Читать книгу Lieben, glauben und hoffen... - Natalia Stuphorn - Страница 10

Kapitel 5 Der deutsche Gast

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Draußen hinter dem Fenster war es trüb und es wurde immer dunkler. Ljuba schrieb im Licht einer Öllampe die Eindrücke des vergangenen Tages in ihr Tagebuch. Sie war ein wenig nervös, als sie mit ihrer Feder schrieb: „Ich will leben...“ Ljuba tunkte ihre Feder in die Tinte und setzte mehrere Punkte. Beim letzten Punkt hatte sie die Feder etwas zu kräftig auf das Papier gedrückt und aus dem Punkt wurde ein Tintenklecks.

„Ja, ich will leben! Punkt! So ist es nur noch deutlicher“, Ljuba legte die Feder zur Seite und pustete leicht über das Blatt, bevor sie das Heft zumachte.

Die junge Frau saß am Wohnzimmertisch neben dem großen Ofen, in dem das Holz lustig brannte und das ganze Haus wohlig erwärmte. Er war weiß gestrichen und an der Seite war ein Vorsprung angebaut, auf dem man auch sehr angenehm schlafen konnte. Der Ofen war so groß, dass er den zentralen Platz im Haus einnahm. Er teilte es in zwei Hälften: in das Wohnzimmer auf der einen Seite und auf der anderen Seite gab es ein großes Schlafzimmer, in dem Ljubas Eltern schliefen und früher ihre Oma, als sie noch lebte. Ljuba bevorzugte das Bett auf der Ofenbank.

Plötzlich hörte sie die verkrampfte Stimme ihrer Mutter: „Trinken! Ich möchte etwas trinken... Ljuba, wo bist du?“, stöhnte Nina vom Bett.

Ljuba stand schnell auf, ging hinter den Vorhang. Sie trat an das Bett der Mutter und berührte ihre Stirn.

„Du hast ja Fieber! Mama, bist du krank?“, fragte Ljuba erschrocken.

„Durst... Gib mir was zu trinken!“

„Sofort, Mama!“

Ljuba ging in den Korridor des Hauses und sah, dass im Eimer kein Wasser mehr war: „Vater hat schon wieder das ganze Wasser aufgebraucht. Aber Wasser ins Haus zu bringen, dafür ist er zu faul! Jetzt darf ich wieder zum Brunnen gehen“. Sie ging hinaus. Es war kalt, dunkel und ungemütlich.

„Nein, ich habe keine Angst!“, Ljuba machte sich Mut und ging in die Dunkelheit.

Als sich Ljubas Augen daran gewöhnt hatten, erblickte sie plötzlich die Silhouette eines Mannes, der auf der anderen Straßenseite leise am Zaun entlang schlich. Ljuba konnte sogar erkennen, dass der Unbekannte ein Gewehr über der Schulter trug. Es war eindeutig kein Polizist.

„Wer ist das? Ein Partisan? Und mein Vater schläft!“, Ljuba bekam Angst. Als sie sich wieder zusammengerissen hatte, merkte Ljuba, dass sie sich selbst den Mund zugehalten hatte:

„O mein Gott, Mama! Sie wartet auf mich! Nein, es gibt keine Partisanen, diese Erscheinung war nur ein Abbild meiner Angst!“

Obwohl sie vor Furcht mit den Zähnen klapperte, versuchte Ljuba so leise wie nur möglich zu atmen. Sie ging weiter und drückte sich an den Zaun, um ihren Schatten zu verbergen.

Nach einigen Metern erreichte Ljuba schließlich den Brunnen.

Auf dem Rückweg vernahm sie die aufgeregten Stimmen eines Mannes und einer Frau. Plötzlich war ihre Angst wie weggeblasen, als ob sie nie da gewesen wäre. Ljuba ließ den Eimer mit Wasser am Zaun stehen und rannte in die Richtung, aus der das Gespräch kam. Das Pärchen unterhielt sich (oder war es doch ein Streit?) direkt im Hof von Anna, neben dem Gartenschuppen. Noch während sie sich näherte, konnte Ljuba deutlich hören...

„Jetzt ist mir alles klar!“, sagte laut die Stimme des Mannes.

„Was ist dir klar?“, fragte etwas leiser die Frauenstimme.

„Was mir klar ist? Du bist mit dem Deutschen zusammen!“, sprach die Stimme des Mannes noch lauter weiter.

„Boris, das ist nicht wahr!“, antwortete die Frauenstimme, die jetzt auch lauter sprach.

„Lass mich! Ich kenne dich nicht mehr!“, sagte die Stimme des Mannes schroff.

„Boris!!!“, es war Annas Schrei.

Ljuba stand auf der anderen Seite des Gartenschuppens und sah deutlich, wie Boris schnellen Schrittes an ihr vorbei ging.

„Das ist der Partisan!“, Ljuba war so verwundert, dass sie alle Ängste vergaß.

Ljuba sah ihm nach und ihr fiel auf, dass er sich gar nicht versteckte... Sie hörte wie Anna weint, aber näher zu ihr zu gehen um sie zu beruhigen, daran dachte Ljuba in diesem Moment nicht.

Ljuba konnte nicht mehr klar denken. Die Gedanken in ihrem Kopf waren chaotisch: „So was! Boris besucht Anna! Jans Bruder ist jetzt also Partisan? Ich verstehe nichts mehr... Sie schreien vom Hof in das ganze Dorf hinein! Was sagte er noch mal? Ach ja, der Deutsche... ist mit ihr... Also mit Anna... He, das ist doch nichts Neues! Das ganze Dorf spricht darüber! Und Boris sieht aus, als käme er direkt aus dem Wald... Genau... aus dem Wald! O, Gott! Wohin schauen die Deutschen und die Polizisten? Vor ihrer Nase gehen hier Partisanen spazieren... Oder machen sie alle Feierabend mit Frauen oder Alkohol? Oder mit beidem? Und wo ist der Offizier, der bei Anna wohnt? Noch in der Kommandantur? Er hätte doch die Szene aus dem Haus bemerken müssen!“

Dann merkte Ljuba, dass drüben im Hof das Weinen aufhörte und die Tür geschlossen wurde.

„Ich muss nach Hause! Mama wartet auf mich! Sie hat Durst! Meine Güte, jetzt muss ich aber schnell zu dir laufen, Mama! Entschuldige, ich bin sofort da!“, Ljuba lief so schnell sie konnte zu dem Platz, wo sie den Eimer abgestellt hatte. Sie ergriff ihn und setzte ihren Weg fort. Beim Abbiegen um die Ecke stieß sie plötzlich mit Thomas zusammen. Der Zusammenprall verschüttete fast die Hälfte des Wassers über den Offiziersmantel.

„Du russische Sau!“, Thomas schlug mit der Hand auf sie ein.

Ljuba sank zu Boden. Er wollte noch mit dem Fuß nach ihr treten, als er plötzlich hörte:

„Verzeihung! Bitte!“

Thomas beugte sich herunter und nahm sie an ihrer Jacke hoch. Dabei bemerkte Ljuba den Schnapsgeruch. Das war das erste Mal. Sonst roch sie sein Parfüm immer sehr gern! Und jetzt...

Nein, Ljuba hatte keine Angst vor ihm. In ihrer Fantasie war Thomas ihr Mann. In ihrer Seele herrschte sie sogar über ihn... Und in der Realität... das interessierte Ljuba nicht.

Sie stand vor ihm, ihre Wange brannte von dem Schlag.

„Du?... Was willst du hier? Schau was du gemacht hast“, Thomas zeigte seinen nassen Mantel.

Ljuba dachte: „Wie aus der Traufe gezogen...“ Sie wurde vielleicht auch durch diesen Anblick mutig. Die junge Frau stand aufrecht und begann: „Es tut mir... sehr leid... Herr Offizier!...“

In solchen Augenblicken wusste Ljuba nie, was sie sagen sollte. Die junge Frau fürchtete etwas Falsches zu sagen und dass er sie missverstehen könnte. Ljuba stand vor ihm, klein, aber sehr selbstbewusst. Sie hatte keine Angst vor Thomas, irgendwie freute Ljuba sich sogar über dieses Zusammentreffen. Die seelischen Qualen, die ihr seine Beleidigungen zufügten, schmerzten sie mehr, als jede körperliche Gewalt vermocht hätte. Einen Moment lang dachte Ljuba, dass sie ihn zwischen die Beine treten und schnell um die Ecke verschwinden sollte, so wie sie es früher auch mit anderen Jungen gemacht hatte.

Aber diese Situation war nicht so wie früher. Ljuba hielt sich zurück. Ihre Lippen zitterten und ihr lief eine Träne die Wange hinunter. Sie betrachtete Thomas und ihr Blick wanderte von unten nach oben... ihr Blick bat ihn wortlos um Hilfe.

„Es ist meine Schuld! Bitte bestrafen Sie mich nicht, Herr Offizier! Meine Mutter ist krank!... Sie braucht... mich... trinken...“ Ljuba fand nur mit großer Mühe die nötigen Worte.

Nach einer kurzen Pause sagte sie den Satz, den sie sich schon seit langem überlegt hatte: „Und... ich liebe (S)ie...“

„Ich liebe meine Mutter auch.“

„Ich liebe Sie... verstehen Sie mich? Wie heißen... Sie?“

„Ich?“, Thomas wunderte sich über diese Frage, „Für dich immer noch Herr Offizier! Jetzt noch mal richtig!“, befahl Thomas.

Ljuba antwortete nichts. Sie stand vor Thomas wie ein Kind, das bei etwas Bösem ertappt worden war und schaute zu Boden.

„Wer ist dein Vater?“, Thomas fragte so spontan, dass er selbst nicht genau wusste, warum er nachfragte.

„Er ist Polizist“, antwortete Ljuba.

Die Situation war jetzt weniger angespannt. Zum ersten Mal kam es Ljuba in den Sinn, dass der Job des Vaters doch nicht so verkehrt war.

„Name?“, fragte Thomas kurz wie in einem Verhör. Ljubas Antwort nahm ihm ein wenig seiner Skepsis, die er allen Einheimischen gegenüber empfand.

„Kraiko“, antwortete Ljuba weiter.

„Sehr schön... Du wohnst hier um die Ecke?“, fragte er.

Ljuba nickte.

„Ich begleite dich“, bot Thomas an.

Sie gingen schweigend weiter. Es war nicht sehr weit. Unterwegs gingen ihnen aber sehr unterschiedliche Gedanken durch den Kopf...

Ljuba dachte: „So eine Überraschung! Er begleitet mich nach Hause! Ich fühle mich, als ob ich Flügel hätte... So könnte es immer sein. Was werde ich zu Hause sagen? Begleitet er mich bis ins Haus?“

Thomas hingegen: „Zum Teufel, es ist so was von kalt hier draußen und dann überschüttet mich dieses Mädel noch mit Wasser! Jetzt bin ich wieder nüchtern... Zum Teufel, soll Werner doch mit seinem russischen Weib zusammen leben! Was sieht er bloß in ihr, dass er nicht mehr mit seinem Kameraden trinken will?... Ich sah das Weib und gucke jetzt auf dieses Gör... Von mir aus, können alle russischen Weiber zum Teufel gehen! Es stimmt, dass sie Untermenschen sind. Dieses Gebrabbel, das sie Sprache nennen, es ist kein Vergleich zur Kultur der deutschen Sprache... Moment mal...“

„Wo hast du Deutsch gelernt?“, Thomas fiel aus seinen Gedanken. Das war ihm vorher nicht wirklich aufgefallen.

„In der Schule gelernt habe... Das ist mein Haus, hier wohne ich...“, zeigte Ljuba.

„Das Haus gehört nicht dir!... Alles hier gehört dem Großdeutschen Reich! Ist das klar?“

„Richtig...“, Ljuba antwortete ohne Widerspruch, „Herzlich willkommen!“

Thomas hielt einen Moment inne: „Ist sie wirklich so naiv?“ „Hast du was zu trinken?“, Thomas blickte ruhig auf die junge Frau. Ljuba nickte und zeigte auf den zu einem Drittel gefüllten Wassereimer.

Thomas lächelte: „So ein dummes Mädchen“, dann stellte er klar: „Nein. Ich meine was Vernünftiges...“

„Ah, ich verstehe. Kommen Sie bitte herein...“, Ljuba öffnete einladend die Tür.

Sie traten durch den dunklen Vorraum ins Wohnzimmer. Erst hier nahm Ljuba die Streichhölzer und zündete die Öllampe an, die auf einem großen Holztisch stand. Sie gab ein angenehmes, nicht zu starkes Licht, das aber ausreichte, um die Gegenstände im Zimmer zu erkennen.

Thomas trat zum ersten mal als Gast und nicht mit dem Recht des Okkupanten in ein Haus ein. Es war eine seltsame Situation für ihn. Obwohl er versuchte, seine Unbeholfenheit nicht zu zeigen, bemerkte Ljuba sie und bot ihm einen Stuhl am Tisch an: „Ich bin... schnell wieder da!“, sagte sie betonend auf das Wort „schnell“ und ging in das andere Zimmer.

Nachdem Ljuba ihrer Mutter, die im Bett lag, eine Schöpfkelle voller Wasser zu trinken gereicht hatte, fragte sie: „Mama, geht es dir besser?“

„Ja, ein wenig. Wo warst du so lange?“, die Mutter atmete sehr schnell.

„Mama, ich erzähle es dir, aber später... Ich habe Besuch!“

„Was? Wer ist dort?“

„Mein Gast.“

„Wer ist mit dir gekommen?“, Ljubas Mutter versuchte, sich aufzurichten. Sie schaute ihre Tochter mit großen Augen an.

„Psst... Mama, hör mir zu“, sagte Ljuba flüsternd, „Da ist ein deutscher Offizier... Bitte, stehe nicht auf... Danach... Ich komme gleich... Er ist im Wohnzimmer. Aber du bleibst bitte hier... Abgemacht?“, bittend sah Ljuba ihre Mutter an, und ging in den Abstellraum hinaus.

Nachdem Ljuba das Wohnzimmer verlassen hatte, betrachtete Thomas das Zimmer sehr aufmerksam.

Es war sehr einfach eingerichtet und nicht besonders hoch. Der Raum war rechteckig und hatte an der Stirn und der rechten Wand je zwei Fenster, in denen kleine, bestickte Gardinen hingen. Links stand ein großer weißer Ofen. Unter einem der Fenster stand an der Seitenwand eine Bank, die bis in die Ecke des Zimmers reichte. Vor der Bank stand der große Esstisch aus Holz, auf dem eine Tischdecke lag. Zum Zimmer hin standen vor dem Tisch zwei Stühle. In der Ecke hing zwischen den Fenstern, fast unter der Decke, eine große Ikone, die von einem gestickten Schal bedeckt war. Thomas blickte nach links auf den großen Ofen. Er zog seinen Offiziersmantel aus, hängte ihn über einen der Stühle und schob ihn vor den Ofen, um den Mantel trocknen zu lassen.

Thomas fühlte sich etwas unruhig, wie ein ungebetener Gast. Er schaute mit Interesse auf die Kuckucksuhr, die seitlich vom Küchentisch an der Wand hing: „Na so was! Selbst am Arsch der Welt findet man deutsche Erfindungen! So ein Wunderding hängt auch bei uns zu Hause an der Wand. Die Mutter konnte nicht genug davon schwärmen, wie sie das Ding aus Freiburg mitgebracht hat.“ Der Offizier erblickte das Bild einer älteren Frau mit Kopftuch, das rechts neben der Uhr hing. Hatte er sie nicht schon mal gesehen? Thomas war sich nicht sicher.

In diesem Moment kam Ljuba stolz mit einem Tablett zurück, auf dem Brot, Speck und eine Flasche selbstgebrannter Wodka mitsamt zwei Gläschen standen.

„Wie naiv sie ist!“, dachte der Offizier bei ihrem Anblick wieder.

„Fräulein, du trinkst mit mir? Dann... Zum Wohl!“, Thomas schenkte den Wodka ein und hob sein Glas. Allerdings stieß er nicht mit Ljuba an. Während des Essens betrachtete Thomas lange die junge Frau. Ljuba sah verlegen zu Boden und überlegte, wie sie ihm anbieten könnte, bei ihr zu übernachten.

Nach kurzer Zeit schaute der Offizier auf seine Uhr. Es war schon sehr spät geworden. Eigentlich wollte er noch nicht aufbrechen. Gegen seinen Willen erhob sich Thomas aber langsam von seinem Stuhl und nahm den Uniformmantel in die Hand.

„Herr Offizier, Sie können hierbleiben...“, sprach Ljuba schnell.

„Natürlich kann ich das... Aber ich gehe...“, er zog seinen Mantel an und antwortete, „Ich schlafe in der Kaserne“.

Als er die Tür öffnete, erinnerte sich Thomas daran, dass er dieselben Worte vor nur zwei Stunden schon zu Werner gesagt hatte, seinem Vorgesetzten, aber auch besten Freund, mit dem er seit der gemeinsamen Studienzeit befreundet war.

Lieben, glauben und hoffen...

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