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ОглавлениеFebruar 1990
The Adverts – Bored Teenagers
„Irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt.“, brummt Sirko und nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierpulle.
„Was jetzt?“, fragt Robert nicht weniger schmallippig und glotzt einer Katze hinterher, die über die Straße huscht und zwischen zwei der eintönigen Plattenbauten, die rings um uns aufragen, verschwindet.
„Das alles.“, meint Sirko und deutet mit einer weit ausholenden Geste auf alles um uns herum. Missmutig lassen wir die Köpfe kreisen. Zwischen den sechs- und elfgeschossigen Betonquadern mit ihren endlosen Reihen an beleuchteten Fenstern strebt hier und da ein kleiner Baum dem spärlichen Licht entgegen, das zu dieser Jahreszeit ohnehin nur sehr kurz zwischen die Häuser dringt. Ich ertappe mich bei der Frage, ob die Bäumchen wohl jemals über die Dachkante der Wohnblocks hinausschauen und die Weite der Welt entdecken werden. Jetzt, wo es bereits dunkel ist, erinnern sie mich im fahlen Licht der Straßenlaternen eher an die Baumgerippe auf den Bildern aus dem ersten Weltkrieg.
„Was willst du dir da vorstellen? Das war doch schon immer so.“, mault Robert und sucht neuen Halt auf dem kreisrunden Klettergerüst, auf dessen Dach ein fadenscheiniges Fliegenpilzmuster prangt. Eigentlich ist der Fliegenpilz viel zu eng für uns und natürlich wissen wir, dass Alkoholtrinken auf einem Spielplatz verboten ist, aber wir hatten keine Lust mehr, dem ständigen Klagen meiner Mutter in unserer Küche zu lauschen. Außerdem ist es erstens bereits dunkel und zweitens kümmert es seit einigen Wochen ohnehin niemanden mehr, was wir machen.
„Ich meine das ganze Ding mit der Freiheit.“, klärt uns Sirko über seine innersten Gedanken auf. „Mit der Band, und dem Staat und dem ganzen beschissenen Leben.“
„Und was hast du dir da so vorgestellt?“, frage ich.
„Keine Ahnung.“, muss er zugeben. „Aber auf jeden Fall nicht das.“ Wieder holt er weit aus und zeigt anklagend über den Spielplatz. „Früher wäre schon längst der ABV aufgetaucht und hätte uns angeschnauzt, weil wir den Buddelsand besudeln. Heute könnte ich das ganze verdammte Viertel vollkotzen und es würde wahrscheinlich noch nicht mal jemand merken.“
Ich hege da meine Zweifel, widerspreche Sirko aber nicht, denn ich weiß genau, was er meint. Bis zum Mauerfall war unser Leben von der Partei klar geregelt gewesen. Dann haben wir uns die Freiheit erkämpft, aber leider hat uns niemand beigebracht, wie man damit umgeht.
„Es ist alles so unklar.“, fährt Sirko fort.
„Ist doch geil.“, meint Robert trocken. „Endlich haben wir alle Möglichkeiten. Die ganze Welt steht uns offen.“
„Genau.“, kontert Sirko. „Und darum hocken wir unter einem beschissenen Fliegenpilz und saufen mit Einsiedler Pils unsere Sorgen weg. Das hätten wir vor einem Jahr auch gekonnt.“
„Dann wäre aber der ABV gekommen.“, erinnere ich ihn mit einem breiten Grinsen und wedelndem Zeigefinger.
Sirko geht nicht auf meinen Scherz ein. „Nicht mal mit der Band haben wir es weiter gebracht.“
„Ach, die Band.“, winkt Robert ab. „Mars war eine coole Zeit, aber jetzt, unter den neuen Umständen, wird das nichts mehr. Heavy Metal ist tot.“
„Metal ist tot?“, rufe ich entrüstet und starre ihn aus großen Augen an. „Hast du mal die Charts angehört.“
Robert nickt mit einem überheblichen Lächeln. „Klar, habe ich. Und wie groß sind unsere Chancen, in die Charts zu kommen?“ Betrübt schüttelt er den Kopf. „Nee, lasst mal! Unsere Band war eine Ostband, und Ostbands sind nicht mehr gefragt.“
„Ohne Olaf wäre es sowieso nicht das selbe.“, stimmt ihm Sirko zu.
„Auf Olaf!“, seufze ich und hebe meine Flasche. Umständlich hangeln sich die anderen beiden zurecht und lassen ihre Bierflaschen gegen meine klimpern. Nachdenklich starre ich in die milchigen Schatten zwischen den Betonklötzen. Die Band hatten wir damals mit hochfliegenden Plänen gestartet. Die Welt wollten wir mit unserer Musik erobern. Und gerade als unsere harte Arbeit erste Früchte zeitigte und wir in Berlin ein Konzert hatten, musste diese dämliche Mauer zusammenbrechen. Seitdem hatte keiner von uns mehr ein Instrument angefasst.
Was nicht nur an Olafs plötzlichem Verschwinden in den Westen lag. Wir hätten bestimmt auch einen anderen Drummer finden können, aber irgendwie ist uns das nie in den Sinn gekommen.Hätte mir jemand vorher gesagt, dass mich Olafs Verschwinden so hart treffen würde, ich hätte ihm einen Vogel gezeigt. Olaf war auf seine Art witzig und sein Schlagzeugspiel war definitiv von der besseren Sorte. Aber als er vor acht Wochen verkündet hatte, dass er zu einem Onkel in den Westen zieht, kam es mir vor, als hätte mir jemand ein Brett vor die Stirn gehauen. Wieder spüre ich diesen Stich in der Brust. Er war weit mehr als unser Schlagzeuger. Er war die Seele unserer Band.
„Wieso geht plötzlich alles so schnell?“, frage ich ratlos in die kalte, feuchte Abendluft hinein.
„Was geht schnell?“, fragt Robert ohne großes Interesse in der Stimme nach.
„Alles!“, wiederhole ich. „Vor einem Jahr wussten wir noch genau, was auf uns wartet. Ausbildung, FDJ-Nachmittage, dann achtzehn Monate zur Fahne...“
„Drei Jahre.“, fährt mir Sirko dazwischen.
Ich nicke vor mich hin. „Drei Jahre für die Streber. Dann vierzig Jahre im Betrieb malochen, zweimal im Jahr vor den Bonzen entlangmarschieren und im Sommer zwei Wochen Urlaub an der Ostsee.“, sinniere ich.
„Weihnachten gibt’s Klöße und Gänsebraten.“, fällt mir Sirko seufzend ins Wort. „Und alle vier Jahre bei den Olympischen Spielen kann sich das ganze Land wie eine Weltmacht fühlen.“
„Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, schnauzt Robert uns an. „Habt ihr vergessen, was die Parteibonzen und die Stasi aus diesem Land gemacht haben? Es war wie ein riesiges Gefängnis, und wir sind genau zur richtigen Zeit daraus befreit worden. Wir sind noch jung und haben unser ganzes Leben vor uns. Und das können wir in Freiheit genießen.“
„Freiheit. Genau.“, brumme ich und hebe halbherzig meine Bierflasche.
„Irgendwie hab ich mir die Freiheit anders vorgestellt.“, jammert Sirko.
„Aha. Und wie hast du sie dir so vorgestellt?“, will Robert wissen.
Sirko zuckt mit den Schultern, so gut es geht, ohne von dem Klettergerüst zu rutschen. „Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so.“ Wieder zeigt er vorwurfsvoll in die Dunkelheit hinaus. „Was hat sich denn in unserem Leben schon geändert?“
Roberts Gesicht verzieht sich zu einer verwirrten Fratze. Er schaut uns an, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er nun Angst vor uns haben oder lieber die Männer mit den weißen Kitteln rufen soll. „Seid ihr sicher, dass ihr nichts genommen habt? Dem einen geht alles so schnell, für den anderen hat sich gar nichts verändert. Könnt ihr euch vielleicht mal entscheiden, worüber ihr mir die Ohren vollheulen wollt?“
„Alles ist anders.“, beharre ich auf meinem Standpunkt. „Der Olaf kann doch nicht einfach so in den Westen abhauen. Das geht doch nicht.“, stammle ich hilflos.
„Klar geht das.“, widerspricht mir Robert unnötigerweise. „Und wenn wir schlau sind, machen wir das auch.“
Entgeistert schaue ich ihn an. „Wieso das denn?“
„Dort liegt das Geld auf der Straße.“, erklärt uns Robert. „Hier geht sowieso bald alles vor die Hunde. Wer hier bleibt, ist selber schuld. Olaf hat das ganz richtig gemacht.“
„Und du meinst, die im Westen würden uns alle aufnehmen?“, zeigt sich Sirko skeptisch.
„Aufnehmen?“, regt sich Robert auf. „Wir sind doch keine Bittsteller. Wir sind Deutsche, genau wie die Leute drüben. Die sind auch nicht anders als wir. Wenn wir dort hin ziehen, fällt das gar keinem auf.“
„Und die haben auch genug Arbeit und Wohnungen für alle?“, hake ich zweifelnd nach.
„Klar.“, gibt sich Robert sicher. „So viele sind wir ja auch nicht. Und wir sind schon 40 Jahre mit wenig ausgekommen. Da sind wir doch anspruchslos.“
„Ich weiß nicht.“, murmelt Sirko. „Ich hab keine Lust, in den Westen zu gehen.“
„Irgendwer muss doch auch hier bleiben und das Land aufbauen.“, gebe ich zu bedenken. „Sonst holen es sich die Kommunisten am Ende wieder zurück.“
„Na und?“, meint Robert. „Wenn wir nicht mehr hier sind, können sie damit doch gerne machen, was sie wollen. So wie jetzt kann es jedenfalls nicht weitergehen.“
Fragend glotzen wir ihn an. Wenn Robert seine philosophischen Momente hat, hält man am besten die Klappe und lauscht ehrfürchtig seinen weisen Worten.
„Na, die SED-PDS hat immer noch die Macht. Und bei meinem Vater in der Schule sitzen immer noch der selbe Direktor, die Pionierleiterin und die ganzen alten Kader auf ihren Posten. Die Mauer haben wir vielleicht weggerockt, aber das System ist immer noch das alte.“
„Bei mir im Betrieb ist auch immer noch die gleiche Kombinatsleitung da.“, gebe ich ihm recht.
„Aber die Stasi hat nichts mehr zu melden.“, erinnert uns Sirko daran, dass sich doch etwas geändert hat. „Und ich darf jetzt doch Abitur machen.“, schiebt er freudestrahlend hinterher.
„Ach, wie das denn?“, wundert sich Robert.
„Ich mach Abitur mit Beruf. Sie haben gesagt, dass meine Noten gut genug sind und weil ich quasi Verfolgter der Staatssicherheit war, kriege ich bevorzugt einen Platz.“, antwortet Sirko.
„Warst du?“, hakt Robert kritisch nach.
„Was?“
„Verfolgter?“
„Jedenfalls durfte er kein Abi machen, obwohl seine Noten gut genug waren.“, springe ich Sirko zur Seite. „Das haben wir ihm ganz schön vermasselt, oder?“
Breit grinsend stoße ich mit Robert an. Nicht zuletzt wegen der antisozialistischen Umtriebe unserer Band hatte Sirko nach der 10. Klasse doch keinen der begehrten Nachrückerplätze auf die Erweiterte Oberschule erhalten.
„Und dann sag nochmal, dass sich nichts ändert!“, sagt Robert zu Sirko. „Dann wird ja doch noch ein Ingenieur aus dir.“
„Was für einen Beruf lernst du denn?“, will ich wissen.
„Maschinenbauer.“, antwortet Sirko stolz.
„Das ist cool.“, meint Robert. „Ein Metaller, der Metaller wird.“
Es dauert einen Moment, bevor ich den Sinn dieses Spruches begreife. „Ah, Metaller.“, breche ich etwas verspätet in Heiterkeit aus. „Der ist gut.“
Robert betrachtet mich mit einem weiteren abschätzigen Blick. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragt er mich. „Du bist heute irgendwie komisch drauf.“
Ich lächle verlegen. „Ich weiß auch nicht. Es ist nur so, dass alles irgendwie keinen Sinn mehr ergibt. Wozu mache ich eigentlich noch meine Ausbildung? Was weiß ich denn, ob man in ein paar Jahren überhaupt noch Facharbeiter für Anlagentechnik braucht? Und ständig fehlen Kollegen, weil sie rübergemacht sind. Und keiner weiß eigentlich, was in der Firma abgeht. Und von meinem Vater hab ich schon seit Ewigkeiten nichts mehr gehört. Vielleicht ist der längst tot.“
„Quatsch. Dann hätten sie euch informiert.“, ist sich Robert sicher. „Deine Eltern sind ja offiziell immer noch verheiratet.“
„Sie lassen sich scheiden.“, stelle ich die Tatsachen klar.
„War zu erwarten.“, brummt Robert nur.
„Bei uns in der Firma sind die Leute auch total nervös.“, erzählt Sirko. „Und dann dieses ständige Gelaber am Runden Tisch.“, seufzt er.
„Immer, wenn du den Fernseher einschaltest, sitzen da Männer mit dicken Bärten und reden mit einschläfernden Stimmen aufeinander ein.“, stimme ich ihm zu.
„Ja, aber dadurch bewegt sich doch was.“, ruft Robert. „Ihr seid wirklich schwer von Begriff. Die Runden Tische werden das ganze Land verändern.“
„Gar nichts werden sie verändern.“, erwidert Sirko und hält an der für ihn völlig untypischen melancholischen Stimmung fest. „Die Reden und diskutieren und palavern und am Ende kommt nur kalter Kaffee raus. Die Runden Tische sind nur dafür da, dass die Leute sich in Ruhe aufregen können und am Ende bleibt doch alles beim alten.“
So schnell gibt Robert nicht klein bei. „Warte doch erst mal die Wahlen ab. Nächsten Monat gibt es ein neues Parlament. Stellt euch das doch mal vor! Das erste Mal freie Wahlen in der DDR.“, ruft er begeistert.
„Schnauze da unten!“, brüllt jemand von einem Balkon zu uns herunter. „Quatscht in eurem Kinderzimmer weiter!“ Wir hören, wie ein Fenster energisch zugeschlagen wird.
„Die Wahlen sind doch schon gelaufen.“, meint Sirko mit gedämpfter Stimme. „In allen Umfragen liegt die SPD klar vorn.“ Wie immer ist er gut informiert.
Wie immer bin ich ganz und gar nicht informiert. „Und das heißt?“
„Wir kriegen so eine Art Sozialismus light.“, klärt Robert mich auf.
„Und das ist jetzt gut? Oder schlecht?“, will ich wissen.
„Keine Ahnung.“, gibt Robert zu.
„Wen wählst du denn?“, frage ich ihn. Schließlich sind wir inzwischen alle 18 und dürfen mit entscheiden, wer unser kleines Land demnächst regieren wird.
„DA.“, sagt er fest entschlossen.
„Den Demokratischen Aufbruch?“, fährt Sirko erschrocken hoch und donnert scheppernd mit dem Kopf gegen das Fliegenpilzdach. „Die arbeiten doch mit der DSU zusammen.“
Robert zuckte nur trotzig mit den Schultern.
„DSU?“, hake ich nach.
„Das ist so eine rechte Truppe.“, meint Sirko angewidert.
„Hauptsache Demokratie und mal was Neues.“, gibt sich Robert entschlossen. „Und da die SPD sowieso gewinnen wird, ist es wichtig, dass es eine starke Opposition gibt.“
„Opposition?“ So langsam wird es mir zu bunt. Warum kennen die beiden so viele Worte, von denen ich noch nie gehört habe?
Sirko setzt zu einer Erklärung an, aber Robert fährt ihm dazwischen. „Das willst du ihm jetzt nicht wirklich erklären, oder?“
Sirko sieht so aus, als hätte er genau das vorgehabt.
„Das würde Stunden dauern.“, erinnert ihn Robert an den entscheidenden Nachteil seines Vorhabens. „Liest du überhaupt Zeitung?“, wendet er sich an mich.
„Hin und wieder.“, murmle ich verlegen.
„Du solltest dich wirklich mal politisch bilden.“, fährt er mich an, als wäre er mein Vater. „Wir leben in den aufregendsten Zeiten der Geschichte und du hast keine Ahnung, was um dich herum abgeht. Kein Wunder, dass dir alles zu schnell geht.“
„Ich mache mir erstmal Sorgen um mich, bevor ich mich um die ganze Welt kümmere.“, wehre ich mich. „Jeden Abend hängen wir auf einem kalten, verregneten Spielplatz rum, weil es rein gar nichts für uns zu tun gibt. Da vermisse ich schon fast unsere Pioniernachmittage. Wenigsten hatten wir da eine Aufgabe.“
„Da dürftest du sowieso nicht mehr hin. Wir waren schon in der FDJ.“, erinnert mich Robert.
„Auch da hatte man Angebote.“, bleibe ich unnachgiebig. „Wir konnten zur GST, Sport treiben, Altpapier sammeln...“
„Kannst du doch alles immer noch!“, fährt Robert mir in die Parade.
„Aber es ist doch nicht mehr das selbe.“ Diesmal bleibe ich standhaft. „Das wird doch alles abgewickelt und eingestampft. Du wirst sehen, bald gibt es gar nichts mehr, was wir in unserer Freizeit machen können.“, prophezeie ich.
„Langeweile hat noch niemandem geschadet, sagt meine Oma immer.“, mischt sich Sirko ein.
„Sagt sie das?“, raunze ich ihn an.
„Und Recht hat sie. Die besten Ideen werden beim Nichtstun ausgebrütet.“, beharrt Sirko auf seiner Meinung.
„Ein Hoch auf die Langeweile!“, schreit Robert und reckt seine Bierflasche in die Höhe.
„Haltet endlich die Fresse oder ich ruf die Polizei!“, brüllt erneut die ungehaltene Stimme von oben. Robert reißt die Augen weit auf und verzieht den Mund in gespielter Verlegenheit. Theatralisch hebt er den Finger vor den Mund und macht so laut, dass man es bestimmt auch noch in Dresden hören kann: „Pschschscht!“
Wir brechen in ein befreiendes Lachen aus, das weit durch die Häuserschluchten hallt.
„Macht euch nur lustig, ihr Rotzlöffel. Das Lachen wird euch schon noch vergehen.“, schreit der Mann zu uns herunter und knallt das Fenster wieder zu.
„Besser, wir hauen ab.“, meint Sirko immer noch um Luft ringend.
„Ja, ist sowieso schon spät.“, sagt Robert mit Blick auf seine Armbanduhr.
„Neu?“, wundere ich mich, als ich die silbern glänzende Digitaluhr sehe.
„Ja.“, bestätigt Robert. „Schicke Quarzuhr, was?“
Ich nicke andächtig. „Schon wieder etwas, das sich geändert hat.“
„Du wirst drüber wegkommen.“, lacht Robert und wirft seine leere Bierflasche im hohen Bogen in die Dunkelheit.
„Ist da nicht Pfand drauf?“, fragt Sirko perplex.
„Den schenk ich dem alten Meckersack.“, meint Robert. „Macht‘s gut! Wir sehen uns.“
„Bis die Tage.“, ruft auch Sirko und macht auf dem Absatz kehrt.
Ich stehe in der Dunkelheit und blicke meinen beiden Freunden nach. Und doch hat sich alles geändert, bleibe ich bei meiner Ansicht. Aber vielleicht bin einfach nur ich anders geworden?
„Hallo Tilo!“, begrüßt mich Onkel Kurt, wuschelt mir kurz durchs Haar und stürmt durch unseren Flur Richtung Wohnzimmer.
Tante Elvira nimmt sich etwas mehr Zeit für die Begrüßung und begutachtet mich eingehend. „Du hast dich gar nicht verändert.“, lautet das Fazit ihrer Untersuchung.
„Wie sollte er auch? Wir haben uns erst Weihnachten gesehen.“, sagt Katja in ihrem Rücken. „Kannst du mal Platz für uns machen? Wir wollen nicht den ganzen Abend im Treppenhaus stehen.“
„Also, wie redest du denn mit mir?“ Empört dreht sich Tante Elvira um, wird aber von der geballten Masse meiner beiden Cousinen in den kleinen Flur hineingedrängt.
„Hallo Tilo!“, ruft Silke, die zwei Jahre jünger ist als ich, drängt sich an uns vorbei und verschwindet im Zimmer meines Bruders.
„Sven, Besuch für dich!“, rufe ich Richtung Badezimmer, um ihn vorzuwarnen. Er mag es gar nicht, wenn jemand in sein Reich eindringt, ohne dass er anwesend ist.
Kaum ist mein Ruf verklungen, stürmt Sven auch schon aus dem Bad. Mit einer beachtlichen Geschmeidigkeit zwängt er sich zwischen uns durch und zerrt dabei den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Unter den erschrockenen Blicken meiner Tante saust er in sein Zimmer. Wir können nur ahnen, wie er sich mit gehetztem Blick in seinem Heiligtum umschaut, denn die Tür knallt hinter ihm lautstark in ihr Schloss.
„Kommt doch erstmal rein!“ Mutter reagiert nicht weiter auf die Kapriolen meines Bruders. Sie rollt nur kurz mit den Augen, was ich für mich mit „die Hormone“ übersetze und wirft mir einen flehenden Blick zu. Klar will sie nicht mit Tante Elvira allein sein. Wer will das schon?
Also schnappe ich mir Katja und ziehe sie ins Wohnzimmer. Ich höre noch, wie Elvira ihrer Tochter ein „Darüber sprechen wir noch, junge Dame.“ zuzischt, dann haben wir uns schon durch die Tür geschoben.
Onkel Kurt lässt sich schwerfällig auf Dagmar fallen. Unser altes Schlafsofa dient zur Zeit sowohl als Polsterfläche für Gästehintern als auch als Schlafplatz für meine Mutter. Liebevoll tätschelt er den rauen Stoff, dessen Farbgebung irgendwo zwischen gelb, orange und braun liegt. „Das gute Stück habt ihr ja immer noch.“, brummt er vergnügt und inspiziert die Kuchenstücke, die Mutter geometrisch exakt auf einem Teller angeordnet hat.
„Ja, für was Neues ist zur Zeit echt kein Geld da.“, stöhnt Mutter. „Allein der Umzug hat ein Vermögen gekostet.“
„Na, wenigstens war es nicht schwer, eine kleinere Wohnung zu finden.“, kehrt Onkel Kurt den Optimisten heraus. „Vor einem Jahr wäre das noch ein echtes Problem gewesen.“
„Schön habt ihr es hier.“, trällert Tante Elvira von der Balkontür aus. Sie hat mit ihrem feinen Radar für brenzlige Situationen erkannt, dass dieses Gespräch unweigerlich auf meinen Vater, der es sich irgendwo im Westen bequem gemacht hat, hinauslaufen wird und will den Moment noch ein Weilchen hinauszögern.
Mutter geht auf ihr Angebot ein und tritt neben sie. Gemeinsam schauen sie auf die schneebedeckte Fläche zwischen den Neubaublocks. Ich muss nicht hingehen, um zu wissen, was die beiden sehen. Aber ich kann Elvira in diesem Punkt Recht geben. Zwar wohnen wir immer noch in einer Plattenbausiedlung, aber die ist schon viel früher hochgezogen worden als unsere bisherige Wohngegend. Hier gibt es sogar Bäume und Sträucher, die höher sind als ich. Im Sommer sieht es bestimmt ganz nett aus.
„Wir hatten wirklich Glück.“, meint Mutter und lässt ihren Blick weiter über die winterliche Betonwüste schweifen. „Die Jungs haben jeder ein eigenes Zimmer und es ist jetzt viel kürzer zu meiner Arbeit. Und zur Schule kann Sven jetzt auch laufen.“
„Hat der ein Glück.“, raune ich Katja zu. Irgendwie gelingt es ihr, ein Kichern zu unterdrücken.
„Setzt euch doch!“, bittet Mutter alle zu Tisch. „Der Kaffee ist schon fertig.“
Damit eilt sie in die Küche und wir verteilen uns um den hochfahrbaren Klapptisch.
„Wie läuft die Arbeit?“, fragt mich Onkel Kurt.
„Läuft so.“, druckse ich herum. „Ist halt alles irgendwie komisch.“
„Wieso komisch?“, fegt Elviras schrille Stimme dazwischen.
Verlegen zucke ich mit den Schultern. „Ich kann es nicht richtig beschreiben. Es ist so, als würden wir alle an einem Strand sitzen und auf den Sonnenaufgang warten. Und das schon seit Wochen, aber der Sonnenaufgang kommt nicht.“
Elviras Stirn legt sich bei dem Versuch, meinem Gerede einen Sinn zu entlocken, in Falten.
Aber Onkel Kurt nickt zustimmend. „Ich glaube, ich weiß genau, was du meinst.“
„Und wie läuft es bei dir?“, frage ich ihn schnell, bevor sie mich weiter mit meiner öden Ausbildung nerven können.
„Ach, du weißt ja.“, gibt sich Kurt zufrieden. „Musik funktioniert überall gleich. Als Musiklehrer mache ich einfach da weiter, wo ich aufgehört habe.“ Dann beugt er sich vor und raunt uns in verschwörerischem Tonfall zu: „Aber ihr müsstet mal die Geschichts- und Stabü-Lehrer sehen. Die kommen vielleicht ins Schwitzen.“ Mit der flachen Hand schlägt er auf den Tisch und bricht in ein derbes Lachen aus.
„Huch, Kurt! Jetzt hast du mich aber erschreckt.“, tadelt ihn meine Mutter, die eben mit der Kaffeekanne aus der Küche zurückgekommen ist. Vor ihren Füßen bildet sich ein kleiner brauner Fleck. Schnell zerre ich mein Stofftaschentuch aus der Hose und rubble den verschütteten Kaffee weg. „Zum Glück hat der Teppich braune Muster.“, sage ich froh gelaunt. „Das wird man gar nicht mehr sehen, wenn es getrocknet ist.“, stelle ich mit Kennermiene fest. Wenn die wüssten, was alles schon auf diesem Teppich gelandet ist…
„Lass mal gut sein, Tilo!“, murmelt Mutter mit dieser Resignation, die zu ihrem Markenzeichen geworden ist, seit Vater abgehauen ist. In solchen Momenten schwanke ich immer zwischen dem Gefühl, sie ganz fest in den Arm nehmen zu müssen, und dem Wunsch, ihr mal ordentlich die Meinung zu geigen. Mein Erzeuger ist über alle Berge und keine Miesepetrigkeit der Welt wird ihn wieder zurückbringen. Vor allem dann nicht, wenn er nicht einmal etwas davon mitbekommt. Nicht zum ersten Mal ertappe ich mich bei dem eigenartigen Gedanken, dass vielleicht alles, was meine Mutter braucht, um wieder glücklich zu werden, ein neuer Mann ist.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen schiebe ich meinen Hintern zurück auf den Stuhl. Zum Glück hat das große Kuchenverteilen mit ordentlich Tellerklappern begonnen. Meine Gedanken können sich also auf ganz profane Dinge richten. Ich hab ja auch noch ein ganzes Leben lang Zeit, die großen Probleme der Menschheit zu lösen.
„Wisst ihr schon das Neueste?“, fragt Onkel Kurt zwischen zwei Kuchenhappen und schaut sensationslüstern in die Runde. Er weiß ganz genau, dass wir das Neueste noch nicht wissen. „Elvira sucht sich eine neue Arbeit.“, platzt es aus ihm heraus.
„Aber Kurt.“, kreischt meine Tante und gibt ihm einen tadelnden Klaps auf den Hinterkopf. „Das solltest du doch noch niemandem erzählen. Es ist doch noch gar nichts spruchreif.“
Mein Onkel hebt empört die Hände. „Ich kann doch nicht wochenlang vor mich hin schweigen. Und in der Familie wird man so eine wichtige Neuigkeit ja wohl ansprechen dürfen.“, verteidigt er sich.
„Was ist das denn für eine neue Arbeit?“, fragt Mutter interessiert.
„Verkauf.“, antwortet meine Tante kurz angebunden, aber mit einer Spur Hochnäsigkeit in der Stimme.
„Aha. Und was verkaufst du dann so?“, hakt Mutter nach.
Tante Elvira beugt sich über den Tisch und flüstert, so als würde die Stasi immer noch hinter jeder Tür lauern. „Technische Geräte. Mehr darf ich nicht sagen.“
„Fernseher und so, was?“, stochert meine Mutter ins Blaue hinein.
„Und dann läufst du hier von Tür zu Tür und verscherbelst alte Radugas?“, blödle ich herum, werde aber sogleich von einem vernichtenden Blick meiner Tante zum Schweigen gebracht.
„Es geht um größere technische Geräte.“, meint sie eingeschnappt. „Und die Firma sitzt auch nicht hier in Karl-Marx-Stadt.“
„Elvira muss dann regelmäßig nach Plauen fahren.“, sagt Kurt mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid in der Stimme.
„Herrje!“, ruft Mutter aus. „Doch nicht mit dem Zug, oder?“
„Doch, wieso?“, fragt Tante Elvira pikiert.
„Diese vollen Züge!“, meint Mutter und schnauft theatralisch. „Als wir damals nach Hof gefahren sind, konnte schon in Reichenbach niemand mehr zusteigen. Wir waren eingequetscht wie die Ölsardinen, stimmt‘s, Tilo?“
Ich habe gerade den Mund voll und stimme ihr kopfnickend zu.
„Ach, das hat sich doch schon längst wieder gegeben.“, winkt Onkel Kurt ab. „Das waren nur die paar Wochen im November und Dezember. Da sind doch alle rübergegondelt, um sich die hundert Mark Begrüßungsgeld nicht durch die Lappen gehen zu lassen. Jetzt fährt da keiner mehr hin.“
„Was will man auch in dem Kaff?“, murmle ich.
„Wie funktioniert der Kassettenrekorder, den du dir dort von dem Geld gekauft hast, Ingrid?“, fragt Tante Elvira meine Mutter.
„Macht ganz tolle Musik.“, erwidert Mutter begeistert. „Wollt ihr mal hören?“
„Bleib mal sitzen.“, hält sie Onkel Kurt zurück. „Ich bin mir sicher, da kommt das selbe Gedudel wie bei uns raus.“
Ein dumpfer Laut von unter dem Tisch und das schuldbewusst verzogene Gesicht meines Onkels zeigen mir, dass er für diesen Spruch von seiner Frau zurechtgewiesen wurde. Ich frage mich, ob die Rollenverteilung bei den beiden schon immer so gewesen ist. Oder hat Tante Elvira plötzlich Höhe bekommen, weil sie bald technische Geräte verkaufen darf?
Ich beschließe, meinem Onkel zu Hilfe zu eilen und ihn aus der Schusslinie zu nehmen. „Macht dir deine alte Arbeit keinen Spaß mehr?“, frage ich.
„Ach, weißt du. Als Näherin habe ich mich noch nie richtig wohl gefühlt.“, geht sie ungewohnt ernsthaft auf meine Frage ein. „Ich wollte ja immer etwas anderes machen. Die Welt sehen. Studieren. Aber sie haben mich ja nicht gelassen.“, seufzt sie.
Wer sie sind, wissen wir alle, da brauche ich nicht erst nachfragen.
„Und warum willst du jetzt ausgerechnet technische Geräte verkaufen?“, kratze ich des für mich offensichtlichste Problem ihrer neuen Berufswahl an. „Hast du denn Ahnung von Technik?“
Tante Elvira schnappt nach Luft. Sie sieht aus wie ein Fisch, der von der Angel an Land gezogen wurde. Katja und Onkel Kurt starren mich entgeistert an, so als wäre ich ein übergeschnappter todesmutiger Volltrottel, der sich freiwillig bereit erklärt hat, für den erkrankten Dompteur in den Löwenkäfig des Zirkus Busch zu steigen.
„Wo sind eigentlich Sven und Silke?“, wechselt meine Mutter geistesgegenwärtig das Thema. „Die wollen doch bestimmt auch Kuchen.“
„Ich hole sie schon.“, bietet Katja sich an und wirft mir einen schadenfrohen Blick zu. Sie will unbedingt erleben, wie ich mich weiter in dem Spinnennetz verheddere, dass ihre Mutter gleich vor mir ausbreiten wird.
„Aber das kann doch der Tilo machen.“, wirft meine Mutter mir eine weitere Rettungsleine zu.
„Klar!“ Ich springe auf und sprinte in den Flur, bevor Katja mir zuvor kommen kann. Erst vor Svens Zimmertür komme ich zum Stehen. Drinnen ist es verdächtig ruhig. Wahrscheinlich zündeln die beiden wieder. Denen werde ich einen gehörigen Schreck einjagen.
Die vielen handgemalten Schilder mit blöden Sprüchen wie „Dont com in!!!“, „Eltern verboten!“ und „Tilo, bleib drausen!“ ignoriere ich wie immer. Vorsichtig schiebe ich die Tür auf und stecke den Kopf ins Zimmer. Die Rollos sind heruntergezogen, so dass es fast dunkel ist. Ich hatte wohl Recht mit meiner Vermutung. Sorgsam schnuppere ich, aber es liegt kein Rauchgeruch in der Luft. Eine Flamme kann ich auch nirgendwo entdecken.
Dafür taucht Svens Kopf unter seiner Bettdecke hervor. „Was willst du denn hier?“, quiekt er, schnappt das erstbeste, das ihm in die Finger kommt und wirft seinen Stoffteddybären nach mir.
Ich gehe vorsichtshalber hinter der Tür in Deckung, doch es kommen keine weiteren Wurfgeschosse in meine Richtung geflogen.
„Anklopfen!“, brüllt er.
Ich verdrehe die Augen und klopfe an die halboffene Tür.
Svens Kopf erscheint aus dem Dunkel. „Was ist?“, knurrt er mich an.
„Kuchen ist fertig.“, sage ich.
„Und?“, fragt er ungnädig.
„Ihr sollt kommen.“, gebe ich Mutters Botschaft an meinen Bruder weiter.
„OK.“, brummt er und schiebt die Tür zu.
Ich stelle meinen Fuß hinein, so dass er sie nicht ganz schließen kann. „Ach ja. Und mach vorher den Lippenstift weg.“, flüstere ich mit einem breiten Grinsen und zeige ihm, wo in seinem Gesicht rote Streifen zu sehen sind.
Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, rollt Katja genervt mit den Augen.
„Diese schreckliche Mode!“, ruft Tante Elvira angewidert. „Zerrissene Jeans, bunte Haare, überall Leder. So etwas hätte es bei uns nicht gegeben.“
„Wieso, Tramps gab es doch auch schon damals.“, widerspricht ihr Onkel Kurt zaghaft, erntet aber sofort einen feindseligen Blick.
„Und eingesperrt hat man sie.“, giftet Elvira. „Und das zu Recht.“
Onkel Kurt reißt die Augen weit auf, doch Mutter kommt seinem potentiell selbstmörderischen Einwand zuvor. „Da ist schon was dran. Unter Erich haben sich die Jugendlichen nicht so gehen lassen.“
„Ach hör mir doch mit deinem Erich auf!“, regt sich jetzt Onkel Kurt auf. „Wir waren alle froh, dass wir den endlich los sind.“
„Trotzdem ist das doch keine Art herumzulaufen.“, hackt Tante Elvira weiter auf dem Thema herum und wirft mir einen abschätzigen Blick zu. „Tilo trägt auch so lange Zottelhaare. Wie sieht das denn aus?“
„Das ist doch wegen der Band.“, versucht meine Mutter, mich in Schutz zu nehmen.
„Ach ja. Die Band.“ Tante Elvira gelingt es tatsächlich, das letzte Wort so klingen zu lassen, als wäre es eine tödliche Krankheit. „Na, jedenfalls geht alles den Bach runter. Wenn ich mir die Jugend so anschaue, schwant mir nichts Gutes für unser Land. Diese ganzen Grufties, Punker und Rocker sollte man in Arbeitslager stecken, damit sie mal lernen, wie man sich nützlich macht.“
„Elvira!“, keucht Onkel Kurt empört, wird aber von einer herrischen Geste seiner Frau zum Schweigen gebracht.
„Seht euch bloß mal all die martialischen Nieten an, die sie heute überall tragen. Und dann diese Tretstiefel. Die reinsten Waffen sind das!“, fährt sie in ihrer Tirade fort.
„Das sind doch alles nur gelangweilte Jugendliche.“, bricht meine Mutter eine Lanze für unsere Generation. „Sie haben ja auch nichts mehr zu tun.“
„Die ganzen Aktivitäten sind ja eingestellt.“, stimmt Onkel Kurt ihr zu.
„Aber das ist doch kein Grund, sich so aufzuführen.“, kontert Tante Elvira aufgebracht.
Sven und Silke retten uns mit ihrem Auftritt. Kurz hintereinander huschen sie ins Wohnzimmer und quetschen sich mit an den Tisch.
„Lecker, Kuchen!“, ruft Sven in künstlicher Begeisterung. Eigentlich mag er das süße Zeug gar nicht, aber vielleicht will er so davon ablenken, dass er immer noch rot wie ein Feuerwehrauto ist.
Tante Elviras verzerrte Fratze verwandelt sich augenblicklich in ein zärtliches Mutterlächeln. „Na, ihr zwei. Versteht ihr euch gut?“, säuselt sie.
Ich werfe Katja einen fragenden Blick zu, doch die schnaubt nur kurz und schiebt sich ein weiteres Kuchenstück in den Mund. Während die Erwachsenen unsere beiden jüngeren Geschwister zu ihren Zukunftsplänen ausquetschen und Sven unzählige Fragen dazu beantworten muss, wie es ist, ohne Vater zurechtzukommen, schleichen Katja und ich uns aus dem Zimmer. Die anderen sind so mit den beiden süßen Kleinen beschäftigt, dass sie von unserer Flucht kaum Notiz nehmen. Nur Onkel Kurt zwinkert uns verschwörerisch zu.
In meinem Zimmer kramt Katja eine Kassette aus ihrem Walkman. „Wirf mal ein!“, sagt sie, reicht mir das Band und wirft sich auf mein Bett.
Ich lese die handgeschriebene Beschriftung: „Abstürzende Brieftauben. Was soll das denn sein?“ Ratlos schaue ich zu Katja.
„Mach einfach an!“, fordert sie mich auf und nickt auf meinen SKR 700 zu. Ich stecke die Kassette rein, drücke auf Play und warte gespannt. Nach einem kurzen Rauschen ertönt ein lang anhaltender Akkord. ,Aha, Katja hat sich eine Metalkassette zugelegt.‘, denke ich mir. Doch noch bevor ich über den eigenartigen Namen der Band nachdenken kann, schrammt die Gitarre zu einem billigen Schlagzeuggeklapper los, dass mir das Musikerherz blutet. Ich bin kurz davor, das Band gleich wieder zu stoppen, als ich ein eigenartiges Zucken in der Bauchmuskulatur spüre. Mein Kopf wackelt zu dem einfachen, aber schnellen Rhythmus. Ich versuche, den Text zu verstehen. Da scheint jemand Deutsch zu singen. „Das kriegen wir schon hin!“, kann ich ganz deutlich verstehen. Ich warte die ganze Zeit auf einen Rhythmus- oder Tempowechsel, aber außer einem kurzen Aussetzen der Instrumente passiert gar nichts. Es gibt noch nicht einmal ein Gitarrensolo.
Als der erste Song vorbei ist, lasse ich mich völlig geschockt auf mein Bett fallen. Katja grinst mich von der Seite her an. Ein Polkatakt dröhnt durch mein Zimmer und das billige Geschramme setzt wieder ein.
„Verdammte Scheiße!“, fluche ich.
„Ich wusste doch, dass es dir gefallen wird.“, freut sich Katja.
Ich werfe ihr einen verzweifelten Blick zu. „Ja, macht es. Aber – WARUM?“