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Kapitel 4: Mama hat frei

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Der richtige Mann. Ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass es den einen gibt, den Deckel zum Topf – den Topf zum Deckel. Wo er war, war mir gleich, Entfernung schockte mich nicht. Meinetwegen konnte er in Timbuktu leben, Hauptsache Seelenpartner. Patchwork hingegen war nicht mein Ding. Ich fand es anstrengend und nicht fair den Kindern gegenüber. Ich wollte keinen, der bei mir auf dem Sofa saß und kluge Tipps in Sachen Kindererziehung gab. Ich wollte den aktiven Weltenbummler, der mich spontan einlud zu einem Barcelona- oder Paris-Trip, den mal man in dieser und mal in jener Stadt traf, aber ganz sicher nicht permanent in Wohlen, meiner Kleinstadt in der Schweiz.

Nur wo war dieser Mann? Seit Jahren suchte ich bei Elite, E-Darling, Parship und Tinder. Ich ging zu wenig aus, um ihn bei Partys oder Clubs zu treffen. Es gab solche Typen, aber die waren schnell wieder weg, wenn sie merkten, dass ich wegen der Kinder und vor allem wegen des Ex-Mannes, der sie nie nahm, vollkommen unflexibel war. Und es gab jede Menge anderer Männer vom Typ Couch-Potato, die mich nach drei Monaten fragten, ob sie nicht bei mir einziehen könnten, ob man nicht gemeinsam mit allen Kindern was unternehmen wolle … Das war gar nicht mein Ding. Also wurde mein wichtiges Kriterium für einen Partner: Kinder ja, aber bitte nur erwachsene …

Im Sommer 2019 war ich mir sicher, ich hätte ihn gefunden. Nicht bei Tinder, Parship oder Elite, nicht über Speed-Dating oder eine der sonstigen Singlebörsen, sondern im Zug, im Zug von Dortmund nach Bremen. Dortmund ist meine zweite Heimat – oder meine erste. Dortmund, das ist mein BVB. Ich bin Fußball-besessen, brauche unseren Tempel – unser Stadium. Nicht sehr weiblich? Macht nichts, nur hier spüre ich alle Facetten von Emotionen: Leidenschaft, Trauer, Wut, bodenlose Freude. Hier unter Gleichgesinnten fühlte ich mich einfach pudelwohl.

Also war ich Anfang August 2019 unterwegs vom Supercup – gewonnen gegen die Bayern – nach Hamburg zu einem Geschäftstermin, mit dem Zug und allein, zwei Kids beim Vater, eins in der Schweiz. Euphorisch ohne Stimme (die war im Stadion geblieben) fuhr ich mit dem ICE Richtung Hamburg und freute mich auf mein traumhaftes Hotel an der Elbe. Ich hatte nach langer Zeit mal wieder frei, nicht frei von meinem Job als Juristin, frei als Mama, und ich hatte mir fest vorgenommen, die zwei Tage in Hamburg so richtig zu genießen. Die Zugfahrt war wie immer. Klimaanlage ausgefallen, fehlende Waggons, keine Platzreservierung mehr, alles überfüllt. Ich ging in den Speisewagen, um dort eine Cola zu trinken. Glück gehabt, noch ein freier Platz. Am Tisch nur ein schmächtiger Norddeutscher, der dort sein Bier trank. Jedenfalls dachte ich, dass er norddeutsch war – irgendwie sah er so aus. In keinem Fall Borusse und wahrscheinlich auch kein Fußballfan, zu intellektuell, aber attraktiv. Ich musterte ihn einmal kurz und vertiefte mich dann in die Nachberichterstattung zum Supercup auf meinem Handy, bis er mich ansprach: »Ich glaube, Sie brauchen eine Brille.«

»Da haben Sie recht«, erwiderte ich auf das aufmerksame Statement meines Gegenübers. Interessanter Typ, dachte ich dabei. Er trug selbst eine echt schöne Brille. Bei mir war das Problem, dass mein Kopf seit meiner Geburt wohl nicht mehr gewachsen war, jedenfalls passte mir kein Brillengestell, der Augenabstand war zu eng, das Gesicht zu schmal. Meine Besuche beim Optiker endeten immer mit rosa Vorschulkinderbrillen. Ein Albtraum! Irgendwann hatte ich also das Thema Lesebrille aufgegeben, so mit vierzig, als es eigentlich dringend notwendig wurde. Ich sah scheußlich aus mit Brille, fühlte mich unwohl. Aber dieser Mann hatte eine kleine, schmale Lesebrille.

»Wollen Sie meine mal probieren?«, holte er mich aus meinen Gedanken.

»Super gerne, vielen Dank«, stammelte ich und wurde rot. Erst da fiel mir auf, wie wenig attraktiv ich aussehen musste. Bunte Schlabberhose, weiße zerknautschte Bluse und um den Hals noch ein dünner, zerknautschter BVB-Tuchschal. Nur zwei bis drei Stunden Schlaf und wenig Make-up – insgesamt also ein gruseliges Auftreten. Während ich so darüber nachdachte, dass ich gerade heute deutlich mehr Wert auf mein Aussehen hätte legen sollen, hielt er mir schon die Brille hin.

»Hier, versuchen Sie mal.«

Ich nahm sie und machte sofort ein Selfie von mir.

»Großartig, wirklich großartig steht sie Ihnen. Und die Dinger sind ganz easy online zu bestellen -– in 20 Farben für 35 Euro das Stück«, sagte meine Zugbekanntschaft. Während er, der sich mittlerweile als Jo Hantke bei mir vorgestellt hatte, nach der Bestellseite im Internet suchte, versandte ich mein Selfie in meine Familien-WhatsApp-Gruppe. Text: Guckt mal, was für eine schöne Brille, die mir ein schöner Mann geliehen hat.

Wir hatten viel Spaß. Ich stellte fest, Jo war kein Norddeutscher, sondern kam aus Neuss, wo er gerade seine Nichten besucht hatte. Er verstand sogar etwas von Fußball, wenn sein Verein auch nicht meiner war, sondern die Bremer Fischköpfe. Dort, in Bremen, lebt er derzeit und arbeitet als eine Art Coach für Optimierungsprozesse in einem Speditionsunternehmen. Dadurch war er natürlich immer auf Achse. Das gefiel mir – Jo gefiel mir. Wir tauschten Nummern aus, und kurz bevor er in Bremen ausstieg, sagte er: »Wenn ich nicht in zwei Stunden Übernachtungsbesuch von einem alten Freund aus Norwegen und seiner Familie erwarten würde, würde ich mit dir durchfahren nach Hamburg.« Schon waren wir beim Du gelandet. Am Bremer Hauptbahnhof winkte er noch kurz und war verschwunden.

Was für ein Mann – und endlich mal keine Retorte aus dem Internet, dachte ich bei mir.

In Hamburg angekommen, traf ich Merle, meine Nichte, und ihre Freundin Lilly. Lustig war es mit den beiden beim Fischessen an der Elbe und in ihrer gemeinsamen Wohnung. Ich lernte Lilly an dem Tag erst kennen, überhaupt die erste feste Freundin meiner Nichte, und es war spannend, was die beiden mir über ihren Alltag berichteten. Meine Jakob-Sorgen konnte ich bei Tee und veganen Plätzchen vollkommen vergessen. Allerdings ging mir immer wieder die Zugfahrt durch den Kopf. Ein Teil meiner Gedanken war irgendwie in Bremen hängengeblieben – bei Jo. Was der jetzt wohl machte?

Piep. Genau als ich mir diese Frage stellte, ging eine WhatsApp von ihm ein. Könnte heute Abend noch vorbeikommen, wenn es passt, hab morgen früh sowieso einen Termin in Hamburg, las ich. Wenn es passt? Megaspontan der Typ, und offensichtlich genauso interessiert an mir, wie ich an ihm, denn die Nachricht war ja eindeutig, er wollte bei mir in Hamburg übernachten.

Ich freue mich, tippte ich, verabschiedete mich unhöflich schnell von den Mädels und stylte mich im Hotel auf. Wirklich schicke Sachen hatte ich nicht dabei, aber alles besser als mein Outfit von heute Mittag. Ich entschied mich für die blaue Stoffhose mit hellblau geblümter Bluse – die hatte so einen schönen verwegenen Ausschnitt, wie ich fand.

Punkt 22:30 Uhr fuhr er vor dem Hotel vor. Aufgeregt wie ein Kind zeigte ich ihm einen Parkplatz. So ganz wussten wir dann nicht, was wir sagen sollten, als wir wieder voreinander standen, aber wir machten uns einfach auf den Weg, immer entlang am Containerhafen. Die Restaurants waren zu, die einzigen Kneipen, auf die wir stießen, hatten private Feiern und wiesen uns ab. Aber das war egal, es war immer noch ein lauer Sommerabend, und wir liefen einfach durch den Hafen. Jo fragte viel, er war wirklich interessiert an mir und meinem Leben. Während wir damit nahtlos unser Gespräch aus dem Zug fortsetzten, stellte ich fest, er hatte keine Kinder, aber zwei Nichten als Ersatz. Ich berichtete ihm von meinem Nachwuchs, insbesondere von dem Großen, und er war geschockt, die typische Reaktion. Wenn man nicht mittendrin lebt in dieser Familie, ist das Ganze schwer vorstellbar, vor allem für Kinderlose, so meine Erfahrung. Aber irgendwann hörte die Kinderthemen auf und wir sprachen über uns. Wie gut wir uns gefühlt hatten in der Bahn, dass man dem Ganzen vielleicht eine kleine Chance geben sollte. Und dann zog Jo mich gegen Mitternacht einfach zu sich, während er lässig am Hafengeländer stand. Er schaute mir tief in die Augen, hielt mich ganz fest … und dann küsste er mich. Es war ein sanfter Kuss, kein fordernder, aber ganz intensiv.

Ich lehnte mich an ihn, genoss den Geruch seines Aftershaves und war glücklich. Das erste Mal seit langer Zeit. Wir standen dort eine ganze Weile schweigsam und aneinandergeschmiegt. Die Wellen plätscherten an die Betonwände des Hafens, und ansonsten war es so still, dass wir den Herzschlag des anderen hörten. Es war einer dieser Momente, in denen die Zeit stehen bleibt. Glücklich – einfach nur glücklich fühlte ich mich.

Gegen Mitternacht schaute Jo mich an und sagte »Hej Kleine, du fröstelst ja.« Er hatte recht, ich hatte es gar nicht gemerkt, aber eine Gänsehaut zog sich über meine nackten Unterarme.

»Zeit, zurückzugehen«, grinste ich ihn an, und wir zogen los zu meinem Hotel Am Hafen.

»Jo, du musst schnell im Aufzug verschwinden, damit die Rezeptionistin dich nicht sieht. Die Firma hat ein Einzelzimmer gebucht«, flüsterte ich ihm in der Drehtür noch zu.

»Aye, aye, Sir«, murmelte er und sprintete Richtung Fahrstuhl. Ich folgte ihm in gemütlichem Schritt. Glück gehabt, keiner hatte ihn gesehen, keine Erklärungen waren notwendig. Im vierten Stock angekommen, Zimmer 431, öffnete ich die Tür, und von da an brauchte es keine zehn Sekunden, da lagen wir eingekuschelt auf dem Bett.

»Darf ich?«, fragte er und knöpfte, ohne wirklich die Antwort abzuwarten, meine blaugeblümte Bluse auf.

»Na dann, ich aber auch«, grinste ich verschämt und zog ihm seinen blauen Kaschmirpulli über den Kopf. So ging es dann weiter, Kleidungsstück für Kleidungsstück zogen wir uns langsam und genüsslich aus, bis wir gut zehn Minuten später nackt nebeneinanderlagen. Jo streichelte mich vom Nacken über die Brüste bis zum Bauchnabel, ich stöhnte voller Wonne.

Irgendwann wurde auch ich mutiger und berührte ihn, seine glatte Brust und dann seine ganze Männlichkeit. Jo stöhnte auf, und wir erforschten uns immer intensiver. Aber es blieb bei Zärtlichkeiten, kein Miteinanderschlafen. Zum einen hatte keiner von uns Kondome, zum anderen war es unausgesprochen zwischen uns klar, dass wir uns diesen Moment noch aufbewahren wollten. Es erschien uns zu kostbar, diese gerade entstandene Intimität durch zu schnellen Sex zu zerstören. Und es war genauso, wie es war, perfekt. Wir waren aufgeregt, glücklich und von einer wunderbaren Nähe zu einander erfüllt.

Nach gut zwei Stunden Schlaf klingelte um sieben Uhr der Handywecker. Gut, dass Jo daran gedachte hatte, ihn zu stellen, beide hatten wir um 8:30 Uhr den ersten Termin in Hamburg. Meiner war eine Besprechung in unsere Hauptniederlassung nur 500 Meter vom Hotel am Hafen entfernt. Jo musste nach Altona zu einem Coaching. Und so gab es keine lange Abschiedszeremonie. Wir duschten, zogen uns unsere Businessklamotten an – er im dunkelgrauen Anzug, ich im blauen Kostüm – und verließen nacheinander (wir erinnern uns an die Rezeptionistin) das Hotel. Vor der Tür küssten wir uns, und dann hechtete der Mann meiner schlaflosen Nacht auch schon zu seinem Auto.

Wow, dachte ich und musste mich erst mal an der Wand des kleinen Restaurants gegenüber vom Hotel anlehnen, was war das denn gewesen?

Egal, was es war, es war gut. Ich fühlte mich lebendig, ohne Sorgen und voller Energie für meinen Tag und meine jetzt anstehenden Sitzungen. Wir hatten nicht vereinbart, ob und wann wir uns wiedersehen würden, aber ich war mir sicher, wir würden. Es war mehr als ein One-Night-Stand gewesen, es musste mehr gewesen sein. Und als ich zehn Minuten später die erste WhatsApp erhielt – Meine Süße, danke für alles, freu mich, dich bald wiederzusehen –, wusste ich, ich sollte recht behalten.

Schlimmer geht immer

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