrochen von der Tür und einem Fenster, vom Boden bis zur Decke umspannte.

„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Prinzessin Laoghaire ihren Bruder, der den Kopf schüttelte. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erblickt, obwohl er in seinem jungen Leben bereits unzählige adlige Häuser besucht und vieles an Prunk und Glanz zu Gesicht bekommen hatte. Doch das hier war etwas gänzlich anderes. War es ein gewaltiges Stück Papier oder ein feinst gewebter Teppich? Prinz Anrai lief zu der Wand und strich mit seinen Fingern darüber.

„Es ist tatsächlich eine kunstvoll bemalte Tapete“, bemerkte er und trat einige Schritte zurück, um sich die Wand zu betrachten. Er musste sich um die eigene Achse drehen, um alles davon in Augenschein nehmen zu können.

„Meinst du, was sie zeigt, ist nur Fantasie oder ein Stück Geschichte unseres Landes?“, fragte Prinzessin Laoghaire. Ihr Bruder setzte sich neben sie auf den Boden und ließ seine Blicke weiter über die zahlreichen bunten Abbildungen wandern, die an der Wand prangten.

„Ich glaube, es ist nur Fantasie. Wenn es Geschichte wäre, müssten die Gelehrtenbücher neu geschrieben werden oder hast du schon einmal etwas von kämpfenden Schmetterlingen gelesen?“, fragte Prinz Anrai und deutete auf ein Wesen, das mit seinen Flügeln tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Schmetterling aufwies. Doch es war auch ein Mensch.

„Aber es gibt noch mehr als das. Sieh nur“, sagte Prinzessin Laoghaire, sprang auf und lief zu der Wand. „Hier, dieser grimmig dreinblickende Mann in seinem dunklen Mantel und über ihm das gottgleiche Wesen, das er verbittert ansieht. Und dort“, sie trat ein paar Schritte zur Seite und zeigte am unteren Rand der Tapete auf eine Höhle, „darin ist ein Schatz verborgen.“

„Ja, schon“, unterbrach sie ihr Bruder. „aber über dem Schatz ist das Gesicht eines Kindes zu sehen. Hier“, er krabbelte auf allen vieren über den Boden und tippte auf das junge Gesicht, das etwas blasser gezeichnet, aber dennoch zu erkennen war, „das ergibt keinen Sinn.“

„Ich verstehe auch nicht ganz, was das bedeuten soll. Aber sieh her“, meinte Prinzessin Laoghaire, „da sind Schmetterlinge in hellen Farben, aber auch Falter mit blau-schwarzen Flügeln, die gegeneinander kämpfen. Es kommt mir vor wie ein Kampf Gut gegen Böse. Klingt das nicht aufregend?“, rief sie und klatschte verzückt in die Hände. „Und schau, da ist noch mehr“, rief sie und eilte zu einer anderen Stelle der Wand hinter Prinz Anrai. „Pferde, ein Reitertrupp, Schwertkämpfer, ein Schloss, ein Königreich und dort – ist das ein Liebespaar? Oh ja, wie schön“, seufzte sie und betrachtete sich die zwei winzig klein gezeichneten Figuren in der untersten Ecke, die von einem roten Band und kleinen Schmetterlingen und Herzen umgeben waren.

„Tss! Ja, ganz toll. Ist dir auch aufgefallen, worauf sie stehen?“, warf Prinz Anrai ein, rutschte über den Boden zu seiner Schwester und zeigte ihr, was er meinte.

„Ist das –?“, begann sie.

„- ein Grab?“, beendete er die Frage für sie. „Ja, ich denke schon. Es sieht ganz danach aus.“ Für einen Moment schwiegen die beiden Geschwister und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

„Wer hat sich das alles nur ausgedacht?“, flüsterte Prinz Anrai schließlich, „und vor allem, wozu?“

„Ich habe das Gefühl, als wollte derjenige uns eine Geschichte hiermit erzählen“, meinte seine Schwester und strich zärtlich über die Wandverkleidung, deren Farben allesamt verblasst waren, doch die Grundfarbe Blau war noch ausreichend erkennbar. Am oberen Rand zur Decke hin war es Petrol, das sanft in ein Türkis überging, das sich zur Mitte der Tapete in Grün wandelte und zum Boden hin heller wurde. Zarte, filigrane Efeuranken, einstmals in Dunkelblau gemalt gewesen, das hier und da noch zu sehen war, verliefen kreuz und quer über die Wand. Die übrigen Elemente wie Bäume, Blätter, Blumen, Wolken, Gebäude, Menschen und Schmetterlinge waren in Gold, Silber, Pink, Lila, Magenta, Orange, Braun, Schwarz, Grau und Weiß aufgemalt worden. Ihre letzten Spuren, nicht von der Zeit und von der Sonne ausgeblichen, leuchteten an mancher Stelle noch auf und zeugten davon, welch prächtiger, farbenfroher Anblick dies hier gewesen sein musste.

„Aber weißt du was?“, rief Prinzessin Laoghaire plötzlich aus, kniete sich vor ihren Bruder und nahm seine Hände in ihre. „Wir wissen nicht, wieso der Künstler dies hinterlassen hat und ob es nur seiner eigenen Gedankenwelt entsprungen oder Teil der Geschichte unseres Landes ist. Wir wissen auch nicht, was genau die Bilder erzählen wollen. Aber lass uns die Geschichte erzählen auf unsere Art und Weise, mit unseren eigenen Worten. Was hältst du davon?“

Prinz Anrai runzelte die Stirn. Sich Märchen ausdenken? Aus dem Alter war er doch längst heraus. Außerdem, wozu sollte es nütze sein, sich irgendetwas zu ersinnen, das fern jeder Wirklichkeit war? Er war Realist und kein Träumer wie seine Schwester, die mit ihrem Kopf in den rosa Wolken steckte. Er stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Deswegen war ihm auch das Dunkle, das der wundersamen Wandverkleidung anhaftete, aufgefallen, während Prinzessin Laoghaire das märchenhaft Schöne ins Auge gestochen war.

„Hm“, brummte er nachdenklich. Es könnte auch interessant werden, dachte er, wenn sich unsere beiden unterschiedlichen Charaktere auf das Abenteuer einlassen, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. „Einverstanden. Wir wechseln uns ab, und jeder bringt das mit ein, was er möchte“, meinte Prinz Anrai schließlich.

Seine Schwester nickte, führte jedoch an, dass es nicht allzu brutal und blutig werden sollte. Sie kannte die Vorlieben ihres Bruders zur Genüge.

„Wir werden sehen“, entgegnete er ihr augenzwinkernd. „Ich fange an“, sagte er und besah sich die Tapete, „und zwar mit ihm.“ Er deutete auf den miesepetrig wirkenden Mann im Kapuzenumhang.

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The Butterfly Tales: Imogen

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