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Die Stimmen der Inselbewohner

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Nach der Annexion verlor die Krim ihren Status als Halbinsel. Die Abtrennung von der Ukraine, eine neue Gerichtsbarkeit, neue Grenzziehungen und darüber hinaus eine neue politische Mythologie haben das Gefüge der Halbinsel radikal verändert. Ihr Verharren zwischen der Macht des Faktischen und der Ohnmacht des Rechtlichen hat die Krim in eine Insel der Ambivalenz und der Unsicherheit verwandelt – eine Unsicherheit, die in sämtliche Lebensbereiche einsickert und keine andere Wahl lässt, als die eigenen politischen Hoffnungen auf ein Mindestmaß zu beschränken.

Es ist allgemein bekannt, dass Inseln häufig Gegenstand kolonialer Gelüste oder Fixpunkte von Eroberungsfantasien sind. 2014 blinkte die Krim infolge der revolutionären Ereignisse in der Ukraine als roter Punkt auf der geistigen Landkarte Russlands auf – seitdem ist sie nicht länger ein von Sowjetnostalgie überformter Kurort, sondern vollkommen moderne, historische Zweckmäßigkeit; eine Phantasmagorie, die angeblich seit jeher das russische Volk genährt hat. Aus Gründen der Effekthascherei und der Effektivität erfordert die physische Eroberung des Territoriums eine Kolonisierung des Imaginären, einen Glauben an die Alternativlosigkeit der „Rückkehr“ der Krim nach Russland. In dieser Hinsicht tobt seit sechs Jahren – trotz zahlreicher verlorener Debatten – unvermindert ein ideologischer Kampf um die Krim, dauert die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der Besetzung der Krim auf russischen und ukrainischen Mattscheiben und in der Presse weiter an. Die Erklärungen stehen in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander und wetteifern innerhalb der Gesellschaften der Ukraine, Russlands und der Krim eifrig um das Recht auf Wahrhaftigkeit.

Wir erfahren dort von der Rückkehr, dem Wiederaufbau, der historischen Gerechtigkeit, dem wachsenden Wohlstand der Staatsbeamten und von der Erholung der Touristenströme; man erzählt uns von den Stätten patriotischer Heldentaten – damals im Zweiten Weltkrieg, heute im Widerstand gegen die „nationalistische Offensive“ vom ukrainischen Festland. Die Krim ist zu einer Art politischem Laboratorium geworden, wo die Grenzen des Völkerrechts ausgelotet und die Militarisierung des Bewusstseins erprobt werden. Ein solches Bewusstsein ermöglicht es, die Zugeständnisse an die Bürger gering zu halten und gleichzeitig einen hohen Grad an Loyalität sicherzustellen.

Im kollektiven Gedächtnis der Ukraine stellt die Krim eine Wunde dar, die für den Kriegsbeginn und den Verlust des Zuhauses steht. In unserem medialen Kontext wird die Krim häufig auf einen Punkt auf der Landkarte reduziert, der bisweilen neurotisch aufblitzt – ebenso neurotisch, wie die Ukrainer sich und anderen die eine Frage stellen: wem gehört die Krim? Gegenwärtig ist das Sprechen darüber, dass die Krim ein Teil der Ukraine ist, das vielleicht einzige wirksame Schmerzmittel gegen die Wunde, die der Verlust der Krim bedeutet. Gleichzeitig hat der Raub der Halbinsel historische Traumata – insbesondere das Trauma der Deportation der Krimtataren – wieder zutage gefördert. Dieses Trauma fällt mit der gegenwärtigen ethnischen Verfolgung der Krimbevölkerung durch die russischen Sicherheitsbehörden zusammen und bringt unaussprechliches Leid hervor, welches die ukrainische Seite zu überwinden nicht in der Lage ist. Infolgedessen wird die Krim immer mehr zu einem Sinnbild des Schweigens und verschwindet allmählich aus dem politischen Bewusstsein.

Paradoxerweise versucht ausgerechnet Russland, den verlorenen Status der Halbinsel wiederherzustellen. Dabei stellt der utopische Bau der Brücke von Kertsch (der „Krim-Brücke“) nicht nur einen physischen, sondern auch einen mentalen Ausgangspunkt für ein neues Kapitel in der Geschichte dar; darin wiederum ist die jüngste ukrainische Vergangenheit als Sinnbild des Schweigens vorgesehen.

Dieses eiserne Schweigen gilt es zu brechen, und die diskursiven Rahmenbedingungen, in die die Krim und ihre Einwohner geraten sind, zu verändern. Seit der Annexion reist Natalija Gumenyuk regelmäßig auf die Krim, stets bestrebt, den Kontakt mit der Realität nicht zu verlieren – einer Realität, die komplexer ist, als die angebotenen Narrative uns glauben machen. Diese Komplexität ist nicht nur das Resultat ihrer eigenen Ansichten, sondern auch ihres journalistischen Ansatzes. Die Autorin wendet sich an Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Gemeinschaften, sozialer und ethnischer Herkunft und politischer Lager. Im vollen Bewusstsein ihrer eigenen politischen Position stellt sie Fragen und sucht nach Antworten, ohne dabei Partei zu ergreifen; ihr Tasten richtet sich nicht nur an ihre Leserschaft, sondern gilt auch ihr selbst. Der aufrichtige Wunsch, sich ein Bild von der Lage auf der Krim zu machen, spricht aus den in diesem Band versammelten Texten Natalija Gumenyuks. Was verrät uns nun das so verfertigte Stimmungsbild?

Bezeichnenderweise ist es in gewisser Hinsicht ein Klangbild, hervorgerufen durch die Vielstimmigkeit derjenigen, die zurückgeblieben sind. Darunter finden sich „schweigende“ ukrainische Oppositionelle, die Wahlen boykottieren, ihre Kinder von russischen Schulen fernhalten und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche besuchen; da gibt es Unternehmer und Sozialarbeiter, ebenso wie Befürworter der Annexion, die sich mit russischen Korruptionsschemen herumschlagen. Eine andere Woge spült die Geschichten der Nachkommen der unterdrückten Krimtataren – und mit ihnen die Erinnerungen an die Deportation – an die Oberfläche. Zwischen diesen Geschichten schimmert eine neue Inselidentität durch: den Gefangenen, Verlassenen, Vertriebenen fällt die Bürde zu, ihr Dasein unter extremen Restriktionen zu behaupten.

Natalija Gumenyuk setzt alles daran, den Veränderungen sämtlicher Aspekte des materiellen Lebens, der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit sowie den Migrationsbewegungen nachzuspüren – denen also, die die Krim verlassen, und denen (vorwiegend Mitglieder der Sicherheitsbehörden), die sich dort ansiedeln. Zugleich schildert die Autorin die Metamorphose des kollektiven historischen Gedächtnisses, befeuert von einer vorsätzlichen Instrumentalisierung, die einige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wäre. Dieses neue Gedächtnis erscheint als eine Art Monolith, der das Gefühl der Isolation gleichsam zementiert. Es sieht nicht danach aus, als wären in diesem neuen historischen Überbau drastische Brüche vorgesehen.

Die Isolation wird auch über die Grenzen der Krim hinausgetragen. Davon zeugen die Reportagen über das Schicksal von Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko, deren Überstellung und anschließende Freilassung uns dazu zwingen, die Distanz und Verlassenheit der Krim in aller Schärfe nachzuempfinden. Dieses Buch ist ein Versuch, die Isolation zu durchbrechen und Geschichte in ihrem Werden zu begreifen – mit all ihren Widersprüchen, ihrer Gewaltförmigkeit, ihren Zusammenstößen ideologischer Narrative und ihren Praktiken des täglichen Überlebens und der Adaption.

Natalija Gumenyuk begreift Geschichte aus einer humanistischen Warte heraus als ein Mosaik aus Mikroerfahrungen der Inselbewohner, die für sich selbst stehen. Solch eine inklusive Position verlangt nach einem offenen Ende der ukrainischen Geschichte der Krim. Gleichzeitig schlägt die Auseinandersetzung mit den sozialen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens eine Brücke nicht nur zur fernen Krim, sondern fördert auch das Verständnis der Realitäten auf dem ukrainischen Festland. Dieses Buch handelt nicht nur vom Widerstand der Vergessenen und Zurückgelassenen. Sein Erscheinen ist selbst ein Akt des Aufbegehrens gegen die Alternativlosigkeit der Krim-Annexion. An die Stelle des Schweigens muss eine Sprache der Rückkehr treten. Die Artikulation einer solchen Sprache ist eine unermüdliche und akribische Arbeit, die neben der Tatkraft der Autorin auch Empathie und Offenheit für das Menschliche in all seinen Facetten erfordert.

Die Krim ist im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges unfreiwillig zur möglicherweise größten Herausforderung für die ukrainische und internationale Politik geworden. Diese Herausforderung erfordert eine ethische Positionierung und eine radikale Vorstellungskraft, die es ermöglichen würde, die Krim wieder anzueignen und zurückzuholen. Vor Ihnen liegt die Einladung, das Gespräch über die Rückkehr fortzuführen.

Kateryna Mishchenko

Publizistin, Kuratorin

Die verlorene Insel

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