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Kapitel 1 Kindheit

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Nach dem nächtlichen Gewitter war der Sonntagmorgen besonders feierlich. Die Herbstsonne schien hell und die Pfützen, die sich in den Löchern der unbefestigten Straße gebildet hatten, reflektierten ihre Strahlen. Ein Mädchen, ungefähr drei Jahre alt, ging vorsichtig um die Pfützen herum, um seine Schuhe sauber zu halten. Es trug einen roten Mantel und auf dem Kopf saß eine gestrickte Mütze in Form eines Baretts.

Neben dem Mädchen ging eine Frau im grauen Mantel und mit einem Kopftuch aus Wolle. Sie mochte Mitte vierzig sein und grüßte freundlich jeden Menschen, an dem sie vorbeigingen. Scheinbar gab es im Dorf niemanden, den Agafia Petrowna nicht kannte. Sie kamen langsam, ohne Eile, zu der Kirche aus weißem Stein, geschmückt mit goldenen zwiebelförmigen Türmen. Die Glocken läuteten. Sie riefen die Gläubigen zum Gottesdienst.

Agafia Petrowna blieb vor dem Eingang der Kirche stehen und bekreuzigte sich. Das kleine Mädchen neben ihr machte ihre Bewegungen ganz genau nach. Anschließend gingen beide die Stufen hoch und betraten das Gotteshaus.

Wie zauberhaft war es in der Kirche! Besonders bewunderte das Kind die leuchtenden Kerzen und Öllampen. Große Ikonen in goldenen Rahmen glänzten wie im Sonnenschein. Das schillernde Funkeln begeisterte ihre Seele! Die kleine Nase sog den Geruch von Weihrauch ein und die Psalmen umschmeichelten ihre Ohren.

Sie lauschte den Gebeten, während sie auf der Bank an der Wand saß und dabei mit besonderem Vergnügen die Süßigkeiten kaute, die sie von den neben ihr sitzenden alten Frauen bekam. So wie es in der orthodoxen Kirche üblich ist, dauerte der Gottesdienst drei Stunden. Natürlich war das dem kleinen Ljubchen zu viel, so lange konnte sie nicht stehen. Darum hatte sie sich ziemlich schnell einen freien Platz zwischen alten Menschen und schwangeren Frauen gesucht, für die die Bänke in der Kirche aufgestellt waren. Diese Bilder blieben ihr das ganze Leben lang in Erinnerung.

Als die dreißiger Jahre kamen, zog Ljuba zusammen mit ihren Eltern aus dem Dorf in die Nachbarstadt. Dort wurde sie auch eingeschult. Im September 1939 marschierte die Rote Armee ein und befreite den westlichen Teil der Ukraine von den polnischen Imperialisten. Direkt danach wurde eine sowjetische Regierung eingesetzt.

Ljuba war inzwischen 14 Jahre alt und in der Schule wurde ihr gesagt, dass die Religion „Opium für das Volk“ sei. Die Menschen müssten ihr Leben selbst in die Hand nehmen und nicht auf Gott und den Himmel hoffen.

Voller Überzeugung band Ljuba stolz ihr rotes Halstuch um – ihren Teil der roten Fahne. Sie trug ihr Pionierhalstuch überall, auch außerhalb der Schule vertrat sie ihre Meinung über die siegreiche Zukunft des Kommunismus. Sogar als sie in den Sommerferien zu ihrer Großmutter fuhr, wurde dieser Talisman, ihr rotes Halstuch, unter den Spitzenkragen des Sommerkleides gebunden.

„Gott sei Dank, dass du da bist!“, freute sich ihre Großmutter, als sie ankam, „Wie war es unterwegs, Ljubchen?“

„Gut, Oma! Aber wegen Gott“, Ljuba überlegte einen Augenblick, „dem brauchst du nicht zu danken. Es gibt keinen Gott! Das habe ich in der Schule gelernt. Du solltest doch wissen, dass der Mensch vom Affen abstammt. Man muss an sich selbst glauben“, Ljuba holte Luft, „und natürlich an Genosse Stalin! Ich bin Pionier und morgen am Sonntag gehe ich nicht mit dir in die Kirche. Das ist nichts für mich.“

Die Großmutter schaute auf Ljubas rotes Halstuch und schüttelte betrübt ihren Kopf. „Oh, Ljubchen, wir haben keine Kirche mehr“, Oma Petrowna sprach leise und zeigte mit ihrer Hand zur Seite, „schau mal, da!“ Ljuba blickte in Richtung der Kirche, konnte aber am Gebäude nichts Besonderes erkennen.

Erst später sah sie, dass kein Kreuz auf dem Turm war. Das überraschte Ljuba.

„Wir haben keine Kirche mehr, heute ist dort die Mühle.“ Die betagte Frau sprach jetzt noch leiser und mit dem Blick auf das Gotteshaus. Dann sah Ljuba, dass am Eingang der Kirche viele Säcke mit Korn aufgestapelt waren. Das Mädchen war neugierig geworden und lief schnell die Stufen zur geöffneten Tür hoch. Aus der früheren Kirche war die ganze Einrichtung bereits weggeräumt. Nur undeutlich konnte man durch den Mehlstaub noch an den Wänden die Gemälde der Heiligen erkennen. Ljuba wollte zur Ecke gehen, wo früher ihre Bank gestanden hatte.

„Na, du Pionier, was machst du hier? Besuchst du deine Oma?“, fragte ein großer Mann mit Akne im Gesicht.

Er sprach sie so überraschend an, dass Ljuba zur Wand zurückwich. Mit ihrem Fuß trat sie auf ein kleines Stück Leinwand, das von einer zerstörten Ikone auf dem Fußboden liegen geblieben war. Verängstigt durch das plötzliche Erscheinen des fremden Mannes hob sie den Fetzen schnell auf und sprang flink durch die geöffnete Tür hinaus.

Oma Petrowna sagte, dass der Mann Onkel Bogdan, der Kolchosvorsitzende sei und sie keine Angst vor ihm zu haben brauche. Er wäre gut und hilfsbereit. Onkel Bogdan versuche sogar den Leuten aus der Stadt zu erklären, dass man die Ikonen in Museen noch benötigen würde. Aber nein, alles wurde ins große Feuer geworfen. Und den Priester, Pater Dimitrij, den haben sie hinter dem Zaun zum Kirchhof erschossen.

Ljuba wischte den Staub von der Leinwand. Auf dem Fragment sah sie in die großen, unvergesslichen Augen eines Mädchens. „Die heilige Vera!“, flüsterte Ljuba. Es war ein Stück von ihrer Lieblingsikone, auf der die drei heiligen Mädchen dargestellt waren:

Vera, Nadeschda und Ljubov.

Früher, als Ljuba noch sehr klein war, war sie sehr stolz darauf, dass es auf dieser Ikone drei schöne Mädchen gab, aber das schönste von ihnen war das jüngste: Ljubov.

Den vollen Namen konnte Ljuba damals noch nicht aussprechen, darum zeigte sie mit ihrem Fingerchen darauf und sprach: „Ljuba... Ich bin auch Ljuba!“

Nun hielt sie den Rest mit der Abbildung von Vera in den Händen. Vera, das bedeutet Glauben.

Ljuba fragte sich, ob sie wirklich an sich selbst glauben würde. Sie war doch Pionier, oder glaubte sie tief im Innern doch an Gott? Ihre Gefühle waren zwiespältig und insgeheim spürte sie, dass der Allmächtige das Dorf für die entweihte Kirche bestrafen würde.


Lieben, glauben und hoffen...

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