Читать книгу Mit Herz und Recht - Natalie Weckwarth - Страница 5
§ 1
ОглавлениеSobald ich das Klingeln des Weckers am Morgen meines ersten Arbeitstages nach dem Weihnachtsurlaub abgestellt habe, erfüllt mich ein Flattern in der Magengrube, das ich in dieser Form zum letzten Mal bei meiner zweiten Staatsexamensprüfung gespürt habe. Nur ist es diesmal keine Angst, die meine Aufregung verursacht, sondern unbändige Vorfreude auf das, was mich heute in der Kanzlei erwartet. Voller Elan schlage ich trotz der Dunkelheit, die noch vor dem Fenster herrscht, die Bettdecke zurück und schwinge die Beine aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad muss ich lächelnd an das Gespräch mit meinem Chef vor zwei Wochen zurückdenken. Ein paar Jährchen noch, dann hätte er vor, sich zur Ruhe zu setzen, erklärte er mir in vertraulichem Tonfall. Wie ich wisse, suche er schon lange nach jemandem, der ihn bis dahin bei der Leitung der Kanzlei als gleichberechtigter Partner ein wenig unterstützt und dem er das Geschäft ruhigen Gewissens übergeben könne, wenn er in den Ruhestand treten würde. So jemanden hätte er nun gefunden.
„Ich halte große Stücke auf Sie, Frau Herz“, sagte er. „Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr?“
„Selbstverständlich“, bestätigte ich ihm.
„Dann steht einer weiteren, engen Zusammenarbeit ja nichts im Wege“, schloss er mit einem freundlichen Blitzen in den Augen.
Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was er mir mit seiner kleinen Rede zu verstehen geben wollte. Ich sollte diejenige werden, die ihn unterstützen und eines nicht allzu fernen Tages seine Nachfolge antreten sollte. Ich hatte Mühe, die Contenance zu bewahren. Mein größter Traum würde in Erfüllung gehen! Seit Herr Richter, kurz nachdem ich mein Referendariat in seiner Kanzlei begonnen hatte, zum ersten Mal davon sprach, dass er jemanden braucht, der ihm etwas zur Hand ginge, wusste ich, dass ich diesen Posten haben wollte. Eine Partnerschaft ist der erste Schritt auf dem Weg zur eigenen Kanzlei. Da es ungleich schwieriger ist, selbst eine zu gründen, ist die Chance einer Übernahme das Beste, was einem Anwalt passieren kann. Von da an arbeitete ich kontinuierlich darauf hin, einmal die Auserwählte zu sein, nach der Herr Richter so verzweifelt suchte, und nun – vier Jahre später – sollen meine Bemühungen endlich Früchte tragen.
„Rein gar nichts!“, nickte ich nachdrücklich und hatte Mühe ein hysterisches Lachen zu unterdrücken.
„Freut mich, Frau Herz, freut mich“, erwiderte er. „Nach den Feiertagen mache ich die Sache offiziell.“
Heute ist der große Tag, an dem alle in der Kanzlei erfahren werden, dass sie ab sofort Mitarbeiter der Kanzlei Richter und Herz sein werden! Grinsend steige ich in die Dusche. Dabei stelle ich mir das dumme Gesicht von meinem Kollegen Carsten Naumann vor, der bekanntermaßen genauso nach der Partnerschaft lechzt wie ich. Oder die großen Augen von Yildiz, meiner allerliebsten Kollegin, die wegen ihrer großen Familie gar kein Interesse an noch mehr Arbeit hat und mir die neue Stelle sicher von Herzen gönnen wird. Beate Jäger, unsere übellaunige Sekretärin, wird wahrscheinlich wie immer die Lippen zu einem missbilligenden Strich zusammenkneifen – die einzige Gesichtsregung, zu der sie fähig zu sein scheint. Robert Graf, unser eigenbrötlerischer Steuerrechtler, wird sicher bloß seine Brille zurechtrücken, den Kopf einziehen und froh sein, dass es nicht ihn getroffen hat. Ich weiß, man soll sich nicht selbst loben, und vermutlich würde es ziemlich eingebildet klingen, wenn ich es laut ausspräche, aber ich finde, ich bin (mit Ausnahme von Yildiz) wirklich die Einzige in der Kanzlei, die es verdient hat, befördert zu werden.
Zum Anziehen kehre ich nach dem Duschen zurück ins Schlafzimmer, wo ich im großen Schrankspiegel noch einmal überprüfen kann, ob mein Outfit für den heutigen Anlass angemessen ist. Bereits gestern Abend habe ich mir einen eng geschnittenen, dunkelgrauen Bleistiftrock und eine weiße Bluse herausgelegt. Dazu lege ich eine Silberkette mit einem schlichten Glasanhänger an und steige in die anthrazitfarbenen Pumps, die ich mir erst letzte Woche für ein halbes Vermögen angeschafft habe. Hochzufrieden mit meiner Erscheinung mache ich mich anschließend an meinen Haaren zu schaffen. Nach dem langwierigen Föhnen spiele ich wieder einmal mit dem Gedanken, meine lange, kastanienbraune Mähne zugunsten eines pflegeleichteren Kurzhaarschnitts zu opfern. In aller Regel trage ich sie ohnehin zusammengebunden oder hochgesteckt. Lasse ich sie offen, stören mich die Haare meistens, doch ganz trennen kann ich mich auch nicht von ihnen. Deshalb drehe ich sie auch heute stattdessen zu einem ordentlichen Dutt ein und stecke die letzten widerspenstigen Strähnchen mit unscheinbaren Nadeln fest. Zum Abschluss lege ich ein dezentes Make-up auf, das sowohl meine zarten Sommersprossen verdeckt, die selbst im Winter nie ganz verblassen, als auch meine grünen Augen besonders hervorhebt. Ja, so kann ich mich in der Kanzlei blicken lassen, befinde ich und lächele mein Spiegelbild an. Ich sehe aus wie die perfekte Partnerin.
*
Nachdem ich auf mein übliches Frühstück ausnahmsweise verzichtet habe, weil ich vor lauter Nervosität keinen Bissen herunterbekommen hätte, breche ich früher als gewöhnlich auf. Von meiner Wohnung in der Stadtmitte zur Kanzlei brauche ich knapp zwanzig Minuten. Obwohl ich heute gut durchkomme, bleibt mir genügend Zeit, noch einmal meine kleine Antrittsrede durchzugehen, die ich mir in weiser Voraussicht gedanklich zurechtgelegt habe. Ich werde mich kurz halten, aber ich möchte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, mich bei Herrn Richter dafür zu bedanken, dass er mir sein Vertrauen schenkt. So recht kann ich mich allerdings nicht auf meine vorformulierten Worte konzentrieren. Immer wieder schweife ich ab und muss daran denken, wie gut es sich anfühlen wird, heute Abend heimzukommen und die endgültige Gewissheit zu haben, es geschafft zu haben. Ich kann es kaum abwarten, meiner Mutter davon zu erzählen. Wenigstens sie möchte ich mit den Neuigkeiten überraschen, nachdem ich an Silvester schon alles vor meiner Familie und Ben ausgeplaudert habe. Sie wird so stolz auf mich sein. Von Beginn meines Studiums an hat sie immer an mich geglaubt und mir versichert, aus mir würde einmal eine grandiose Anwältin werden. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der mir nicht zutraute, mich in der Welt der Justiz bewähren zu können. Dabei war er streng genommen sogar schuld daran, dass ich schon lange vor dem Abitur beschlossen hatte, Scheidungsanwältin zu werden.
Meine Eltern trennten sich, als ich neun war. Für die beiden war es nach den monatelangen Streitereien und Phasen eisigen Anschweigens sicher die beste Lösung. Für mich brach eine Welt zusammen. Aus unserem Haus zog unsere Mutter mit uns in eine Wohnung, in der Luna und ich uns ein Zimmer teilen mussten. Meinen Vater sah ich nur noch jedes zweite Wochenende, und bedeutende Feste wie Geburtstage und Weihnachten fanden ohne ihn statt. Man kann ihm nicht vorwerfen, wir wären ihm egal gewesen. Ihm waren nur andere Dinge wichtiger geworden. Seine neue Freundin zum Beispiel, die er uns eines Tages vorstellte. Eine Frau, die jung und blond und schön war und die versuchte, Luna und mich mit Eiscreme zu bestechen, damit wir sie gernhatten. Ich durchschaute ihre Masche sofort und war danach nicht mehr allzu traurig darüber, Papa nicht mehr so häufig sehen zu können. Erst viel später erfuhr ich von meiner Mutter, dass die Scheidung in eine regelrechte Schlammschlacht ausgeartet war. Am Ende hatte sie ohne das gemeinsame Haus und mit einem Bruchteil des Vermögens dagestanden, das sie mit meinem Vater zusammen angespart hatte. Das war der entscheidende Auslöser für meinen Entschluss gewesen, mich einmal auf Eherecht zu spezialisieren. Ich wollte dafür sorgen, dass keiner Frau ein solches Unrecht widerfahren sollte wie meiner Mutter. Ich wollte dazu beitragen, dass keine Scheidung den Kummer und das Leid verstärkte, die das Ende einer Ehe ohnehin mit sich brachten. Wer sich von mir scheiden ließ, sollte das Gefühl haben, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte.
Vielleicht hätte ich es so auch meinem Vater erklären sollen, dem ich nur widerwillig von meinem Vorhaben berichtete, Jura zu studieren. Mein Verhältnis zu ihm war stark abgekühlt, seit er sich von Mamas Geld eine Finca auf Mallorca gekauft hatte und es sich dort mit seiner neuen Frau gutgehen ließ.
„Anwältin sein bedeutet nicht nur, Paragraphen auswendig zu lernen“, versuchte er damals, mich zu belehren. „Du musst Entscheidungen treffen können, dich für deine Mandaten einsetzen, vor Gericht selbstsicher auftreten.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist doch alles nichts für dich.“
Immerhin, für zu dumm hielt er mich nicht. Er wusste, dass mir das Wälzen von Büchern und stundenlanges Pauken nichts ausmachte. An der Praxis würde ich scheitern, so glaubte er. Mir würde ganz einfach das nötige Durchsetzungsvermögen fehlen. Ein Mäuschen wie ich würde in einer von Männern dominierten Branche sang- und klanglos untergehen. Beinahe hätte er es geschafft, mich zu überzeugen. Hatte ich wirklich das Zeug dazu, Gesetze zum Vorteil meiner Mandanten auszulegen? War ich stark genug, männlichen Kollegen die Stirn zu bieten?
„Klar schaffst du das!“, ermutigte mich Luna. „Guck dir Ally McBeal an. Die lässt sich von den Typen auch nichts gefallen. Was die kann, kannst du schon lange!“
Die Fernsehserie war jahrelang wöchentliches Pflichtprogramm für uns gewesen, so sehr liebten wir die smarte Prozessanwältin und ihre schlagfertigen Sprüche in allen Lebenslagen. Ich verzichtete darauf, Luna daran zu erinnern, dass Ally der Fantasie amerikanischer Drehbuchautoren entsprungen war. Aber die Zuversicht, dass wenigstens der weibliche Teil meiner Familie hinter mir stand, half mir schließlich über meine Selbstzweifel hinweg. Wie man sieht, hat es mir nicht geschadet.
Damit hast du nicht gerechnet, was, Papa?, denke ich voller Genugtuung, als ich schließlich auf den Parkplatz der Kanzlei einbiege, den Wagen auf meinem angestammten Stellplatz abstelle und im Rückspiegel noch einmal meine Frisur überprüfe. Dass deine Tochter nicht einmal fünf Jahre nach ihrem Examen bereits führendes Mitglied einer angesehenen Anwaltskanzlei sein würde! Mit beschleunigtem Puls und leicht feuchten Händen steige ich aus dem Auto und mache mich auf den Weg zum Eingang. An der Tür werfe ich einen letzten Blick auf das kleine, graue Firmenschild, auf dem gerade genug Platz für die Aufschrift ist.
Rechtsanwaltskanzlei Richter
Termine nach Vereinbarung
Ab sofort werden wir wohl ein größeres Schild benötigen.
*
„Guten Morgen und ein frohes, neues Jahr!“, begrüße ich Yildiz fröhlich. Meine Lieblingskollegin ist morgens meist die Erste, die nach unserem Chef in der Kanzlei auftaucht. Auch heute steht sie bereits in der kleinen Betriebsküche und ist damit beschäftigt, die Bohnen im Kaffeeautomaten aufzufüllen.
„Frohes Neues!“, erwidert sie nicht halb so enthusiastisch und sieht mich argwöhnisch an. „Du bist aber gut gelaunt.“
„Ist ja auch ein schöner Tag!“, lächele ich und nehme mir eine Tasse aus dem Schrank, damit ich mir gleich einen Kaffee zubereiten kann, sobald sie fertig ist. Mit hochgezogener Augenbraue schaut sie aus dem Fenster. Ich folge ihrem Blick. Draußen regnet es wie aus Kübeln.
„Ich weiß nicht“, sagt sie. „Wenn ich an die ganzen Fälle denke, die unbearbeitet auf meinem Schreibtisch liegen, würde ich am liebsten sofort zurück in die Türkei!“ Wie jedes Jahr hat sie über die Feiertage ihre Familie in ihrer Heimat besucht. Und jedes Jahr sehnt sie sich nach Urlaubsende dorthin zurück.
„Du machst das schon!“, muntere ich sie auf und platziere meine Tasse unter den Düsen des Automaten.
„Was bleibt mir auch anderes übrig“, seufzt sie und greift zu ihrer eigenen dampfenden Tasse, die bereits das verführerische Kaffeearoma verströmt. „Obwohl … vielleicht kann ich ja ein bisschen auf die neue Referendarin abschieben.“ Die Vorstellung entlockt ihr immerhin ein kurzes Grinsen.
„Fängt die heute an?“
Yildiz nickt. „Weißt du doch.“
Aber nur in der Theorie. Tatsächlich hatte ich vollkommen verdrängt, dass wir für die nächsten zehn Monate weibliche Verstärkung im Team bekommen. Die Referendarin, die ihren Vorbereitungsdienst bei uns ableisten wird, hat sich bereits vor ein paar Wochen vorgestellt. Ich hatte sie nur flüchtig begrüßt, sodass sie mir nicht dauerhaft im Gedächtnis geblieben ist.
„Bin gespannt, wie die sich macht“, meint Yildiz. „Wenn ich da an Rüdiger denke …“
„Gott bewahre“, sage ich.
Rüdiger war unser letzter Referendar, und der war wirklich eine Strafe. Trotz seines altertümlichen Namens war er erschreckend jung für einen angehenden Anwalt. Das Studium hatte er in Rekordzeit hinter sich gebracht und dazu mit Auszeichnung bestanden. Hochintelligent war er, das musste man ihm lassen. Aufgrund dessen jedoch völlig ungeeignet für den Beruf, denn im Umgang mit Menschen war er eine absolute Null. An Rüdiger zeigte sich wieder einmal, dass ein hoher IQ noch lange keinen guten Anwalt macht.
„Hoffen wir das Beste“, sagt sie und gähnt herzhaft. „Ich mach mich mal ans Werk.“
„Frohes Schaffen!“
„Danke. Übrigens: Um neun ist Teambesprechung.“
Mein Herz setzt einmal kurz aus. „Wirklich?“, frage ich unschuldig.
„Ja. Richter hat schon eine Mail rumgeschickt. Er hätte ein paar Ankündigungen zu machen.“
Es fällt mir schwer, ein breites Grinsen zu unterdrücken. „So, so“, entgegne ich nur, wobei ich meine Tasse schwungvoll unter den Düsen hervorziehe.
„Keine Ahnung, was das für Ankündigungen sein sollen“, sagt Yildiz gelangweilt und macht sich endgültig auf den Weg in ihr Büro.
„Ach“, flüstere ich. „Ich hätte da so eine Idee ...“
*
Eine Stunde später bin ich ein nervliches Wrack. Meine Finger sind schweißnass, und in meinem Bauch scheint sich ein ungezähmtes Ungeheuer zu befinden. Gebannt starre ich auf die kleine Uhr am unteren Rand meines Computerbildschirms und warte darauf, dass sie endlich auf 9:00 umspringt. Um mich bis zum Beginn der entscheidenden Teambesprechung abzulenken, habe ich meine E-Mails abgerufen, um mich selbst noch einmal davon zu überzeugt, dass unser Chef uns wirklich einberufen hat. Danach habe ich versucht, einige Anfragen von potentiellen Mandanten zu beantworten. So recht geglückt ist es mir nicht; ich konnte mich einfach nicht konzentrieren.
Endlich sehe ich durch die Glastür meines Büros, wie Yildiz aus ihrem herauskommt und sich auf den Weg zum Konferenzzimmer macht, deshalb beschließe ich, ihr zu folgen. Unsere Büros sind in einer Art überdimensioniertem U angeordnet, in dessen Mitte sich der Empfangstresen der Kanzlei befindet. Durch die gläsernen Türen haben wir allzeit freie Sicht auf das Geschehen an der Rezeption, was ganz praktisch ist, wenn man nicht von unangekündigtem Besuch überrascht werden will.
„Na, kommst du voran?“, frage ich Yildiz, als sich unsere Wege im Flur kreuzen. Mehr, um meine Nervosität mit Smalltalk zu bekämpfen, denn aus echtem Interesse.
„Nicht besonders gut. Mit den ganzen Fällen, die ich vor mir habe, werde ich wahrscheinlich nächstes Jahr noch zugange sein.“ Sie seufzt. „Das bedeutet wieder jede Menge Nachtschichten.“
Ich schenke ihr einen mitfühlenden Blick. Wäre ich nicht auf ein völlig anderes Gebiet spezialisiert, würde ich anbieten, ihr etwas abzunehmen. Leider ist mir Arbeitsrecht ziemlich fremd.
„Du weißt, ich würde dir gern helfen, wenn ich könnte“, sage ich.
„Kein Problem“, winkt sie ab. „Vielleicht spreche ich es gleich mal an und frage Richter, ob er mich etwas entlasten kann.“
„Gute Idee“, nicke ich, dann betreten wir den Konferenzraum.
Yildiz und ich sind nicht die ersten Mitarbeiter, die sich zur anberaumten Sitzung eingefunden haben. Unser Chef sitzt bereits am Tisch, und er ist nicht allein. Links neben ihm hat sich die neue Referendarin platziert, die ich erst jetzt, beim Anblick ihres wallenden, blonden Haars, das sich an den Spitzen frech über ihrer monströsen Oberweite kringelt, wiedererkenne. Das allerdings lässt mich weniger stutzen als der zweite Platz, der zu Herrn Richters Rechten belegt ist. Von einem Mann, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Bei unserem Hereinkommen nickt er uns freundlich zu.
„Guten Morgen“, sagt er mit angenehm warmer Stimme.
„Morgen“, begrüßen Yildiz und ich ihn, die nicht minder irritiert von unserem Gast zu sein scheint. Wir lassen uns an der anderen Seite des Tisches nieder, sodass ich dem Fremden genau gegenübersitze. Nach und nach trudeln die anderen ein. Zuerst unser Fachanwalt für Strafrecht, Carsten Naumann. Er wirft einen Neujahrsgruß in die Runde und nimmt neben Yildiz Platz.
„Und Stella, gut reingerutscht?“, fragt er mich grinsend. „Wo du doch an Silvester mal so richtig lang aufbleiben durftest.“ Carsten macht keinen Hehl daraus, dass er mich für durch und durch spießig hält. Nur, weil ich einmal erwähnte, dass ich abends gegen elf Uhr todmüde ins Bett falle. Sprüche wie diese bin ich seitdem von ihm gewohnt.
„Klappe, Carsten!“
„Ui, das ist ja ein harscher Tonfall“, zieht er mich weiter auf. „Den darfst du aber deinen Mandanten gegenüber nicht anschlagen. Wo sie doch schon gebeutelt vom Leid ihrer zerrütteten Ehen sind.“
„Wenigstens muss ich meine Mandanten nicht im Gefängnis besuchen, wenn ich etwas mit ihnen besprechen will“, kontere ich, was ihn vorerst ruhigstellt. Aus den Augenwinkeln sehe ich die Mundwinkel meines Gegenübers zucken. Als ich den Kopf zu ihm drehe, ist seine Miene wieder ernst. Vielleicht habe ich es mir bloß eingebildet.
Als Nächstes kommt Robert Graf herein, der das unbekannte Mitglied unserer Gesellschaft überhaupt nicht wahrzunehmen scheint, obwohl er den Stuhl gleich neben ihm wählt und nach einer flüchtigen Begrüßung erst einmal gründlich seine Brille poliert. Während wir zuletzt auf unsere Sekretärin warten, unterziehe ich den mysteriösen Fremden einer unauffälligen Musterung. Auf den zweiten Blick muss ich feststellen, dass er geradezu lächerlich gut aussieht. Als hätte die Natur mal jemanden gebraucht, mit dem sie so richtig angeben kann: dichtes, erdfarbenes Haar, milchkaffeefarbene Augen, gleichmäßig geschwungene Lippen und eine zart gebräunte Haut, die nicht nach Sonnenstudio, sondern nach kürzlich beendetem Skiurlaub aussieht. Angestrengt versuche ich aus seinem Gesicht herauszulesen, aus welchem Grund er wohl hier sein mag. Natürlich gelingt es mir nicht. Bei der Auswahl seiner Garderobe scheint er sich jedenfalls ebenso viel Mühe gegeben zu haben wie ich. Er trägt einen piekfeinen, graphitgrauen Anzug, darunter eine gleichfarbige Weste und ein blütenweißes Hemd. Einziges farbliches Highlight bildet die rosa-hellgrau-gestreifte Krawatte. Er könnte einem Werbeplakat für Armani-Mode entsprungen sein. Wenn ich nur wüsste, wer er ist. Etwa ein neuer Kollege? Warum hat unser Chef uns nichts davon erzählt, dass er jemanden einstellen will? Vielleicht um unsere Kapazitäten zu erweitern, wenn ich demnächst mit meinen neuen Aufgaben als Partnerin beschäftigt sein werde? Oder um Yildiz zu unterstützen, die mit ihren Fällen so überlastet ist? Ehe ich schlau aus seiner Anwesenheit werde, komplettiert Beate Jäger unsere Runde und schließt mit ihrem typisch dauergenervten Gesichtsausdruck die Tür hinter sich. Das nimmt Herr Richter zum Stichwort und erhebt sich.
„Guten Morgen, alle zusammen“, begrüßt er uns. „Zuerst einmal möchte ich Ihnen ein frohes, gesunden und vor allem erfolgreiches neues Jahr wünschen.“
Ein vielstimmiges „Gleichfalls“ ertönt.
„Vielen Dank. Ich möchte den Jahresanfang nutzen, um ein paar Neuerungen in der Kanzlei vorzunehmen.“
Jetzt kommt's, denke ich aufgeregt und setze mich aufrecht hin. Rücken gerade, Brust raus. Ganz wie meine Mutter es mir einmal in einer Lektion zum Thema „selbstbewusstes Auftreten“ beigebracht hat.
„Wie Sie alle wissen, werde ich es nicht mehr lange machen“, erklärt er und fügt schmunzelnd hinzu: „Beruflich, meine ich.“
Die anderen lachen leise. Ich ein wenig lauter. Gott, bin ich nervös!
„Deshalb habe ich mich schon vor einiger Zeit dazu entschieden, mir einen Partner für die Kanzlei zu suchen, der die Verantwortung für die Leitung mitübernimmt und mich ersetzen kann, sobald ich mich ins Privatleben zurückgezogen habe. Die Suche nach einem geeigneten Kandidaten für diese Stelle hat mich viele Nerven gekostet. Aber wie heißt es so schön? Wer suchet, der findet. Und ich habe jemanden gefunden.“
Auch Carsten sitzt nun kerzengerade in seinem Stuhl und fingert an seiner Krawatte herum.
„Jemanden, dem ich mein ganzes Vertrauen schenke und dem ich guten Gewissens die Leitung der Kanzlei in die Hände legen kann.“ Sein Blick streift mich kurz. Ich kann mich jetzt kaum noch auf seine Worte konzentrieren. In meinen Ohren rauscht es. Flüchtig nehme ich wahr, wie er dem Mann neben ihm ein Lächeln schenkt, der es sofort erwidert. Aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, mich innerlich auf den Augenblick der Wahrheit vorzubereiten, als weiter darüber nachzudenken, wer denn dieser Typ nun ist.
„Ich freue mich sehr, dass er sich trotz seiner jungen Jahre auf dieses abenteuerliche Unterfangen eingelassen hat“, spricht Richter weiter. Eine Sekunde irritiert mich das „er“ in seinem Satz, aber vermutlich bezieht er sich immer noch auf den „jemand“, und sowieso höre ich gar nicht richtig hin, denn ich bin bereits im Aufstehen begriffen, als Herr Richter seine Rede zum finalen Höhepunkt bringt. „Aber jetzt genug der vielen Worte. Hiermit stelle ich Ihnen den neuen Partner vor: meinen Neffen, Felix Süßkind!“
Ich schieße aus meinem Stuhl hoch. „Ja, vielen Dank, Herr Richter! Ich ...“, setze ich überschwänglich an, bis mir auffällt, dass mein Gegenüber ebenfalls aufgestanden ist und mich fragend anblickt. Mitten im Satz halte ich inne. Ein peinlich berührtes Schweigen senkt sich über den Raum. Vorsichtig sehe ich in die Gesichter der anderen, die mich besorgt bis verstört mustern. Erst da dringen Richters letzte Worte in mein Bewusstsein. Hiermit stelle ich Ihnen den neuen Partner vor: meinen Neffen Felix Süßkind! Das ist definitiv nicht mein Name. Er hat nicht mich zu seiner rechten Hand gemacht, sondern das Armani-Model vor mir, das die unangenehme Stille schließlich mit einem leisen Räuspern beendet.
„Möchten Sie etwas sagen, Frau Herz?“
Woher kennt er meinen Namen?, schießt es mir kurz durch den Kopf, aber dann kann ich es mir schon denken. Er muss sich unsere Homepage angesehen haben, auf der alle Mitarbeiter der Kanzlei interessierten Mandanten mit Foto vorgestellt werden. Wahrscheinlich zusammen mit seinem Onkel.
„Da, sieh sie dir gut an, mein Junge“, wird Richter gesagt haben und auf mein Bild gedeutet haben. „Das ist die dumme Trine, die glaubt, ich würde sie zur Partnerin machen.“ Und dann werden sie sich gemeinsam über mich kaputtgelacht haben.
Verzweifelt versuche ich zu schlucken. Das hier ist mit Abstand das Demütigendste, das ich je erlebt habe. Ich kann bloß noch versuchen, die erniedrigende Situation so würdevoll wie möglich zu beenden.
„Ja“, bringe ich endlich trotz meiner staubtrockenen Kehle heraus. „Herzlich … willkommen.“
„Danke“, erwidert er konfus, und ich lasse mich langsam mit zittrigen Beinen zurück auf meinen Stuhl sinken.
„Alles in Ordnung?“, raunt Yildiz mir zu, ihre sorgfältig gezupften, schwarzen Augenbrauen beunruhigt zusammengezogen. Halb nicke ich, halb schüttele ich den Kopf, was in einer unkoordinierten Kreisbewegung endet. Bevor sie Bedenken über meinen Geisteszustand äußern kann, ergreift der frisch gekürte Partner das Wort.
„Mein Onkel hat das meiste ja schon vorweggenommen, aber ich möchte mich natürlich trotzdem noch einmal kurz vorstellen“, höre ich ihn sagen. Danach rauscht der Rest seiner Rede an mir vorbei. Nur einzelne Bruchstücke schaffen es, bis in mein Gehirn vorzudringen. Dass er bis vor Kurzem in einer Kanzlei beschäftigt war, die sich auf Eherecht spezialisiert hat, beispielsweise. Na toll, ein Scheidungsanwalt! Das wird ja immer besser. Nicht genug damit, dass er den Posten bekommen hat, der mir zugestanden hätte, wahrscheinlich wird er auch noch versuchen, mir die Mandanten abspenstig zu machen. Das sagt er natürlich nicht, sondern behauptet, er freue sich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit (ja, er benutzt tatsächlich das Wort „fruchtbar“!) und faselt etwas von seiner Tür, die uns immer offenstehen würde. Mir wird schlecht von all dem Süßholzgeraspel. Vielleicht macht auch nur mein Kreislauf schlapp, nach dem Schock auf nüchternen Magen. Als er sich endlich wieder niederlässt, fühle ich mich leer und ausgelaugt. Wie soll ich jetzt zurück in mein Büro gehen und mein Tagwerk aufnehmen, als sei nichts passiert? Wie soll ich mit Tatkraft an meine Arbeit gehen, wenn es kein Ziel mehr gibt, das ich vor Augen habe?
„Vielen Dank, Felix“, sagt Herr Richter anschließend, dessen Stimme wie aus weiter Ferne an meine Ohren dringt. „Wir haben ja heute noch ein weiteres Mitglied in unserer Runde willkommen zu heißen“, wendet er sich an die Vollbusige neben ihm. Sie beginnt sich ebenfalls vorzustellen. Auch ihre Worte erreichen mich nicht. Ich fühle mich betäubt, als sei ich nicht Teil des Geschehens. Wie bei einem Fernseher, der ohne Ton läuft, beobachte ich, wie sich ihre Lippen bewegen und sie etwas sagt, das die anderen zum Lachen bringt. Schließlich übergibt sie wieder an unseren Chef. Ich bin noch immer nicht aufnahmefähig. Erst als Yildiz meinen Arm berührt, wird mir bewusst, dass soeben mein Name gefallen ist und Herr Richter zu mir schaut.
„Wie bitte?“
Ein winziger Funken Hoffnung lodert in mir auf. War am Ende alles nur ein dummer Witz? Oder will er mich zur zweiten Partnerin ernennen und hat sich die Überraschung bis zum Schluss aufgehoben?
„Ich sagte, ich dachte an Sie, Frau Herz.“
Schlagartig erwache ich aus meiner Trance. „Wobei dachten Sie an mich?“, frage ich aufgeregt.
Er seufzt ungeduldig. „Daran, dass Sie Frau Weidemanns Ausbilderin werden.“
Miss Busenwunder strahlt mich an. Ich sacke in mich zusammen. Das war's. Ein für alle Mal.
„Sicher“, bringe ich irgendwie hervor und erhebe mich. Plötzlich will ich nur noch raus. Aus diesem Raum, fort von den beiden Männern, die so mir nichts, dir nichts meinen großen Traum zerstört haben. „Wäre das dann alles?“
Das Lächeln der Referendarin erstirbt, Richter nickt konsterniert.
„Ja, das wäre es soweit.“
„Gut. Ich habe nämlich noch zu tun“, sage ich knapp und steuere die rettende Tür an. Das Letzte, was ich vor dem Hinausgehen sehe, ist das dumme Gesicht von Carsten Naumann. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es nicht mein eigenes ist, das sich in seinen Augen spiegelt.