Читать книгу Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk - Страница 6

Einleitung

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Wozu schreibst du dieses Buch?“, werde ich von einer Journalistin aus dem Ausland gefragt. Sie macht das nicht der bloßen Kritik wegen: Fragen dieser Art – frei aus dem Bauch – beflügeln das Denken und schärfen den Geist. Ich zögere meine Antwort hinaus, obwohl meine Gedanken ohne Unterlass um diese Frage kreisen.

Ich schreibe dieses Buch, damit die Menschen, die in den vergangenen Jahren nicht auf der annektierten Krim gewesen sind oder dort gelebt haben, zumindest eine vage Vorstellung vom Leben dort bekommen. Dabei geht es nicht unbedingt darum, wie es sein muss, die Mutter, Frau oder Tochter eines politischen Gefangenen zu sein, oder ein Menschenrechtler oder Aktivist, der täglich in Gefahr schwebt; ein Militärangehöriger, der sich entscheiden muss, ob er aus Sorge um seine Familie seinen Eid bricht oder sich in Gefahr begibt oder jemand, der die ukrainische Sprache wertschätzt; ein Priester, dessen Kirche gesetzlich verboten wurde; ein Unternehmer, der vor den Scherben seiner Existenz steht, und so fort. Die meisten Menschen werden weiterhin davon ausgehen, dass diejenigen, die von der Annexion betroffen sind, entweder außergewöhnliche Helden sind, die sich bewusst für den Weg des Kampfes entschieden haben – oder aber, dass sie einfach Pech hatten und sich diesem Kampf nun gezwungenermaßen anschließen. Doch das sind Ausnahmen. Und selbst wenn wir die Helden und die Pechvögel – die bewussten und die umständehalber dazu gewordenen Kritiker der Annexion – als eine Kategorie denken, bilden sie immer noch die Minderheit. Die Mehrheit der Krimbewohner hingegen schlägt sich mit knapper Not durch.

Doch was mag ein Mensch empfinden, der unversehens unter eine Fremdherrschaft geraten ist?

Seit der russischen Annexion der Krim trete ich Jahr für Jahr auf Dutzenden von Konferenzen auf und unterhalte mich mit ebenso vielen ausländischen wie ukrainischen Journalisten und Experten. Und ich muss mit Befremden feststellen, dass selbst die klügsten Köpfe nicht vor der Vorstellung gefeit sind, dass die Krim-Frage als solche ein wenig zurückgestellt werden könne. Schließlich gehe es weder um aktive Kampfhandlungen, die sofort eingestellt werden müssen, noch um Massenfolter oder -verhaftungen von zehntausenden Menschen. Daher sei die Situation auf der Krim nicht sonderlich lebensbedrohlich und die Lösung des Konflikts könne noch warten.

Dabei bleibt der Schmerz der Routine zu keinem Zeitpunkt aus. Dumpf, stechend, bisweilen stumm, und doch ein Schmerz – von jener Sorte, die sich vor Außenstehenden verborgen hält, den du aber jeden Tag verspürst.

Ein Schmerz, an den man sich anpassen und gewöhnen kann, und den man irgendwann als gegeben hinnimmt.

Ein Schmerz, der sich jeden Tag in Erinnerung ruft, da du zum Abendessen wie immer eine zweite Portion zubereitest für deinen Mann, der seit zwei Jahren im Gefängnis sitzt.

Du spürst ihn, weil du dir angewöhnt hast, mit den Kollegen nur über den Arbeitsalltag zu reden, weil sie dich aus heiterem Himmel anschwärzen könnten und du bestenfalls nur deinen Job verlierst.

Er ist urplötzlich da, wenn dir schlagartig bewusst wird, dass du vor einigen Jahren ein Geschäft geführt und mit Diplomaten zusammengearbeitet hast, und nun suchst du Arbeit als Verkäufer auf dem Markt oder versuchst es deinetwegen als Maler.

Er reiht sich mit dir in die Warteschlange zur Eintragung eines Hauses ins Grundbuchamt ein – deines Hauses, das du vor mehr als fünfzig Jahren mit deinen eigenen Händen gebaut hast, doch dein Antrag wird schließlich abgelehnt.

Er wartet am Checkpoint der Verwaltungsgrenze auf dich, wo du gleich doppelt gedemütigt wirst: erst aus Angst vor den Feind, dann, weil deine eigenen Leute in dir einen potenziellen Feind sehen.

Er sitzt neben dir, wenn die Taxifahrer, die normalerweise ohne Punkt und Komma über Politik reden, nun einfach schweigen, um der Fremden gegenüber keine unbedachte Äußerung fallen zu lassen.

Er begleitet dich, wenn du in der falschen Gegend deiner Heimatstadt unterwegs bist und dir ein Bußgeld für eine Ordnungswidrigkeit aufgedrückt wird, dabei ist das Bußgeld deine geringste Sorge, denn es ist nicht dein erster Verstoß, und nun besteht die Gefahr, dass dein Aufenthaltstitel für die Stadt, in der du dein ganzes Leben verbracht hast, fünf Jahre nach der Annexion nicht verlängert wird.

Er macht sich bemerkbar, wenn du aus Höflichkeit nickst und Nachbarn und Freunde aus Kindheitstagen grüßt, mit denen du dich eigentlich zerstritten hast, weil eure Ansichten unvereinbar sind, es aber besser ist, kein Salz in die Wunde zu streuen.

Ich bin im März 2014, am Tag des sogenannten Referendums, auf die Krim gereist. Die letzte im Buch beschriebene Reise auf die Halbinsel fand im März 2019 – während des fünften Jahrestags der Annexion – statt. Insgesamt unternahm ich in diesem Zeitraum sieben (mal kürzere, mal längere) Reisen auf die Halbinsel. Bei jeder Reise habe ich versucht, möglichst viele Städte und Ortschaften zu besuchen – von Jewpatorija bis Kertsch, von Bachtschyssaraj bis Sudak, und natürlich Sewastopol, Simferopol und Jalta. Dabei habe mir immer vorgenommen, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln, und bin Dutzenden von Menschen begegnet – Ukrainern, proukrainischen Russen, prorussischen Ukrainern, Krimtataren. Ich habe mich mit Politisierten und Apolitischen, mit Staatsangestellten und Unternehmern, mit Rentnern und Schülern, mit Ärzten und Lehrern, mit Militärangehörigen und Anwälten, mit den Gebrochenen und mit den Standhaften unterhalten – und mit solchen, denen es auf den ersten Blick gutzugehen scheint.

Der vielleicht nicht schwierigste, aber dafür kniffligste Teil der Arbeit als Journalistin auf der Krim waren für mich nicht die Fragen nach der eigenen Sicherheit oder die Befangenheit der Menschen im Gespräch. In all den Jahren war es jedes Mal dasselbe: immer, wenn ich auf die Krim zurückkehre, hat sich scheinbar nichts verändert – so als gäbe es keinen Lauf der Geschichte mehr. Über die Preise, die Russifizierung, die Ankömmlinge aus Russland wurde bereits erschöpfend berichtet. Wieder werden Krimtataren und Regimegegner festgenommen. Doch ist dies bereits die zwanzigste, fünfzigste, sechsundfünfzigste Verhaftung. Für die betroffene Familie ist jede Verhaftung einmalig, unwirklich, noch nie dagewesen – nicht jedoch für den Leser. Und die absurden Staatsakte mit Militärangehörigen und sowjetrussischen Flaggen am „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“, am Jahrestag des „Referendums“ oder am Tag des Sieges muten zwar bizarr an, aber haben ihren Nachrichtenwert verloren.

Mir scheint jedoch, dass der dumpfe Schmerz der Annexion, den jemand genau in diesem Augenblick verspürt, trotz allem beschrieben werden kann. So, wie man zeigen kann, wie die Besatzung für Millionen von Menschen zu einem neuen Alltag geworden ist. Einem Alltag, an den man sich gewöhnen kann, denn jeden Tag ruft die Arbeit, die Schule, und so fort. Schon das sechste Jahr in Folge erleben die Kinder den Schulbeginn in der Schule eines völlig anderen Staates, und vielleicht wissen sie nicht einmal, dass vor nicht allzu langer Zeit alles noch ganz anders gewesen ist.

Dieses Buch kommt ohne explizite Schlussfolgerungen aus – mit einer Ausnahme: Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leiden anderer ist, und selbst wenn die relative Mehrheit nicht leidet, so hebt die systematische Unterdrückung der Minderheit diese vermeintliche Stabilität wieder auf.

Ich beabsichtige weder eine Analyse der Ursachen der Annexion noch fertige ich eine Chronologie der Eroberung und der Rechtsverletzungen an. Es ist dies eine Sammlung von Reportagen, basierend auf eigenen Reisen, Interviews und Eindrücken. Es ergab sich, dass nur wenige der Journalisten, die während der Annexion – im Februar/März 2014 – auf der Krim tätig waren, wieder dorthin zurückgekehrt sind. Eine ausländische Journalistin beklagte sich darüber, dass ihre große Redaktion nicht das Risiko eingehen wolle, sie „wegen einer Geschichte, die sich kaum verändert“ zurückzuschicken – auch, weil dies zu viel Zeit koste. Mit sämtlichen Genehmigungen und dem Weg über Tschonhar oder Tschaplinka nehmen Hin- und Rückreise einen ganzen Tag in Anspruch.

Es gibt Kollegen, die ich bewundere, da sie häufiger als ich bei den Gerichtsprozessen gegen politische Gefangene anwesend sind und deren Schicksale genauer verfolgen, die jedoch nicht unbedingt seit den Anfängen der Besatzung auf der Krim gewesen sind. Es gibt diejenigen, die geblieben sind, um im Untergrund weiter tätig zu sein, und es gibt solche, die sich gezwungen sahen, ihren Beruf zu wechseln, wobei die Mehrheit der Lokaljournalisten auf das Festland übersiedelte. Seit fünf Jahren widme ich mich der mir zugefallenen Aufgabe, zu beobachten, was sich auf der Krim ereignet, und zu erkennen, was sich geändert hat, was erstarrt ist, und warum der Schmerz nicht nachlässt. Es gibt also noch eine andere Antwort auf die Frage, warum ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben: Da es mir gelungen ist, diesen Menschen zu begegnen und sie mir ihre Geschichten erzählt haben, habe ich einfach nicht das Recht, sie für mich zu behalten.

Die verlorene Insel

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