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ОглавлениеMai 1990
Abstürzende Brieftauben – Nicht mit mir
„Hey, das ist ja eine Überraschung!“ Verdutzt stoppe ich meine Hand, die soeben die Tür der Bankfiliale aufstoßen will, und schaue in zwei blaue Augen, die mich freudig anstrahlen.
„Petra!“, rufe ich überrascht. „Was machst du denn hier?“
Sie schaut sich in dem winzigen Vorraum des Containers um, der mangels baulicher Alternativen fürs erste die Filiale einer großen deutschen Bank beherbergt, und hebt eine Augenbraue. „Würdest du mir glauben, wenn ich behaupten würde, dass ich Bier kaufen will?“
Ich überlege kurz verdattert, ob sie mich auf den Arm nehmen will. Dann wird mir klar, dass sie genau das vor hat. „Nicht wirklich. Hast du ein Konto hier?“ Ich nicke in Richtung der Glastür, die zum Schalterraum führt.
„Ja, seit ein paar Wochen. Ich will gerade meine neue Kundenkarte ausprobieren.“ Sie hebt das blaue Stück Plaste in die Höhe und wedelt damit in Richtung eines grauen Kastens in der Ecke des Vorraums.
„Aha.“, sage ich. „Und was kannst du damit machen?“
Ein freudiges Lächeln breitet sich auf Petras Gesicht aus. Ich kenne diese Miene. So schaue ich auch immer, wenn ich merke, dass ich mehr weiß als andere. „An dem Automat dort hinten bekomme ich meine Kontoauszüge.“, erklärt sie. Das letzte Wort spricht sie betont langsam aus, damit ich es mir auch merken kann. Wie gnädig von ihr. Sie steckt die Karte in einen Schlitz. Ich zucke kurz zusammen, als das Gerät zum Leben erwacht und das Plastikkärtchen verschluckt. Es knackt und knirscht gewaltig im Inneren des grauen Kastens. Besorgt schiele ich zu Petra hinüber, die seelenruhig neben mir steht und der Dinge harrt, die da kommen. Hat sie gar keine Angst, dass diese Maschine ihre schöne neue Karte gleich wieder kaputt macht?
„Das klingt nicht gut.“, unke ich, doch da stoppt das Brummen schon und Petras Karte kommt in einem Stück wieder zum Vorschein. Kurz darauf spuckt der Automat auch zwei Blatt Papier aus. Neugierig versuche ich zu erkennen, was darauf geschrieben steht. Petra schnappt sich die Blätter und schlägt mir damit auf die Nase. „Bankgeheimnis!“, sagt sie mit todernster Miene.
„Und da steht drauf, wie viel Geld du hast?“, frage ich skeptisch.
„Genau. Und weil ich jetzt weiß, dass ich noch welches habe, kann ich mir gleich etwas am Geldautomat holen.“
Gespannt verfolge ich, wie sie die Karte in eine andere Maschine steckt. Ihre Finger nähern sich einem Zahlenfeld unterhalb des Bildschirms. Kurz, bevor sie die Zahlen berühren, hält Petra inne und schaut zu mir herüber. „Dreh dich bitte weg!“, fordert sie mich auf. „Ich muss jetzt meine Geheimnummer eingeben, die geht dich nichts an.“ Erstaunt von der klaren Ansage drehe ich mich um und warte, bis ich hinter mir das Rascheln von Bargeld wahrnehme.
Ich drehe mich wieder um und schaue Petra an wie ein Einhorn, das vom Mars gefallen ist. „Woher weißt du das alles?“, frage ich sie ehrfürchtig.
Sie zuckt gelassen mit den Schultern „Wie gesagt, ich hab das Konto schon seit ein paar Wochen. Warum bist du eigentlich hier?“
„Ich hab mir gerade ein Konto eingerichtet.“, verkünde ich stolz. „Bisher hat meine Mutter das für uns gemacht, aber sie meinte, es sei an der Zeit, dass wir unseren Kram selbst geregelt kriegen.“
„Und da hat sie dich hierher geschickt.“, vermutet Petra.
Ich kratze mich unschlüssig am Kopf. „Nicht wirklich. Sie hat ja selbst keine Ahnung. ,Mach dir ein Konto.‘ waren ihre genauen Worte. Ich bin hierher gekommen, weil die Bank gleich um die Ecke ist. Irgendwo muss man ja anfangen mit dem Kapitalismus.“
Sie lächelt mich in stummem Verständnis an. „Wollen wir noch ein Stück gehen?“, fragt sie mich.
Dagegen habe ich ganz und gar nichts einzuwenden und so überqueren wir die Straße und tauchen ein in die unverändert grau-braunen Häuserschluchten des Plattenbaugebiets. „Ist schon eigenartig, oder?“, sinniert Petra. „Da sind wir in einem Alter, in dem unsere Eltern uns helfen sollten, Erwachsen zu werden. Eigentlich könnte man erwarten, dass sie uns die Welt erklären und unter die Arme greifen. Stattdessen wissen sie noch nicht mal, wie man ein Konto eröffnet.“
„Alles muss man selbst rausfinden.“, stimme ich ihr zu. „Erst gestern hat einer bei uns geklingelt und meinte, dass wir unbedingt eine Lebensversicherung brauchen. Was weiß ich denn?“ Verzweifelt hebe ich die Arme. „Brauche ich eine?“
Petra schaut nachdenklich in den blauen Himmel. „Keine Ahnung. Zur Zeit weiß ich überhaupt nichts mehr. Gestern kamen meine Eltern mit irgendwelchen Formularen und haben mich ganz verzweifelt gefragt, ob ich ihnen helfen könnte, die auszufüllen.“, plappert sie aufgebracht weiter drauf los. „Woher sollte ich das denn können? Manchmal würde ich gern einfach ausziehen. Sie können mir bei nichts helfen und Geld haben wir auch keins mehr.“
„So schlimm?“, frage ich voller Anteilnahme.
Grimmig nickt sie vor sich hin. „Sie haben beide keine Arbeit mehr.“, murmelt sie. „Aber was soll man machen. Geht ja allen so.“
„Meine Mutter hat ihre Stelle noch.“, erwidere ich.
„Bestimmt nicht mehr lange.“, sagt Petra. Beim Klang ihrer Stimme überkommt mich trotz der angenehmen Frühlingstemperaturen ein leichtes Frösteln.
„Schaust du dich schon um?“, versuche ich, das Thema zu wechseln.
„Wonach?“, fragt sie und schaut mich irritiert an.
„Nach einer Wohnung.“
„Quatsch.“, sagt sie und winkt ab. „Wovon soll ich die denn bezahlen? Und überhaupt – ich wüsste gar nicht, wie ich die Suche angehen soll.“
„Freie Presse?“, schlage ich vor.
„Zeitung.“, schnaubt sie. „Vermutlich hast du recht. Aber es ist ohnehin müßig. Ich geh noch zur Schule und muss mit meinen Eltern leben. Auch wenn es mir manchmal so vorkommt, als wäre ich ihre Mutter.“
„Da sagst du was.“, stöhne ich. „Seit neuestem muss ich ständig mit ihr einkaufen gehen. Dauernd will sie wissen, welche Sachen besser sind und ob ihre alte Kernseife den Fleck nicht genauso gut rauskriegt wie das neue Flüssigwaschmittel.“
„Meine Eltern wollen jetzt endlich ein Telefon beantragen. Aber da, wo sie früher hätten fragen müssen, ist niemand mehr und dem neuen Laden in der Stadt trauen sie nicht.“, erzählt Petra.
„Irgendwie kann ich sie ja auch verstehen.“, nehme ich unsere Eltern in Schutz. „Sie haben über 35 Jahre ihres Lebens in einem Land verbracht und alles gelernt, was man zum Leben in diesem Land braucht. Und plötzlich ist alles anders, quasi von einem Tag auf den anderen. Im Grunde geht es ihnen genauso wie uns. Wir fangen alle von Null an.“
„Nur, dass wir noch nicht wissen, wie es gewesen ist.“, überlegt Petra. „Mann, da haben wir ja Schwein gehabt, oder?“, grinst sie und boxt mich mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Irgendwie schon.“ Ich lächle schief zurück. „Weißt du was? Ich hab eine großartige Idee. Wir helfen uns gegenseitig beim Lernen. Immer, wenn einer was rausgefunden hat, erzählt er es dem anderen.“
„So wie vorhin mit der Bankkarte?“, hakt sie nach.
„Genau.“, sage ich begeistert. „Wenn uns schon sonst niemand sagen kann, wie der Hase hier läuft, müssen wir uns unter die Arme greifen.“
Sie mustert mich misstrauisch. „Lass deine Arme mal schön bei dir.“, erwidert sie mit einem neckischen Lächeln.
Ich spüre, wie ich unter ihrem Blick rot werde. Verlegen drehe ich mich weg und setzte meinen Weg fort. „Tschuldigung.“, nuschle ich undeutlich.
„Huch, da ist aber jemand dünnhäutig.“, säuselt sie neben mir.
Ich ignoriere ihre Bemerkung und schlage abrupt ein anderes Thema an. „Ich hab das noch niemandem erzählt.“, beginne ich stockend. „Weißt du. Ich mach eine Ausbildung bei Textima.“
„Ist doch super.“, freut sie sich für mich.
„Naja. Eigentlich ist das gar nicht so mein Ding. Facharbeiter für Anlagentechnik.“, schnaube ich verächtlich. „Ich bin dort nur gelandet, weil sie mich nicht für das Abi zugelassen haben.“ Ein paar Sekunden lang laufen wir schweigend nebeneinander her. „Aber jetzt lassen sie plötzlich wieder jeden auf die Schule.“
„Und da willst du wieder hin?“, fragt sie zweifelnd.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich will nicht in 20 Jahren wie meine Mutter auf dem Sofa sitzen und jammern, warum es das Leben so schlecht mit mir gemeint hat. Ich will andere Länder sehen, etwas arbeiten, das wirklich Sinn macht, und es mir und der ganzen Welt beweisen.“
„Und das kannst du als Anlagentechniker nicht?“
Ich schaue scheel zu ihr hinüber. Das kann sie unmöglich ernst meinen. „Natürlich nicht.“
„Dann musst du wohl da kündigen.“, stellt sie emotionslos fest.
„Kündigen? Einfach so?“, frage ich entsetzt.
„Kriegst du kalte Füße?
„Also...nein.“, stammle ich herum. „Es ist nur. Was mache ich denn stattdessen.“
Sie bleibt stehen, legt mir eine Hand auf den Arm und schaut mir tief in die Augen. „Melde dich an einer Schule an und mach dein Abitur. Und dann kannst du machen, was du willst.“
So wie sie es sagt, klingt es einfach. Einfach und verlockend. Wie ein Engel der Freiheit steht sie vor mir, gesandt, um mich in das gelobte Land zu führen.
„Du hast recht.“, rufe ich begeistert. „Ich gehe wieder zur Schule. Und wenn ich erst das Abi hab, dann gehe ich nach Amerika.“
„Amerika?“, fragt sie und schaut mich mit schief gelegtem Kopf an.
„Klar. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“, beginne ich zu schwärmen. „In Amerika kannst du alles erreichen.“
„Nimmst du mich mit?“, unterbricht sie meine Lobeshymne.
Verdattert suche ich nach dem roten Faden meiner Rede. „Äh, nach Amerika?“
„Nein, nach Angola.“, antwortet sie und verdreht die Augen. „Natürlich nach Amerika.“
„Also, wenn du Lust hast.“
Ein dünnes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Würde ich sonst fragen?“
„Du hast was gemacht?“ Sirko bleibt mitten in der Bewegung stehen und dreht sich entsetzt zu mir um.
Ich brauche etwas länger, um anzuhalten und verdrehe die Augen. Bei meiner Mutter hätte ich mit dieser Reaktion gerechnet, nicht aber bei meinem besten Freund. „Gekündigt.“, wiederhole ich noch einmal mit Betonung. „Das ist, wenn man...“
„Ich weiß, was kündigen ist.“, platzt es aus Sirko heraus. „Sag mal, bist du bescheuert? Überall werden die Leute entlassen und sind am Boden zerstört. Du aber hast eine Arbeit und schmeißt sie einfach hin?“, geifert er völlig unerwartet herum.
Beschwichtigend hebe ich die Hände. „Jetzt mach mal halblang!“, versuche ich, ihn zu beruhigen. „Ist ja nicht so, als würde ich die Versorgung meiner Großfamilie gefährden. Ich hab nur eine Ausbildungsstelle, bei der mich schon seit Wochen keiner mehr ausbildet. Es gibt nichts zu tun, keiner weiß, was er mit mir anfangen soll. Und ob ich mit der Ausbildung jemals eine richtige Arbeit finden werde, steht auch in den Sternen. Das hast du selbst gesagt!“, füge ich hinzu, um Sirkos Ansatz zu einer Widerrede zuvorzukommen. „Die haben sogar gesagt, dass sie echt froh über meine Entscheidung sind. Ich kriege noch Geld bis Ende Juli und dann gehe ich wieder in die Schule.“, rufe ich freudestrahlend.
Gemächlich setzen wir unseren Weg fort. „Wie, du kriegst noch Geld bis Ende Juli?“, wundert sich Sirko.
Ich ziehe die Schultern hoch. „Sie haben gesagt, dass Ausbildungsplätze echt schwer aufzulösen sind. Und weil sie eine Umstrukturierung planen, können sie mit uns eigentlich nichts mehr anfangen. Da wäre es ein feiner Zug von mir, selbst zu kommen. Und darum haben sie irgendeine Vereinbarung draus gemacht, weil ich sie so weniger koste, als wenn sie mich bis zum Ausbildungsende durchfüttern müssten.“
Sirko kaut für eine Zeit lang auf einem unsichtbaren Strohhalm herum. „Umstrukturierung.“, murmelt er dann vor sich hin. „Klingt irgendwie nicht gut, oder?“
„Stimmt.“, sage ich. „Klingt vor allem nach Entlassungen, wenn du mich fragst.“
Schweigend schlendern wir weiter. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen werde, aber irgendwie freue ich mich schon auf die Schule.“, sage ich dann unvermittelt.
Ein schiefes Lächeln macht sich auf Sirkos Gesicht breit. „Hast du schon überlegt, wo du dich anmelden willst?“
Nachdenklich schüttle ich den Kopf. „Die Kündigung kam dann doch etwas spontan.“, muss ich eingestehen. „Ich glaube, ich nehme die Wenzel Verner. Da kann ich früh zu Fuß hinlaufen und wenn zwischendurch eine Stunde ausfällt, kann ich sogar nach Hause gehen.“
„Wenn das mal das ausschlaggebende Kriterium ist.“, meint Sirko achselzuckend. „Warum nicht die Karl Marx?“
Ich schnaube spöttisch. „Wie klingt das denn? Ich habe Abi an der EOS Karl Marx in Karl-Marx-Stadt gemacht? Die machen sich doch vor Lachen in die Hose, wenn ich das irgendwem erzähle.“
Er schaut mich pikiert an.
„Bei dir ist das was anderes.“, versuche ich, ihn zu beschwichtigen. „Du machst dein Abi mit 1,0, da fragt keiner nach. Außerdem glaube ich, dass ich nicht der einzige bin, der gern noch nachträglich auf eine EOS will und da ist die Marx für die meisten bestimmt die erste Anlaufstelle. Bei der Verner hab ich wahrscheinlich bessere Chancen.“
Sirko will etwas erwidern, als wir von einem lauten Krachen auf der anderen Straßenseite aufgeschreckt werden. Wir schauen hinüber und sehen einen Afrikaner, der sich über ein auf der Seite liegendes Moped beugt.
„Was macht der denn da?“, wundert sich Sirko.
„Siehst du die Kiste?“ Ich deute auf eine große Seekiste neben dem Plattenbau. „Sieht aus, als will er das Moped für die Reise nach Hause verpacken.“
„Und dabei ist es ihm umgefallen?“, wundert sich Sirko.
Bevor ich etwas erwidern kann, kommen drei Mittzwanziger bei dem Mann an, der gerade mit Mühe die Simson wieder hochgestemmt hat.
„Hey, guck mal die Kiste da.“, geht einer der Männer den Afrikaner an. „Das ist genau die richtige Wohnung für dich, Bimbo.“
Die anderen beiden schlagen sich lachend auf die Schenkel.
Angestachelt von seinen Freunden, versucht der Gruppenkasper noch einen draufzulegen. „Geht mal wieder eine Brikettlieferung nach Afrika?“, brüllt er und deutet auf die Seekiste.
Wieder brechen seine Kumpane in schallendes Gelächter aus.
Aus einem Impuls heraus mache ich Anstalten, die Straße zu überqueren, doch Sirko hält mich mit einem festen Griff um den Oberarm zurück. Es sind bereits weitere Männer und Frauen im Anmarsch. „Das könnte gefährlich werden.“, raunt mein Freund mir zu.
Mir behagt es gar nicht, einfach nur so dazustehen und dem Geschehen zuzuschauen, aber Sirko hat recht. Wenn ich jetzt eingreife, mache ich es für den Mann nicht besser und für mich nur schlimmer. Zwei Frauen gehen mit gesenkten Köpfen an den Pöblern vorbei, ein paar Leute bleiben aber stehen und stimmen in das Gelächter ein. Die drei Krawallbrüder fühlen sich dadurch erst recht ermuntert, weiter zu machen. Mit Gesten, als würden sie eine Hühnerschar vor sich hertreiben, rufen sie „Husch, husch!“ und nicken immer wieder Richtung Kiste. „Verschwinde hier, du Drecksau!“, brüllt ein Mann aus der inzwischen auf zwei Dutzend angeschwollenen Menge.
„Und komm erst wieder, wenn du dich ordentlich gewaschen hast.“, ruft eine Frau und erntet dafür einige Lacher.
„Richtig so!“, brummt eine tiefe Stimme direkt neben uns. Erschrocken zucken wir zusammen. Auch auf unserer Straßenseite hat sich inzwischen ein kleiner Auflauf gebildet. Zwei ältere Männer stehen, die Hände in den Jackentaschen, direkt neben mir und schauen dem Treiben aufmerksam zu. „Die Briketts sind die faulsten Schweine überhaupt.“, meint der kleinere der beiden, dessen besonderes Markenzeichen ein überdimensionaler, vom Rauchen gelblich verfärbter Schnauzbart ist.
„Führen sich auf, als wären sie die Allergrößten.“, stimmt ihm sein dicker Begleiter zu.
Der Afrikaner auf der anderen Straßenseite hat endlich einen Ausweg entdeckt und flüchtet vor der zunehmend aggressiver werdenden Menge in Richtung eines Hauseingangs. Hinter der Tür wartet bereits einer seiner Landsleute, bereit, die verschlossene Pforte für seinen in Bedrängnis geratenen Leidensgenossen zu öffnen. Begleitet wird der Flüchtende bei seinem Spurt von Affenlauten und Beschimpfungen.
„Erst uns die Weiber alle wegnehmen und dann den Schwanz einziehen!“, schreit der Mann, von dem die ganze Randale ausgegangen war, hinter ihm her.
„Haut bloß dahin ab, wo ihr hergekommen seid!“, schallt es aus der Menge.
„Das Moped bleibt aber hier!“, verkündet einer der Pöbler und schiebt es unter dem lauten Jubel der Umstehenden die Straße hinab.
„Das ist doch Diebstahl.“, sagt eine hagere Frau und schüttelt erschüttert den Kopf.
Die beiden Männer neben mir drehen sich entrüstet zu ihr um. „Sind sie auch so eine Negerfickerin, was?“, raunzt der Schnurrbart sie an.
„Ich darf doch wohl bitten!“, regt sich die Frau auf.
„Horst, lass sie!“, versucht der dicke Mann, den Streit im Keim zu ersticken. Dann wendet er sich an die Frau. „Es kann kein Diebstahl sein, weil das ein in der DDR gefertigtes Produkt ist. Wenn die Ausländer meinen, sie könnten hier her kommen und sich alles unter den Nagel reißen, was nicht festgeschraubt ist, dann haben sie sich geschnitten. Wir lassen uns doch von den Negern nicht ausbeuten.“
Zustimmendes Gemurmel um uns herum zeigt an, dass er die Meinung der Mehrheit ausspricht.
Ich bin so geschockt, dass mir für einen Augenblick schwindelig wird. Wie durch einen Schleier sehe ich, wie zwei vietnamesische Frauen mit Einkaufsbeuteln um die Ecke kommen und abrupt stehen bleiben. Schleunig drehen sie sich um und eilen davon, aber die Menge vor dem Haus hat sie schon gesehen. Einige Jugendliche nehmen die Verfolgung auf.
Meine Sinne müssen mir einen üblen Streich spielen, denn für einen Moment sehe ich Falk Leuschner und Robert unter den Jungs, die den beiden Vietnamesinnen mit wilden Beschimpfungen hinterherstürmen.
„Noch so ein Beispiel.“, verkündet Horst mit dem Schnauzbart selbstgefällig. „Die kaufen uns die ganzen Läden leer.“ Dabei deutet er in Richtung der geflohenen Vietnamesinnen.
„So ein Quatsch.“, widerspricht ihm eine dicke Frau. „Fast alle Läden haben inzwischen Mengenbegrenzungen für die Ausländer eingeführt. Bei uns zum Beispiel kriegen die nicht mehr als eine halbes Kilo Fleisch.“
„Und wer bitte braucht ein halbes Kilo Fleisch?“, kommt der Dicke seinem schnurrbärtigen Freund zu Hilfe.
„Genau!“, stimmt ihm ein Mann weiter hinten zu. „Die sollten gar nichts zu Essen mehr bekommen.“
„Das Viehzeug muss ausgerottet werden, und zwar schnell.“, wagt sich eine Frau aus der Deckung.
Allmählich droht die Stimmung in offene Gewaltbereitschaft umzuschlagen. Während die Menge langsam nach links abdriftet, wohl um der Neugier Herr zu werden, was aus dem Einkauf der beiden Vietnamesinnen geworden ist, zerrt Sirko mich in die andere Richtung. Erst als wir außer Sichtweite des Pöbels gelangt sind, lässt er mich los und bleibt stehen.
„Sag mal, hab ich das eben richtig gesehen?“, fragt er mich fassungslos.
„Was genau?“, will ich wissen.
„Robert?“, platzt es aus ihm heraus.
Also war es doch keine Sinnestäuschung. Ich schüttle entgeistert den Kopf. „Letztes Jahr hat er sich von ihnen noch Hosen nähen lassen und heute jagt er sie durch die Straßen?“
„Voller Dachschaden!“, meint Sirko tonlos und verabschiedet sich. Ich schaue ihm nach, wie er mit bleischweren Schritten die Straße hinunterstapft und immer mehr mit dem Hintergrund des trostlosen Plattenbaumeeres verschwimmt.