Читать книгу Lieben, glauben und hoffen... - Natalia Stuphorn - Страница 7

Kapitel 2 Krieg

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Die ersten Jahre, in denen der Sozialismus aufgebaut wurde, waren für alle sehr schwer. Trotzdem konnten sich die Menschen nicht vorstellen, dass dieser Wandel nicht von Dauer sein sollte und schon gar nicht, dass in der Nacht zum 22. Juni 1941 deutsche Divisionen ohne Kriegserklärung auf breiter Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer in die Sowjetunion einmarschieren würden. Tausende Panzer, Artilleriegeschütze und Millionen Soldaten überrannten mit großer Unterstützung der Luftwaffe die Grenze der UdSSR. Viele Grenzsoldaten der Roten Armee versuchten vergeblich ihre Posten dem Feind nicht preiszugeben und ergaben sich somit ihrem Schicksal: entweder Tod, oder Einkesselung. Die deutschen Panzer umfuhren zielstrebig stark bewaffnete Orte, um möglichst schnell strategisch wichtige Punkte einzunehmen und auch Versorgungslinien der Roten Armee zu unterbrechen. Der Plan ging auf und viele Divisionen der Roten Armee verloren dramatisch an Stärke. Tausende Flugzeuge der Luftwaffe bombardierten die großen, strategisch bedeutenden Städte, darunter war auch die sehr schöne, historische Stadt Kiew - die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik.

Ljuba wurde von einem ungewohnten Brummen in der Luft wach. In der Ferne hörte sie es donnern, als ob ein Gewitter aufziehen würde. Trotzdem konnte sich die junge Frau nicht vorstellen, was vor sich ging. Draußen war es schon hell, durch die zugezogenen Gardinen schienen die ersten Sonnenstrahlen. Als sie die Vorhänge zu Seite zog, strahlte ihr ein wundervoller Morgen entgegen. Von Regen oder Gewitter war weit und breit keine Spur. Ljuba schaute aus dem Fenster. Die Menschen, die draußen auf der Straße unterwegs waren, hatten es sehr eilig. Sie wunderte sich, dass an einem Sonntagmorgen so viele Soldaten und Offiziere auf der Straße waren. Immer wieder hörte man laute Befehle. Fast schien es, dass sich die Armee aus ihrer Stadt zurückziehen würde.

Nina, Ljubas Mutter, stürzte ins Zimmer: „Töchterchen, es ist Krieg! Die Deutschen haben uns überfallen!“

Mit Augen voller Verzweiflung schaute sie ihre Tochter an und suchte ihre Unterstützung: „Was sollen wir bloß machen? Dein Vater ist gestern nach Kiew gefahren, um sich die Eröffnung des neuen Fußballstadions und das Spiel von Dynamo Kiew anzuschauen. Er und sein „historisches Ereignis“. Und wir, was sollen wir jetzt machen? Wir bräuchten ihn doch hier, aber statt dessen ist jetzt alles ungewiss. Was ist nur mit ihm und was wird aus uns?“

Nina setzte sich auf die Kante von Ljubas Bett. Sie war so verängstigt, dass ihre Knie zitterten und sie nicht mehr stehen konnte.

„Mama, es wird schon gut gehen, bleib ruhig. Vielleicht sind die Deutschen nicht so schlecht, wie du denkst. Und Vater kommt bestimmt zurück, du wirst es sehen. Er lässt uns nicht allein“, Ljuba umarmte ihre Mutter fest.

Ljubas Mutter Nina sah sehr jung aus. Sie trug ein leichtes Kleid aus Seide mit kleinen Tupfen und eine dünne Strickjacke, die nur mit drei Knöpfen geschlossen war. Nina war schon fünfunddreißig Jahre alt, aber Mutter und Tochter konnten auch für Geschwister gehalten werden, so ähnlich sahen sie sich. Bekannte sagten oft, dass Ljuba eine Kopie ihrer Mutter sei. Aber anders als ihre Tochter trug Nina keine Zöpfe mehr. Als Stadtfrau wollte sie lieber einen modischen Haarschnitt. Sie arbeitete als Lehrerin in einer Grundschule und hatte jetzt gerade Sommerferien.

Nina trat ans Fenster: „Siehst du, Ljuba, die Rote Armee zieht aus der Stadt ab. Sie ist sogar so in Eile, dass die Offiziersfamilien nicht mitkommen dürfen. Ich habe es selbst gesehen, in der Sowjetskaja Straße, wo sie wohnten, weinten die Frauen und Kinder beim Abschied.“

Die Kreisstadt, in der Ljubas Familie wohnte, wurde ohne Kampf aufgegeben. Die vielen Männer, die noch nicht zum Militär einberufen waren, blieben im Ort. Schon am nächsten Tag rollten über die mit Steinen gepflasterten Straßen die Motorräder und Lastwagen mit Soldaten der deutschen Armee. Am Rathaus, wo vor nur zwei Jahren die Rote Fahne mit Symbolen von Hammer und Sichel in der oberen linken Ecke den Platz gefunden hatte, an genau dieser Stelle hing jetzt eine andere rote Fahne. Nur in der Mitte sah man einen weißen Kreis, der ein schwarzes Hakenkreuz umrahmte.

In den folgenden drei Monaten unter der neuen Herrschaft veränderte sich in der Stadt alles. Gesetze wurden durch neue, völlig gegensätzliche ausgetauscht. Der Versuch der ukrainischen Nationalisten an die Macht zu kommen, scheiterte. Die Bewohner teilten ihre Nachbarn ganz öffentlich nach ihrer Nationalität in Gruppen ein und nicht nur hinter dem Rücken, wie es früher manchmal vorgekommen war.

„Polacken, Juden und Moskowiten sind deine Feinde“, las Ljuba auf einem Plakat.

„Was soll das? Das kann doch nicht wahr sein! Was für ein Irrsinn! Lech Krasuzki ist ein Pole, Ella Katz eine Jüdin und Nina Iwanowa eine Russin. Sind sie nicht mehr meine Freunde?“ Ljuba dachte über den Spruch auf dem Plakat nach.

Hier und da hörte man immer wieder ein neues deutsches Wort: Blitzkrieg - womit ein sehr schneller Krieg gemeint war. Schon nach ein paar Wochen hatte die deutsche Armee Kiew eingenommen. Überall sprach man davon, dass dies die Strafe des Himmels sei und dass die Deutschen bis nach Moskau marschieren würden...

Ende September, als Ljuba und Nina fast schon alle Hoffnung nach Stepan verloren hatten, klopfte er an die Tür. Die Wiedersehensfreude nahm kein Ende. Er hatte stark abgenommen und nach seinem langen Fußmarsch fast keine Kraft mehr. Als Augenzeuge hatte er den Kampf um Kiew miterlebt. Über den Sonntag, den 22. Juni erzählte er, selbst als am frühen Morgen die ersten Bomben auf die Stadt fielen, wollte keiner wahrhaben, dass ein Krieg begonnen hatte. Das Fußballspiel wurde erst eine Stunde vor Beginn abgesagt und auf den folgenden Tag verlegt. Als dann der Spuk immer noch nicht vorbei war, wurde es auf unbefristete Zeit nach dem Sieg verschoben. Außer Stepan haben nur sehr wenige ihre Eintrittskarten an die Kasse zurückgegeben. Alle hatten die Hoffnung, dass dieser Krieg sich als Missverständnis herausstellt und nicht lange dauern wird. Keiner konnte sich vorstellen, dass dieser Krieg jeden persönlich betreffen würde.

Aus den Nachrichten erfuhr Stepan, dass das Gebiet, in dem seine Familie geblieben war, bereits besetzt ist. Er hatte keine Möglichkeit mehr, zurück nach Hause zu kommen. Erst als auch Kiew von den Deutschen genommen wurde, konnte Stepan endlich wieder zurückgehen.

Auf dem Rückweg, zu Fuß, sah Stepan überall die Spuren des Krieges.

Als er unterwegs war, begann zunächst ein leichter Regen, der immer kräftiger wurde. Stepan sah einen zerstörten sowjetischen Panzer und ihm kam die Idee, dass er vielleicht darin übernachten könnte. Als er sich dem Panzer näherte, sah Stepan die verbrannte Leiche des Fahrers. Er war nur halb aus der Maschine herausgekommen. Innen war es noch schlimmer, denn dort lagen noch weitere Tote. Stepan kroch unter den Panzer und schlief dort fest, um weitere Kräfte für den langen Weg nach Hause zu sammeln.

Sein Weg war sehr gefährlich. Nachts ging er über Felder und Auen, oder wenn sich am Tage die Möglichkeit bot, fuhr er mit jemandem zusammen auf irgend einem Pferdewagen. Ein Fremder, der alleine unterwegs war, konnte schnell verhaftet werden und ein Verhör bei der einheimischen Polizei wollte Stepan auf keinen Fall.

In der Vergangenheit war Stepan Trainer einer Fußballjugendmannschaft. Seit einem Jahr arbeitete er für die Bezirksmiliz, deshalb wusste er, was ihn erwarten konnte. Tagsüber fühlte sich Stepan wesentlich sicherer im Wald. Er konnte sich dort unter den Bäumen oder in Sträuchern hinter Zweigen und Blättern verstecken. Zu trinken gab es Wasser aus einem Bach oder aus kleinen Flüssen. Essen zu finden war ein wenig schwieriger. Aber auch hier hatte der Monat September reichlich für den Wanderer gesorgt. Manche Felder waren noch nicht abgeerntet oder es gab noch Erntereste zu finden. Für eine Person reichte es allemal. Manchmal konnte Stepan etwas eintauschen gegen Brot und andere Lebensmittel. Das Geld war schon längst ausgegeben.

Einmal im Feld sah Stepan etwas besonders Schreckliches. Es war der Rest eines kleinen Zigeunerlagers, das von deutschen Panzern überrollt und vernichtet worden war. Als er die Reste der Zigeunerwagen untersuchte, fand Stepan darin noch Lebensmittel. Die Toten hatten auch noch etwas Geld in den Taschen. Sein Gewissen erlaubte es ihm aber nicht, den Leichen Geld und Lebensmittel einfach so wegzunehmen. Als er eine Schaufel gefunden hatte, begrub er als Gegenleistung die Körper. Die meisten von Ihnen waren Kinder.

Als Nina Stepans Geschichte hörte, sagte sie ihm: „Ja, Stepan. Bei uns hier haben Juden und Zigeuner, egal ob sesshaft oder nomadisch, alle Rechte verloren. Oft werden sie selbst von Nachbarn verraten. Sara Gotlieb, die Frau deines Kollegen, hat zwei Deutsche erschossen und sich selbst getötet. Danach wurden alle Kommunisten, Juden und Zigeuner, die an dem Tag festgenommen wurden, am Stadtrand hingerichtet.“

Ljuba hörte ihrem Vater nicht wirklich zu. Immer wieder suchte sie die Möglichkeit, ihm über ihre eigenen Erfahrungen zu berichten: „Vater, und bei uns hier...“ Aber die Mutter unterbrach sie sofort: „Was ist denn? Hör mal dem Vater zu! Du darfst erst danach etwas sagen!“ Und so lief es ein paar Mal.

Als Stepan zu Ende gesprochen hatte, erzählte Nina ihm von den Veränderungen in der Stadt: „Wir haben hier eine neue Verwaltung. Die Stadtadministration besteht aus dem deutschen Kommandanten und einem Bürgermeister. Ukrainische Nationalisten, die in den Untergrund gegangen waren, begrüßten in der Stadtmitte die Deutschen mit Blumen. Heute arbeiten sie mit den Okkupanten zusammen. Aber man sieht schon, auch wenn sie jetzt noch gemeinsame Ziele haben, später werden sie unterschiedliche Wege gehen. Ihre Interessen sind einfach zu verschieden.“

Nina machte eine kurze Pause und sprach dann weiter: „Deine Stelle bei der Miliz bekam ein Nationalist, der ein Anhänger von Bandera ist. Er fragte mich sehr oft nach dir, und dass ich dir sagen soll, dass du dich bei ihm melden musst, wenn du zu Hause bist. Ich glaube, wir sollten nicht in der Stadt bleiben. Wer weiß, hier ist alles ungewiss!“

Stepan nickte. Danach blickte er Ljuba an. Seine Sorgen wollte er sich aber nicht anmerken lassen. Darum fragte er sie mit einem freundlichen Lächeln: „Na, was willst du mir Neues erzählen?“

„Das neue Schuljahr hat begonnen und die Kinder gehen wieder zur Grundschule. Mama arbeitet dort. Aus Polen kam ein Pfarrer, der die Kirche wieder eröffnet hat, aber da gehen nur alte Leute hin. Im Kino zeigen sie deutsche Filme, aber die Eintrittskarten sind viel zu teuer. Zum größten Teil gehen darum nur Deutsche hin. Ach ja, es wurde auch ein Puff für Deutsche eröffnet. Hundert hübsche Frauen haben sie eingeladen, die Leute sagen, dass mehr als dreihundert kamen.“

Der ehemalige Milizionär pfiff: „Oh, dass wundert mich nicht!“, und lächelte ironisch, „Schöne Weiber gab es bei uns schon immer!“

„Ja, noch was. Sie bieten Jugendlichen an, nach Deutschland zu gehen, um zu arbeiten. Dort kann man Geld verdienen und Karriere machen. Vater, kann ich in Deutschland studieren?“

„An der Hochschule? Was möchtest du werden?“

„Dolmetscherin. Ich denke, das ist heute wichtig. Oder Deutschlehrerin, um in der Schule zu unterrichten.“

„Gehst du zur Schule?“

„Im Moment ist die Schule noch zu. Sie ist jetzt ein Hospital. Ich spüle Geschirr dort.“

So verging eine Woche. Das Leben in der Stadt wurde immer schlechter. Stepan bekam seine Stelle nicht zurück. Die Anonymität der Stadt machte Nina immer ängstlicher. Die Nachbarn misstrauten und verdächtigten alle und jeden. Das ließ Furcht entstehen und Ungewissheit dem Nächsten gegenüber. Hinzu kam, dass sich die Strafaktionen der Deutschen und der Miliz mehrten.

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