Читать книгу Mit Herz und Recht - Natalie Weckwarth - Страница 11
§ 1
ОглавлениеDas Hähnchen-Piccata schmeckt köstlich. Wenigstens auf Bens Kochkünste ist Verlass, wenn man schon nicht mehr darauf bauen kann, dass gute Arbeit belohnt wird. Seit den schockierenden Neuigkeiten am Nachmittag bin ich hin- und hergerissen zwischen meinen Hassgedanken gegenüber meines Vorgesetzten und seiner rechten Hand und einem gewissen Trotzgefühl, hervorgerufen durch mein Vorhaben, mich nicht kleinkriegen zu lassen. Immerhin ist es mir bis jetzt erfolgreich gelungen, meine Freunde nicht damit zu behelligen. Irgendetwas sagt mir, dass sie nicht allzu viel Verständnis für meine derzeitige Lage aufbringen würden. Überhaupt ist die Stimmung bei Weitem nicht so unbeschwert, wie ich es von unseren Treffen gewohnt bin. Luna und Matthias haben bisher kaum ein Wort miteinander gewechselt, was vermuten lässt, dass sie vor ihrer Ankunft eine kleine (oder auch größere) Auseinandersetzung hatten. Ben ist ebenfalls ungewöhnlich still, und ich muss mich bemühen, mich auf das eher schwerfällige Gespräch zu konzentrieren. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und vertreibe die düsteren Gedankenwolken aus meinem Kopf.
„Das Essen ist echt super.“ Fröhlich strahle ich Ben an. „Ich schätze, du hast das Zeug zum neuen Tim Mälzer.“
„Meinst du?“, fragt er skeptisch. „So wie du das arme Hähnchen malträtierst, sieht es nämlich nicht so aus, als hättest du große Freude daran.“
Ich mustere meinen Teller. Tatsächlich habe ich ein ziemliches Gemetzel veranstaltet. Vor lauter Grübelei über den zurückliegenden Arbeitstag habe ich mehr Zeit damit verbracht, Gebrauch von meinem Besteck zu machen, als Essen in meinen Magen zu befördern.
„Doch, doch, es ist fantastisch“, versichere ich ihm. „Ich bin nur … ich war bloß etwas in Gedanken.“
„Was du nicht sagst.“
„Was ist denn los?“, erkundigt sich Luna mit halbherzigem Interesse.
„Nichts. Überhaupt nichts“, schwindele ich.
Ben verdreht stöhnend die Augen. „Wenn eine Frau sagt, es ist nichts, dann ist definitiv was.“
„Quatsch“, behaupte ich unwirsch. Matthias gibt ein unterdrücktes Schnauben von sich.
„Was hat er diesmal angestellt?“, fragt Ben gedehnt.
„Wen meinst du?“, gebe ich mich begriffsstutzig.
„Wen soll ich schon meinen? Diesen Süßherr.“
„Süßkind“, korrigiere ich ihn.
„Wie auch immer.“
Kurz hadere ich mit mir. Einerseits würde ich mir meinen Frust gern von der Seele reden, andererseits möchte ich nicht wieder egozentrisch wirken und den anderen mit meinen Problemen auf die Nerven fallen.
„Ach, ist doch egal“, behaupte ich deshalb.
„Jetzt erzähl schon“, fordert Ben mich seufzend auf. „Das Massaker, das du da vor lauter schlechter Laune veranstaltet hast, ist ja nicht mit anzusehen.“ Erneut nickt er in Richtung des inzwischen wenig appetitlichen Anblick meines Essens.
„Okay“, gebe ich mich geschlagen. In gekürzter Fassung berichte ich ihnen von den Vorkommnissen am Nachmittag. „Im Grunde also nichts Neues“, ende ich. „Er plant die feindliche Übernahme, und sich Mandate unter den Nagel zu reißen, die eigentlich für mich bestimmt sind, ist nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel.“
„Darf er das denn überhaupt?“, will Luna wissen. „Dir deine Mandate wegnehmen, meine ich.“
„Er nimmt sie mir ja nicht direkt weg. Ich soll bloß keine neuen mehr annehmen. Dagegen kann ich nichts machen. Zumal ich im Moment wirklich kaum Zeit für sehr viel mehr Fälle hätte. Das haben sie schon geschickt angeleiert, die zwei.“
„Trotzdem. Ich finde, das grenzt an Mobbing. Die wollen dich doch mürbe machen, damit du von selbst den Platz räumst“, sagt Ben mit düsterem Blick. Seine Sorge, ich könne in der Kanzlei tyrannisiert werden, rührt mich.
„Das sollen sie mal versuchen. So schnell kriegen sie mich nicht weich. Außerdem wären sie schön dumm, wenn sie mich mit schmutzigen Tricks loswerden wollten. Yildiz' Spezialgebiet ist Arbeitsrecht. Die würde die beiden zur Not bis zum Bundesarbeitsgericht zerren.“
„Gut zu wissen. Hauptsache, du lässt dich nicht unterkriegen.“ Gottlob löst sein weiches Lächeln diesmal keine verstörenden Gedanken oder merkwürdigen Körperreaktionen bei mir aus. Auch bei unserem Kinobesuch letzte Woche hatte ich zum Glück keinerlei Bedürfnisse, in der Dunkelheit des Kinosaals über ihn herzufallen und mit ihm in wildes Knutschen zu verfallen. Mein Herzklopfen bei seiner Berührung neulich auf dem Nachhauseweg war also wirklich nur dem leicht übermäßigen Alkoholgenuss zuzuschreiben.
„Ich doch nicht! Aber jetzt erzähl du mal“, bitte ich, weil ich das Gespräch endlich auf etwas Erfreuliches lenken möchte. „Was gibt es Neues in Sachen Restaurant?“
Ben lacht verlegen. „Tja, um ehrlich zu sein, hatte ich euch deshalb eingeladen. Ich wollte mit euch anstoßen. Heute Mittag habe ich den Mietvertrag unterschrieben!“
Unwillkürlich stoße ich einen kleinen Freudenschrei aus. Luna entfährt ein ungläubiges „Echt jetzt?“. Nur Matthias beschränkt sich darauf, verblüfft die Augenbrauen hochzuziehen.
Ben grinst schief. „Ich kann es auch noch nicht ganz fassen. Aber ich hab's wirklich getan. Bald heißt es Mensa ade. Die richtige Küche hat mich wieder.“
„Herzlichen Glückwunsch!“, jubele ich und umarme ihn.
„Von mir auch!“, strahlt Luna. „Wo ist es denn? Und, viel wichtiger, wann ist die Eröffnung?“
„Immer mit der Ruhe“, lacht unser frischgebackener Restaurantbesitzer. „Das dauert noch. Der Laden ist ganz in der Nähe eurer Kanzlei, Stella“, erklärt er. „Unten am Markplatz. Ich hatte ein Wahnsinnsglück. Da ist vor Kurzem ein Restaurant ausgezogen, das heißt, die Küche ist schon komplett drin. Ich muss nur renovieren, mich um den Behördenkram kümmern und natürlich Leute einstellen. Einen Spitzenkoch habe ich schon. David hat mich gefragt, ob er bei mir anfangen kann!“ David ist Bens bester Freund. Die beiden haben zusammen ihre Ausbildung gemacht, doch auch er hat sich im Anschluss schwer damit getan, eine gute Anstellung zu bekommen. Von Ben weiß ich, dass er sich damit durchschlägt, in Pizzerien oder Imbissbuden zu jobben. Mit Ben zusammen in einem eigenen Lokal zu arbeiten muss die langersehnte Erlösung für ihn sein.
„Das ist toll, dann seid ihr schon zu zweit. Und der Rest findet sich bestimmt schnell“, sage ich und denke an die vielen Arbeitssuchenden in unserem Land, die für einen Kellner- oder Küchenjob sicher dankbar sind.
„Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?“, meldet sich Matthias zu Wort.
„Nein, weißt du. Das habe ich ganz spontan letzte Nacht entschieden“, erwidert Ben ironisch.
„Echt, was soll diese dämliche Frage?“, herrscht Luna ihn an.
Matthias bleibt ruhig. „Ich will nur nicht, dass du dir Illusionen machst. Es gehört mehr dazu, ein Restaurant erfolgreich zu führen, als nur ein guter Koch zu sein.“
„Tja, es gehört auch mehr dazu, ein guter Vater zu sein, als nur das Geld nach Hause zu bringen“, zischt Luna bitterböse. Einen Moment ist es totenstill am Tisch. Erschrocken sehe ich zwischen meiner Schwester und meinem Schwager hin und her. Ich habe die beiden schon oft streiten sehen, doch Lunas Bemerkung klang nicht nach einem üblichen, kleinen Ehezoff.
„Was?“, faucht Matthias.
„Vergiss es“, sagt sie und schneidet dann so energisch an ihrem Hähnchen herum, dass man meinen könnte, sie stelle sich vor, es sei Matthias' Hals.
„Also … weißt du schon, wann du eröffnen willst?“, wende ich mich betont munter an Ben. Dankbar geht er auf meinen Versuch, die Stimmung zu entgiften, ein.
„Ja, ich dachte an Anfang Mai.“
Matthias lacht auf. „Das ist aber ziemlich unrealistisch.“
„Warum?“
„Du hast uns doch gerade erklärt, wie viel Arbeit noch auf dich zukommt. Außerdem laufen gute Angestellte nicht auf der Straße herum. Es kann Ewigkeiten dauern, bis du anständige Mitarbeiter gefunden hast. Restaurants, die innerhalb weniger Wochen aus dem Boden gestampft werden, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
Mir ist klar, dass mein Schwager nur Luft ablassen muss und Ben ihm dabei unglücklicherweise in die Quere gekommen ist. Normalerweise verstehen sich die beiden prächtig, und seine Äußerungen sind sicherlich nicht böse gemeint. Trotzdem habe ich das Gefühl, meinen Freund verteidigen zu müssen.
„Ben wird schon wissen, was er tut.“
„Das glaube ich allerdings auch“, stimmt Luna zu. Zornig funkelt sie ihren Mann an. „Seit wann verstehst du überhaupt was davon, wie man ein Restaurant aufzieht?“
„Gesunder Menschenverstand, Schatz.“
„Den habe ich auch“, meint Ben. „Dafür muss man nicht studiert haben.“
„Mann, jetzt fühl dich nicht gleich angegriffen“, stöhnt Matthias. „Das sind gutgemeinte Ratschläge.“
Ben knirscht mit den Zähnen, ich kann es deutlich hören.
„Tolle Ratschläge, die einem alles madig machen“, knurrt Luna.
„Ich bin auf alles vorbereitet, keine Sorge. Für die Renovierung stelle ich Handwerker ein. Um das Geschäftliche kümmert sich mein Steuerberater. Mit dem habe ich schon gesprochen. Und für die Behördengänge habe ich ja immer noch Stella. Oder?“ Fragend sucht er meinen Blick.
„Natürlich, ich such dir gerne die entsprechenden Vorschriften raus, an die du dich halten musst. Du kannst auch jederzeit in der Kanzlei vorbeikommen. Yildiz und Robert kennen sich auf dem Gebiet besser aus als ich.“
„Danke. Seht ihr? Ich bin nicht allein.“
„Da hörst du's. Er verrennt sich nicht kopflos in irgendeine Schnapsidee“, raunzt Luna Matthias an. „Er hat einen richtigen, vernünftigen Plan.“
„Meine Güte!“, braust dieser auf. „Ich wollte bloß …“ Bevor er uns mitteilen kann, was er wollte, wird er von einem vorwurfsvollen Quäken aus Finns Maxi-Cosi unterbrochen. Bis jetzt hat mein Neffe friedlich neben dem Tisch in seinem tragbaren Sitz geschlummert. Nun scheint ihn unsere Diskussion aus dem Schlaf gerissen zu haben.
„Großartig, Matthias!“, beschwert sich Luna. Sofort springt sie auf, um zu ihrem Sohn zu eilen. „Siehst du, was du angerichtet hast?“
„Klar, ich bin ja neuerdings alles schuld!“
Hilfesuchend schaue ich zu Ben, aber er zuckt nur ratlos mit den Schultern.
„Er braucht eine neue Windel“, stellt meine Schwester fest, nachdem sie den weinerlichen Finn aus seinem Ersatzbett gehoben und an seinem Strampelanzug geschnuppert hat.
„Und? Dann mach ihm halt eine.“
„Sicher. Das ist ja meine einzige Aufgabe, stimmt's?“ Mit Finn auf dem Arm stürmt sie aus dem Raum, um die Tasche mit den Babyutensilien zu holen. Betretenes Schweigen legt sich über uns. Mein Schwager steckt sich eine übervolle Gabel mit Hähnchen und Reis in den Mund, obwohl das Essen längst kalt sein muss. Weder Ben noch ich wagen es, ihn anzusprechen.
„Wo sind denn die Windeln?“, ruft Luna verärgert aus dem Flur.
„Was weiß ich. Irgendwo in der Tasche wahrscheinlich.“
Luna kommt mit der gesamten mitgebrachten Babyausstattung zurück und knallt sie vor ihren Mann auf den Boden.
„Genau da sind sie eben nicht, sonst hätte ich ja wohl kaum gefragt. Du kannst selbst nachgucken.“
„Dann hast du sie wohl vergessen“, entgegnet er trocken.
„Ich? Du solltest sie einpacken!“
„Wie bitte?“
„Denk daran, die Windeln mitzunehmen! Das habe ich dir noch zugerufen, als ich dabei war, ihm die Jacke anzuziehen!“
Finns Wimmern ist inzwischen zu einem lautstarken Schreien angewachsen.
„Anscheinend nicht laut genug, sonst hätte ich es ja gehört.“
„Ach, Blödsinn! Du hörst nur noch, was du hören willst!“
„Jetzt bin ich wieder der Böse, oder was?!“
Die beiden brüllen sich jetzt so laut an, dass Finns Weinen darin fast untergeht.
„Ist es denn zu viel verlangt, dass du einmal …“
„HEY!“ Meine Stimme lässt die beiden schlagartig verstummen. Nur der Kleine schreit ungehindert seinen Kummer heraus. „Reißt euch mal zusammen“, maßregele ich die beiden und nehme Finn behutsam aus Lunas Armen. „Ihr macht ihm Angst!“
Das scheint sie zur Besinnung zu bringen. Luna beißt sich beschämt auf die Lippen. Auch Matthias senkt den Blick. Ben, der das Spektakel schweigend verfolgt hat, räuspert sich und steht auf. „Braucht ihr irgendwas? Soll ich euch Küchentücher oder so was geben? Die tun's vielleicht auch als Windel.“
„Nein“, sagt Luna. „Ist nett gemeint, aber ich glaube, wir gehen jetzt besser.“
„Sicher? Ich habe noch Nachtisch …“
„Lass gut sein“, winkt Matthias ab.
Durch mein sanftes Schaukeln hat Finn sein Schreien auf ein erträgliches Jammern reduziert. Vorsichtig gebe ich ihn Luna zurück, die ihn in den Maxi-Cosi verfrachtet. Matthias sammelt die unnützen, da windellosen Babysachen zusammen. Wir bringen die drei zur Wohnungstür. Die Stimmung könnte kaum gedrückter sein.
„Danke fürs Essen“, verabschiedet sich Luna knapp.
„Ja, danke“, wiederholt Matthias pflichtbewusst und wirft sich die Jacke über.
Irgendetwas in meinem Inneren hat sich schmerzhaft zusammengekrampft. Es hat nichts zu bedeuten, sage ich mir. Alle Ehepaare kriegen sich ab und zu in die Haare. Deswegen haben sie sich trotzdem gern. Dennoch drängen sich unwillkürlich die Erinnerung an meine Eltern in mein Bewusstsein, die sich einmal zu oft in die Haare gekriegt und sich dann plötzlich überhaupt nicht mehr gernhatten. Bitte! Vertragt euch wieder!, möchte ich sagen, aber natürlich halte ich mich zurück. Das müssen die zwei unter sich ausmachen.
„Ich ruf dich an“, teilt Luna mir noch rasch mit, bevor sie zusammen mit ihrer Familie im Hausflur verschwindet. Ben schließt die Tür hinter ihnen.
„Puh!“, seufzt er.
„Tut mir leid“, sage ich.
„Was?“
„Dass sie dir den Abend versaut haben.“
„Ist doch nicht deine Schuld.“
„Nein. Aber du wolltest mit uns feiern, und dann machen sie dir alles kaputt. Das ist nicht fair.“
„Was ist schon fair?“ Er zuckt mit den Achseln und schlägt den Weg zurück ins Wohnzimmer ein. Die halb geleerten Teller auf dem Tisch wirken geradezu symbolhaft für das abrupte, unschöne Ende des Abends. Genickt lasse ich mich auf meinen Platz sinken.
„Was Matthias zu dir gesagt hat …“
Ben macht eine wegwerfende Handbewegung. „Der hatte anscheinend einen echt miesen Tag. Das nehme ich mir nicht zu Herzen.“ Als er meine gekräuselte Stirn sieht, lacht er ungläubig. „Du etwa?“
„Ja. Nein. Ich weiß nicht … Wie die beiden sich angeschrien haben …“
„Die sind chronisch übermüdet. Da liegen die Nerven schnell mal blank. Die kriegen sich schon wieder ein.“
„Wahrscheinlich“, murmele ich.
Er neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich besorgt und amüsiert zugleich. „Wieso ziehst du dann so ein Gesicht?“
Ich hebe die Schultern. „Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt nur noch Hass und Streit zwischen den Menschen. Bei den Ehepaaren, die ich vertrete. Zwischen mir und diesem Blödmann in der Kanzlei. Und jetzt auch noch Luna und Matthias. Langsam verliere ich wirklich den Glauben an das Gute in der Welt.“
„Komm, hör auf. Weltschmerz steht dir nicht.“
Ich deute ein Lächeln an.
„Es gibt genügend Gutes in der Welt. Man muss nur genauer hinsehen.“
„Gehst du jetzt unter die Philosophen?“
„Erst jammern und dann frech werden. Das habe ich gern!“
„Hast ja recht“, seufze ich. „Ich war nur gerade ein bisschen enttäuscht. Der Abend hätte schöner sein können.“
„Er ist ja noch nicht vorbei.“ Vielsagend blinzelt er mich an.
Demonstrativ stehe ich auf. „Für mich schon. Ich denke, ich gehe jetzt auch.“
„Du kannst gern bleiben. Mein Bett ist groß genug.“
„Ach, Ben, was soll das immer?“ Genervt lasse ich mich zurück auf den Stuhl sacken. „Warum bist du so besessen davon, mit mir … du weißt schon.“
„Stella, ich mach doch nur Spaß“, erwidert er. Immerhin – er hat mich bei meinem Namen genannt. Das macht er normalerweise nur, wenn er für voll genommen werden will. Doch diesmal lasse ich mich nicht so leicht abwimmeln.
„In jedem Spaß liegt auch ein bisschen Ernst. Ich weiß, dass du es wirklich willst.“
„Ja, das stimmt“, gibt er unverhohlen zu.
„Wieso denn?“
„Ich finde dich eben attraktiv. Und ich würde dich schrecklich gerne mal von einer anderen Seite kennenlernen. Nicht immer nur in deinen hübschen, glattgebügelten Blusen und mit deinen adrett hochgesteckten Haaren“, lächelt er, wobei er mir die eine Strähne, die sich immer wieder aus meinem Dutt löst, hinter das Ohr schiebt.
„Adrett“, murre ich und schiebe seine Hand weg. „Das ist einfach praktisch, sonst nichts.“
„Eben. Du bist so anständig. Ich wüsste zu gern, ob du dich wenigstens im Bett mal ein bisschen gehen lässt. Außerdem sind wir schon so lange befreundet, da sollten wir es wenigstens einmal getan haben. Damit sich diese sexuelle Spannung zwischen uns auflöst.“
„Welche sexuelle Spannung?!“
„Merkst du das nicht? Ich spüre es so richtig zwischen uns knistern“, grinst er.
„Ich meine es ernst!“
„Ich auch.“
„Mit dir kann man kein vernünftiges Gespräch führen!“ Mit einem Quietschen schiebe ich den Stuhl zurück und wende mich zum Gehen.
„Stella!“ Lachend erhebt er sich ebenfalls. „Hör mal, eben erzählst du mir was vom Hass in der Welt, und dann brichst du selbst einen Streit vom Zaun?“
„Ich breche keinen …“, beginne ich mehrere Oktaven zu hoch, bis mir seine hochgezogenen Augenbrauen die Lächerlichkeit meines Benehmens bewusst machen. „Tut mir leid. Ich bin heute irgendwie nicht gut drauf.“
„Das merke ich. Deswegen ist es vielleicht wirklich besser, wenn du jetzt gehst. Ich bin mir sicher, unter diesen Umständen würde es überhaupt keinen Spaß mit dir machen.“
„Och, Mann!“ Stöhnende marschiere ich in den Flur, wo ich meine Jacke von der Garderobe zerre. Ben folgt mir kichernd. Mit den Händen in den Hosentaschen lehnt er sich mit der Schulter gegen die Tür, bis ich mich angezogen habe.
„Sieh es doch einfach mal als Kompliment“, schlägt er mir vor.
„Würde ich ja gern, aber auch Komplimente nutzen sich ab.“
Unbeeindruckt von meinem leicht schnippischen Tonfall stößt er sich von der Tür ab und hält sie mir auf.
„Ich hab dich lieb. Und das meine ich jetzt ganz ohne sexuelle Hintergedanken!“
Obwohl ich etwas angesäuert wegen seiner ständige Anspielungen bin, muss ich mir eingestehen, dass ich ihm deswegen nicht böse sein kann. Letztendlich ist sein Wunsch, mit mir intim zu werden, tatsächlich schmeichelhaft.
„Ich dich auch“, gebe ich schmollend zu. „Vorausgesetzt, du schlägst dir diese Sache mit uns endlich aus dem Kopf.“
Scherzhaft nimmt er eine Denkerpose ein. „Hm … nee“, sagt er dann. „Da lebe ich lieber damit, dass du mich nicht gernhast.“
Erneut entfährt mir ein Laut des Unmuts. Wortlos drehe ich mich um. Er hält mich am Handgelenk fest und schüttelt mit einem besänftigenden Lächeln den Kopf, als wolle er sagen: Nein, ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Sei nicht beleidigt. Wieder schmilzt mein Ärger dahin wie Wachs unter der Kerzenflamme.
„Gute Nacht“, murmele ich.
„Gute Nacht.“ Mit einem weichen Abschiedskuss auf die Stirn entlässt er mich in den kühlen Hausflur. Erst als ich alle dreiundvierzig Stufen bis zur Haustür hinabgestiegen bin und auf der dunklen Straße stehe, bemerke ich das Prickeln auf meiner Haut. Dort, wo seine Lippen mich berührt haben.
*
Neue Woche, neues Glück! Mit diesem Motto mache ich mich am Montagmorgen auf den Weg zur Kanzlei. Nachdem ich am Samstag mit Luna gesprochen habe und sie mir versicherte, die Wogen zwischen ihr und Matthias hätten sich geglättet, bin ich wieder voller Optimismus. Es war ganz, wie Ben es vermutet hatte: Die beiden waren übermüdet und hatten schon zu Hause eine kleine Auseinandersetzung gehabt, angeblich wegen einer Lappalie. Ihr Ärger aufeinander sei bei unserem gemeinsamen Essen hochgekocht. Nur deswegen seien die Fetzen geflogen. Ich war so erleichtert darüber, dass sich alles in Wohlgefallen aufgelöst hatte, dass ich den Friedensschluss der beiden zum Anlass nahm, mich selbst mit der Ungerechtigkeit in der Welt, speziell mit der an meinem Arbeitsplatz, auszusöhnen. So sehr ich mich auch darüber aufrege, am Ende bringt es ja doch nichts. Ich muss lernen, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, und vielleicht ist dies die passende Gelegenheit dazu. Ben hatte ganz recht. Da beschwere ich mich über den Hass, der allerorts zwischen den Menschen zu herrschen scheint, und bin selbst keinen Deut besser. Ich muss diese Streitsucht, die ich in Felix Süßkinds Gegenwart verspüre, in den Griff bekommen. Von nun an werde ich mich zusammenreißen. Soll er doch statt mir künftige Mandanten vertreten – umso mehr Zeit habe ich für meine aktuellen Fälle. Soll er sich ruhig über mich lustig machen – da stehe ich drüber. Und wenn er sich von weiblichen Kollegen anhimmeln lässt, weil er Selbstbestätigung braucht – bitte. Dann kann er mir nur leidtun.
Mit dieser neuen, wie ich finde, sehr erwachsenen Sicht auf die Dinge betrete ich die Kanzlei. Munter begrüße ich Beate, die wie üblich kaum aufschaut und nur ein missgelauntes Grunzen für mich übrighat. Montagsmorgens ist sie besonders übellaunig. Dagegen hat Süßkind natürlich nichts. Aber wenn ich mal ein bisschen lauter werde, heißt es gleich, ich hätte keinen Respekt. Was soll's? Die einsichtige, beherrschte Stella kratzt das nur noch peripher. Rasch begrüße ich auch Yildiz mit einem Winken durch die geschlossene Glastür, da sie gerade telefoniert. Robert kommt mir von der Küche aus entgegen, fragt mich höflich, ob ich ein schönes Wochenende hatte und zieht sich dann in sein Büro zurück. Die anderen sind noch nicht da, zumindest brennt in ihren Räumen kein Licht. Umso besser.
Das Kalenderblatt für heute verrät mir, was unbedingt an diesem Tag erledigt werden muss. Sofort mache ich mich hochmotiviert an die Arbeit. Ich führe ein paar Telefonate, wühle mich durch verschiedene Akten und vereinbare Termine bei Gericht. Nicht eine Minute komme ich zum Durchatmen, was häufig an Montagen der Fall ist. Erst am späten Vormittag wird meine Arbeit von einem deutlichen Magenknurren unterbrochen. Außer einer Scheibe Toast zum Frühstück habe ich heute noch nichts gegessen, außerdem ist mir stark nach einem Kaffee zumute. Eilig tippe ich den Satz zu Ende, an dem ich gerade schreibe. Erleichtert, eine kleine Pause einlegen zu können, mache ich mich anschließend in die Küche auf. Während der Kaffeeautomat arbeitet und mir einen Milchkaffee zubereitet, hole ich mir Brot, Käse und einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Gerade, als ich damit beginne, mir mein Brot zu schmieren, höre ich das sanfte Klackern italienischer Lederschuhe hinter mir. Ich fahre herum. Und da steht sie, die Teufelsbrut, wie immer gestriegelt und geschniegelt. Okay. Jetzt gilt es, Stella!, ermahnt mich meine innere Stimme. Ich atme tief ein und straffe die Schultern.
„Morgen“, sage ich mit höflicher Reserviertheit.
„Guten Morgen, Frau Herz“, erwidert Süßkind und wendet sich dem Automaten zu. „Ihr Kaffee ist fertig.“
Tatsächlich hat die Maschine ihre Arbeit eingestellt, und unter den Düsen steht eine volle, dampfende Tasse Milchkaffee. Ungebeten zieht er sie hervor und stellt sie neben mir ab.
„Danke“, grummele ich widerwillig. Während ich mich damit beeile, mir mein zweites Frühstück zuzubereiten, macht er sich ebenfalls am Automaten zu schaffen. Nach einigen Augenblicken des Schweigens spüre ich, wie mein Herz schneller schlägt. Ich rechne jede Sekunde mit einem neuen Verbalangriff von seiner Seite. Irgendeine spitze Bemerkung, eine Anspielung auf Freitag oder ein spöttischer Kommentar zu dem nicht angenommenen Freundschaftsantrag bei Friendsbook. Doch er hält sich, völlig untypischerweise, zurück. Aus den Augenwinkeln beobachte ich ihn, wie er mit den Händen in die Hüften gestemmt vor dem Automaten steht und ungeduldig mit dem Fuß auf die Kacheln tippt. Klack. Klack. Klack. Kann er das nicht lassen? Es nervt!
Endlich. Die Maschine gibt das unverkennbare Gluckern und Zischen von sich, das nicht nur auf einen fertigen Kaffee hinweist, sondern auch darauf, dass sich die Bohnenzufuhr dem Ende zugeneigt hat. Im Begriff, eine Käsescheibe aus der Verpackung zu nehmen, halte ich inne und taxiere ihn. Jetzt bin ich gespannt. Laut unserer Regel wäre es seine Pflicht, den Kaffee nachzufüllen. Stattdessen greift er nach seiner Tasse, gibt Milch und Zucker dazu und macht Anstalten zu gehen. Habe ich es doch geahnt.
„Moment mal!“, bricht es aus mir hervor. Mist! Ich wollte mich doch nicht mehr mit ihm anlegen! Aber es ist wie ein Pawlowscher Reflex. Seine Unachtsamkeit wirkt auf mich wie das berühmte Futterglöckchen. So etwas kann ich einfach nicht ignorieren. Er stoppt seinen Gang und dreht sich zu mir um.
„Ja?“
„Haben Sie nicht etwas vergessen?“, frage ich so ruhig, wie ich nur kann.
„Was denn?“
Aha. Er will mich also wieder mal für dumm verkaufen. Als wüsste er nicht ganz genau, was ich meine! Trotz meiner aufkeimenden Wut, nehme ich mich zusammen.
„Lesen Sie doch mal das Schild dort“, fordere ich ihn auf und deute auf den für jedermann deutlich sichtbaren Zettel über dem Kaffeeautomaten.
„Oh. Ach ja. Habe ich vergessen“, sagt er unbekümmert. „Wären Sie eben so gut?“ Wieder versucht er, die Küche zu verlassen. Höre ich schlecht?? Ich soll mich darum kümmern, obwohl es seine Aufgabe wäre? Ist er sich für solche niederen Arbeiten zu fein, der werte Herr?!
„Äh, Entschuldigung“, halte ich ihn erneut auf. „Derjenige, der den Kaffee aufbraucht, füllt ihn nach. So haben wir es vereinbart.“ Entschuldigend zucke ich die Schultern. Ganz nach dem Motto, ich kann auch nichts dafür. Ich bin wahnsinnig stolz auf mich, wie sachlich ich diesmal geblieben bin. Das wiederum scheint ihm jedoch auch nicht zu passen. Finster blickt er mich einen Moment lang an, bevor er die Tasse nicht gerade sehr behutsam abstellt, den Schrank öffnet, eine Packung Kaffeebohnen herausholt und sie in den Automaten umfüllt – das Ganze, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Unbeirrt halte ich seinem Blick stand. Sobald er fertig ist, zerknüllt er die Tüte, wirft sie in den Müll und sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an.
„Zufrieden?“
Ich schenke ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Sehr.“
„Wunderbar“, entgegnet er ironisch, nimmt seine Tasse wieder auf und verschwindet diesmal endgültig aus dem Raum. Mit einem breiten Grinsen widme ich mich wieder meinem Brot und belege es mit einer extra dicken Scheibe Käse. Wenn mich nicht alles täuscht, ist meine neue Taktik ein voller Erfolg.