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Drittes Gesicht
ОглавлениеDas soll jetzt ihr gesundes, eigenes Gesicht sein, weder manisch noch depressiv? Früher, als sie ihre Tabletten nicht genommen hat, hatte sie zwei Gesichter, das eine strahlend und bei jeder Tageszeit mit Sonnenbrille, wie von ihrem eigenen Licht geblendet. Das andere, aus denselben Teilen zusammengesetzt – Wangen, Stirn, Augen, Nase, Mund – aber schlapp, älter und schmerzlich. Das dritte Gesicht hat sie bekommen, seit sie täglich die Tabletten nimmt. Es ist eine dicke taube Maske, hinter der ihr inneres Aufzieh-Auto immer noch surrt und Ideen produziert, aber der Mund ist schon zu träge, die Zunge schon zu schwer, um den vom Fliessband rollenden Gehirn- Befehlen zu gehorchen. Diese Tabletten sind echte Hämmer. Die Gute-Nacht-Dosis muss sie auf der Bettkante nehmen, so knocked-out wird sie davon. Aber die Heilwirkung kann ich neben den Nebenwirkungen nicht sehen. Manchmal, wenn wir zusammen vor der Glotze sitzen, hält irgendwas sie nicht mehr im Sessel. Ihre Beine trappeln, wie von Geisterhand bewegt, einzeln auf der Stelle. Ihre Arme fliegen wie mit Helium gefüllt nach oben. Die Hände schweben in der Luft, Dirigentenhände in der Stille vor der Musik. Dann bemerkt sie sie und zieht sie erschrocken wieder ein. Beim Essen zittert sie wie eine Oma. Die komplette Gabel-Ladung verliert sie auf dem Weg vom Teller zum Mund. Das würde mich wahnsinnig machen. Aber sie, ohne Ausdruck, trifft mit der leeren Gabel ihren schon längst geöffneten Mund.