Читать книгу Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk - Страница 4

Vorwort

Оглавление

Zu den unschönen Eigenschaften von Medien gehört, schnell da zu sein, wenn es knallt, und schnell wieder weg zu sein, wenn der Stillstand eintritt. Wenn Emotionen aufgebraucht sind und Geschichten erschöpft, wenn auch die schlauste Analyse nichts mehr erklärt, dann ziehen die Reporter und Reporterinnen weiter: Zum nächsten Krisenort, zur nächsten Tragödie, zur nächsten Geschichte.

Man kann diese mediale Hyperaktivität ganz sicher kritisieren, aber zur Wahrheit gehört eben auch: Die Leser und Leserinnen sind anspruchsvolle Wesen, die sich schnell langweilen. Sobald sie das Gefühl der Wiederholung haben, verlieren sie das Interesse. Wer könnte es ihnen auch verübeln? Gumenyuk kennt diese Schwierigkeiten. Als die Krim kurz nach dem Ende des Maidan-Protestes von Soldaten ohne Hoheitszeichen in grünen Uniformen besetzt wurde, war die Annexion das wichtigste Thema in der russischen, ukrainischen und internationalen Presse. In Russland waren Staatsmedien und Regierungspolitiker wie benebelt von ihrem plötzlich erwachten Krim-Patriotismus, in der Ukraine war der Verlust der Halbinsel das alles beherrschende Thema. Und in den internationalen Medien wurden Überlegungen angestellt, was wohl als nächstes passieren würde, wo noch grüne Männchen auftauchen könnten. Die Redaktionen sandten ihre Reporter aus, um über die ominöse Einnahme der Halbinsel zu berichten.

Ich war ebenfalls als Reporterin im Frühjahr 2014 auf der Krim, auch ich sprach Anfang März 2014 mit ukrainischen Soldaten und einem Oberst – so wie später Nataliya Gumenyuk. Aber anders als Gumenyuk kam ich nicht wieder. Irgendeine gute Begründung hatte ich immer: die Krisen woanders; der beginnende Krieg im Donbas; die Auflagen der ukrainischen Behörden, die zeitfressende, komplizierte Einreise auf die Halbinsel, die auf mich wie eine Schikane wirkten; die Redaktion schien nicht sonderlich interessiert. Es tat sich ja auch wenig auf der Krim – wie eingefroren schien der Zustand zu sein nach der militärischen Annexion, die mit einem fingierten Referendum besiegelt wurde. Als sei auf der Krim die Zeit stehen geblieben. Gumenyuk kennt das Problem. Für Journalisten ist die zwanzigste, fünfzigste Verhaftung von Krimtataren und Regimegegnern nichts, worüber man wieder berichten würde. „Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser.“

Obwohl die Annexion der Krim eine politische Katastrophe und eine menschliche Tragödie für die Ukraine bedeutet, obwohl Familien zerrissen und Biografien zerstört wurden, schwindet selbst in der ukrainischen Gesellschaft das Interesse, beobachtet Gumenyuk. „Das Thema Krim ist ohnehin nicht sonderlich populär“, schreibt sie an einer Stelle eher beiläufig. „Weshalb man die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums nur mit wirklich gutem Material gewinnen kann.“ Man liest, man staunt, aber so ist der Mensch wohl: Unfähig, zu lange den Schmerz der Anderen in sich wachzuhalten, wenn er selbst in Frieden weiterleben will.

In Deutschland schien von der ersten Stunde an das Interesse an der Krim gewaltig zu sein. „Krim-Annexion“ wurde zum Reizwort, kein anderes bescherte mir um 2014 herum so viele Leserbriefe. Aber das Interesse war allzu oft ein scheinbares; gerade die Meinungsstarken interessierten sich nicht für die Krim, sondern für die Projektionsfläche, die sie bot. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, von dem nicht bekannt ist, dass er die Halbinsel jemals besucht hat, erklärte, die Krim sei „altes russisches Territorium“ und die Annexion „keine Abtrennung, sondern eine durch die Bevölkerung genehmigte, also keine aggressive“ Handlung. Der Fußball-Funktionär Uli Hoeneß vermutete die Halbinsel zwar im Mittelmeer, war aber überzeugt, dass der Kreml sich mit der „Einnahme“ gegen die Expansion der Nato schützen musste. In Kommentaren erklärten Leserbriefschreiber und plötzlich erwachte Hobby-Historiker wieder und wieder, warum die Halbinsel geopolitisch für Russland unverzichtbar sei und das Vorgehen deshalb legitim, warum sie schon immer russisch war und russisch blieb. Plötzlich schien die Krim zur ganz persönlichen Chiffre zu werden – über sie wurde das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland abgehandelt. Und während sich die Schreibtisch-Strategen weit weg vom Ort des Geschehens in ihre geopolitischen Planspiele vertieften, nahmen sie eines nicht wahr: Die Stimmen jener, die vor Ort von der Annexion betroffen sind. Die nun unter russischem Recht leben, ob sie wollen oder nicht.

Gumenyuk lässt insbesondere die Krimtataren zu Wort kommen. Sie wurden aus ihrer Heimat unter Stalin 1944 deportiert und durften erst Ende der 80er Jahre zurückkehren. Nun wird wieder ihr kollektives Trauma wach, fürchten sie wieder, die Heimat zu verlieren. Deportiert werden sie nicht, natürlich nicht. Aber sie werden massenhaft eingesperrt, unter fadenscheinigen Vorwürfen angeklagt. 20.000 Krimtataren, fast ein Zehntel der krimtatarischen Bevölkerung, sollen die Halbinsel bereits verlassen haben. Wer über die Zukunft der Krim spricht, darf sie nicht außen vor lassen.

Von ihnen und vielen anderen, die in diesem Buch zitiert werden, könnten Gerhard Schröder oder Uli Hoeneß zum Beispiel erfahren, wie es ist, heute auf der Krim Ukrainisch zu sprechen. Oder verpflichtet zu sein, in der eigenen Heimat plötzlich Aufenthaltsgenehmigungen von fünf Jahren beantragen zu müssen. Oder in der Medschlis, einer Selbstverwaltung der Krimtataren, aktiv zu sein. Oder seinen Glauben zu praktizieren. Oder die russische Staatsangehörigkeit nicht annehmen zu wollen. Oder nicht damit einverstanden zu sein, wie Lehrbücher umgeschrieben werden und dass ein Denkmal auf der Halbinsel die „grünen Männchen“ ehrt, die sie militärisch eingenommen haben – denn dass die Krim nicht als Folge einer Volksbewegung sich von der Ukraine abspaltete, sondern in einer vom Kreml befehligten militärischen Operation einverleibt wurde, das bekennt mittlerweile mit einigem Stolz sogar der russische Präsident Wladimir Putin. Gumenyuk hält die schleichenden Veränderungen, die zunehmenden Repressionen, die wachsende Angst fest – der Eindruck, dass auf der Krim das Leben wie eingefroren ist, er täuscht.

Man spürt, dass Nataliya Gumenyuk vom Fernsehen kommt. Sie denkt in Bildern und gibt in ihrem Buch O-Tönen, Zitaten, viel Platz, und das ist ein Segen. Ihre Sprache ist schnörkellos, aber nie frei von Empathie. Je mehr sich Gumenyuk als Erzählerin zurücknimmt, desto mehr Raum lässt sie für jene, die sonst keinen Platz haben, nicht vorkommen. Man hört sie tatsächlich denken, reden, hadern.

Da ist die Krimtatarin Nadschije Mamutowa, deren Mann inhaftiert ist und die sich um Kinder von politischen Gefangenen kümmert.

Da ist Mykola Semena, ukrainischer Journalist, dem jahrelange Haft wegen eines Kommentars droht.

Da ist der Anwalt Emil Kurbedinow, der viele der Krimtataren vertritt und sagt: „Wenn du ein Muslim bist, können sie dir die Terrorismus-Paragrafen anhängen; hast du eine säkulare Weltanschauung, fällst du unter die Extremismus-Paragrafen.“

Da ist die Krimtatarin Elmira, die während der Deportationen zur Welt kam und deren Mann nun angeklagt wurde. Sie sagt etwas von einer verstörenden Einfachheit: „Auf unserem Land sind wir unsere eigenen Herren, und diese Fragen müssen mit uns erörtert werden. Uns müsst ihr fragen, was wir wollen.“

Warum fällt uns das allen so schwer?

Es muss für Gumenyuk nicht leicht gewesen sein, dieses Buch zu schreiben; auch jenen zuzuhören, die Positionen vertreten, die in Kyjiw verdammt werden. In einer Zeit, in der in der Ukraine darüber diskutiert wird, ob man die Kämpfer in der Ostukraine anders nenne dürfe als „Terroristen“, verzichtet sie auf wertende Zuschreibungen. Sie hört einfach zu – ein nahezu provozierender Akt in einer Zeit der politischen Dogmen. Doch wie könnte man anders verstehen, wie jene Menschen, die gegen den Maidan waren und ihre Sehnsucht nach der Sowjetunion pflegen, als ukrainische Staatsbürger verloren gehen konnten? Denn auch wenn das russische Militär die Krim fast über Nacht einnahm – die politische Entfremdung der Krim-Bewohner vom ukrainischen Festland hatte Jahrzehnte zuvor begonnen.

Am Ende ihres Buches schreibt Nataliya Gumenyuk: „Überhaupt begleitet mich auf der Krim ständig ein Gefühl der Reue, und ich fühle mich oft schuldig.“ Weil sie Gesprächspartner nicht wieder trifft, weil Kontakte verloren gehen. Darf man das, mitfühlen? Interviewpartner umarmen, jubeln, wenn der Aktivist Oleh Senzow nach fünf Jahren russischer Gefangenschaft freikommt? Ich finde: Wenn man seine Arbeit so macht wie Gumenyuk, dann darf man das. Es wäre zynisch, von einer Ukrainerin wie Gumenyuk eine Distanz zu verlangen, als wäre sie eine Fremde und nicht Staatsbürgerin dieses Landes, über das sie berichtet. Und es ist fast beruhigend zu lesen, dass Gumenyuk seit 2014 nicht nur wieder und wieder auf die Krim gereist ist und mit allen spricht, sondern dass sie auch weiterhin nach Moskau gefahren ist, sogar mit Kollegen des russischen Staatsfernsehens spricht. Dass sie dieses Vorwort für die deutsche Ausgabe einer Korrespondentin anvertraut, die seit Jahren in Moskau wohnt.

Das große Verdienst dieses Buches ist es, ohne „explizite Schlussfolgerungen“ auszukommen, wie Gumenyuk schreibt – mit einer Ausnahme: „Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leid anderer ist“. Sein größtes Verdienst ist es aber, dass es in der Welt ist. Dass es existiert. Dass es die Bewohner dieser Halbinsel sprechen lässt inmitten des Lärms der Geopolitik.

Die Krim mag in diesen Jahren verloren sein, aber ihre Menschen sind nicht vergessen.

Alice Bota,

Korrespondentin der ZEIT für Osteuropa

Moskau, Oktober 2020

Die verlorene Insel

Подняться наверх