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Kapitel 4 Tagebuch

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Ljuba wusste, dass sie mit niemandem über ihr Erlebnis sprechen durfte. Darum entschied sie, ein Tagebuch zu schreiben. Nur dem Papier konnte sie ihre Gefühle anvertrauen.

Ljuba fand ein altes leeres Heft und beschloss, darin ihre geheimsten Gedanken aufzuschreiben.

Ein gutes Tagebuch braucht einen guten Anfang. Darum begann Ljuba auf der ersten Seite mit einem Tribut an die Poesie, die sie in der Schule so liebte. Ljuba schrieb:

Betrachtungen der Poesie

Poesie als Abenteuer der Zeit,

Poesie als Duft der Generationen.

Poesie als Echo der Einsamkeit,

Poesie als Farbe der Stimmung,

Poesie als Gesprächspartnerin.

Poesie als Lied des Gefühls,

Poesie als Lächeln der Gedanken,

Poesie als photographisches Bild.

Poesie als Sinn des Lebens,

Poesie als Abbild der Gesellschaft,

Poesie als Vergnügen.

Meine Poesie ist die Stimme der Liebe.

Sie lächelte zufrieden und blätterte eine Seite weiter.

Donnerstag, 9. Oktober 1941.

Ich liebe ihn! Schade, dass ich es keinem sagen kann. Es muss mein Geheimnis bleiben. Ich will leben und möchte glücklich sein.

Ich weine, weil er heute nicht in der Kommandantur war. Warum bloß? Sonst haben wir uns doch jeden Tag dort getroffen... Was ist mit dir passiert, mein Liebster? Ich kann niemanden fragen...

Meine Tränen, mein Schmerz... Wo bist du? Nun... Ich weiß ja noch nicht einmal, wie du heißt. Morgen, wenn ich dich sehe, werde ich dich auf Deutsch fragen: „Wie heißen Sie?“ Und, endlich, werde ich deinen Namen erfahren!

Ein wenig besorgt bin ich schon. Gestern, als wir einander nah waren, (aber sind wir uns wirklich einander so nah gekommen?) sagte ich: „Ich heiße Ljuba.“

Aber als Antwort kam nur „Ljuba?“ Und... dabei hat er gelacht. In diesem Lachen war etwas... nichts Gutes... Warum nur? Vielleicht bedeutete das etwas Schlimmes auf Deutsch? Warum sagt er mir seinen Namen nicht?

Es ist schade. In der Schule habe ich gut Deutsch gelernt, kann aber zu wenig sprechen. Ist dieses Problem dadurch entstanden? Auch meine Lehrbücher musste ich in der Stadt zurücklassen... wo kann ich hier nur welche her bekommen? Und wie sagt man auf Deutsch „Ich liebe Sie!“?

Oma spricht schon seit zwei Tagen im Fieber. Gestern Abend drückte sie mir eine kleine Ikone als Anhänger mit Kette in die Hand und sagte mir leise: „Ljubchen, das ist der heilige Nikolai. Er wird dich immer beschützen.“ Warum nur beschützt er sie nicht? Mama weicht gar nicht mehr von ihrem Bett... Vater kommt nur noch zum Schlafen nach Hause. Täglich ist er auf der Suche nach Partisanen. Er kommt heim, isst, trinkt ein paar Gläschen Wodka und schläft ein.

Freitag, den 10. Oktober 1941.

Ein schrecklicher Tag! Ich zittere immer noch von diesem Erlebnis... Oma ist heute morgen gestorben... Um Gotteswillen! Ich weine, Mama zittert auch am ganzen Leib... Es ist so traurig! Frauen sind gekommen, um uns zu helfen... Am Abend musste ich putzen gehen. Ich dachte, dass ich es ganz schnell hin und wieder zurück schaffen würde... Und dort... ein Nachbarsjunge, Adrian hieß er, lag in einer Blutlache. Er war tot. Ich dachte nur bei mir, dass man ihn doch von dort wegbringen und den Boden säubern sollte... O Gott! Schließlich kamen Männer und der Junge wurde weggetragen. Ich schwitzte Blut und Wasser... aber mir wurde befohlen den Boden zu wischen... das war alles so unwirklich, ich kann mich sogar nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.

Dann kam er... und bemerkte mich gar nicht, ging einfach an mir vorbei... Ich konnte nichts sagen, meine Zunge bewegte sich nicht mehr... Vielleicht hat er mich gar nicht erkannt, so, wie ich ausgesehen haben muss?

Samstag, den 11. Oktober 1941.

Die Trauer meiner Verse

Es ist an der Zeit, die Ruhe einzufordern,

die das Leben meiner Verse erstickte.

Sie litten an einer geheimnisvollen Trauer

dem Martyrium ihrer sterblichen Hülle.

Die Sonette und Gedichte, die ich schrieb,

trugen die Trauerkleidung ihrer Melancholie,

ewiges und graues Leben ohne Rausch

unter dem Grabstein ihrer letzten Tage.

* * *

Heute wurde Oma auf dem Friedhof beerdigt. Es war herbstlich und nass, als ob der Himmel wegen Petrowna geweint hat. Sie muss jetzt nicht mehr leiden, alles ist Vergangenheit. So wünsche ich es auch mir im Alter, unbedingt im Herbst, wenn die Natur selbst zu sterben scheint.

Und was danach passierte, ist noch schwerer zu schreiben.

Die Deutschen haben einen ihrer Kameraden beerdigt. Plötzlich rannte Adrians Mutter mit der Heugabel in der Hand direkt auf die Deutschen los. Alle standen wie gelähmt vor Schreck! Und dann habe ich ihn gesehen!

Er nahm die Pistole, er zielte, er hat Iljinitschna erschossen.

Werde ich das irgendwann vergessen können?

Ich will leben.

Lieben, glauben und hoffen...

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