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ОглавлениеApril 1990
The Clash – Lost in the Supermarket
„Tilo, wir sind dann mal weg.“, ruft Mutter aus dem Flur.
Verschlafen stecke ich den Kopf zur Zimmertür hinaus. Sven und Mutter stehen mit dem dunkelgrünen Lederkoffer und einem neu gekauften Rucksack abmarschbereit vor der Tür. Mein Bruder zieht eine griesgrämige Schnute. „Warum muss ich mit zur doofen Westverwandtschaft und Tilo darf hier bleiben? Das ist so unfair.“, jammert er.
„Tilo muss arbeiten und Onkel Heinz und Tante Helga sind nicht doof.“, weist Mutter ihn mit ungewöhnlich scharfen Worten zurecht. „Sie haben uns die ganzen Jahre über Westpakete geschickt, damit wir wenigstens etwas Luxus in unserem Leben haben. Du solltest ihnen dankbar sein.“
„Jetzt brauchen wir aber keine Westpakete mehr.“, erinnert Sven sie daran, dass die Mauer ja offen ist. „Was will ich denn in Lauterbach? Das wird bestimmt total öde.“
„Reiß dich zusammen!“, fährt Mutter Sven an und verdreht die Augen. „Jahrelang mussten Heinz und Helga den weiten Weg zu uns auf sich nehmen, da ist es das Mindeste, dass wir sie auch einmal besuchen, wo wir endlich frei reisen können. Außerdem ist Christian da. Der macht bestimmt tolle Sachen mit dir.“
Svens Blick wird noch um einiges panischer. Ich kann meinen Bruder gut verstehen. Christian ist ein alter Angeber, der ihn jede Sekunde spüren lassen wird, was für arme Würstchen wir in seinen Augen doch sind.
„Mach das beste draus!“, versuche ich, meinen kleinen Bruder aufzumuntern. „Und sieh es mal so: Du hast Ferien, ich muss malochen.“
„Schwacher Trost.“, murmelt er und stemmt sich den Rucksack auf den Rücken.
„Pass auf dich auf, Tilo!“ Mutter tätschelt mir zärtlich die Wange. „In der Zuckerdose sind noch 50 Mark als Reserve, falls du nicht zurecht kommst.“
„Mutti, ich verdiene selber Geld.“, erinnere ich sie. „Mach dir keinen Kopf!“
Sie schüttelt mit einem mütterlich milden Lächeln den Kopf. „Wie schnell ihr groß geworden seid.“, sagt sie. Dann fällt ihr Blick auf die Uhr, die mahnend über unserer Küchentür prangt. „Herrje, jetzt aber los, Sven! Wir müssen die Straßenbahn kriegen, sonst verpassen wir noch unseren Zug.“
Mehrere „Tschüss!“ hallen durch das Treppenhaus, dann schlägt endlich unten die Haustür zu. Ich schließe die Tür zu unserer Wohnung und schaue mich irritiert in unserem schmalen Flur um. Eigentlich sollte ich mich jetzt ja frei fühlen. Es ist das erste Mal, dass ich die ganze Wohnung für mehrere Tage ganz für mich allein haben werde. Aber irgendwie überkommt mich ein Gefühl tiefer Traurigkeit. So muss sich ein Kätzchen fühlen, dass an einem kalten Winterabend in einer klapprigen Pappschachtel allein am Straßenrand ausgesetzt wird, schießt es mir durch den Kopf. Oder ein Rottweiler, der an einen Laternenpfahl gebunden wird, meldet sich die Korrekturabteilung in meinem Gehirn. Ja, das Bild mit dem Hund gefällt mir deutlich besser. Wenn schon ausgesetzt und von allen verlassen, bin ich ganz sicher eher ein Rottweiler als ein Kätzchen.
Verwundert über meine eigenartige Gemütsverfassung schlurfe ich in die Küche. Zu meiner Enttäuschung muss ich feststellen, dass Mutter heute Morgen gar keinen Kaffee gekocht hat. Wahrscheinlich wollte sie länger schlafen und die beiden frühstücken in der Mitropa. Ich spüre Neid auf Sven in mir aufsteigen. Wann haben wir das letzte Mal in der Mitropa gegessen? Das muss Jahre her sein. Rostock? Sommerurlaub? Vage rauschen einzelne Bilder vor meinem inneren Auge vorbei. Sven, wie er seinen Kakao verschüttet. Mutter, die immer wieder ängstlich um sich schaut und uns permanent mit einer Serviette abtupft, damit keine Flecken auf unseren Hemden entstehen und Vater, der lauthals lacht, als mir ein Stück Brötchen in den Kakao fällt.
Beim Gedanken an meinen Vater reißt eine weitere Wunde in meinem Inneren auf. Der Brief aus Gießen, kurz nachdem er letzten Sommer rübergemacht ist, war die letzte Nachricht, die wir von ihm erhalten haben. Schön abgesetzt hat sich der alte Auskenner. Eigentlich sollte ich sauer auf ihn sein, weil er uns zwei Halbwüchsige mit einer heulenden Mutter allein gelassen hat, aber insgeheim bewundere ich auch seine Courage, einfach aus seinen alten Bahnen auszubrechen und nochmal ganz von vorn anzufangen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.
Ich klatsche mir mit den Händen kräftig ins Gesicht. Scheiß Sentimentalitäten!
Die Küchenuhr zeigt an, dass es bereits viertel elf ist. Ins Bett gehen lohnt nicht mehr, also beschließe ich, meine Woche Freiheit mit einem zünftigen Frühstück zu beginnen. Beim Blick in den Kühlschrank muss ich diesen Plan aber noch einmal revidieren. Ein Stück Butter, eine angefangene Flasche Milch und ein fast leeres Glas Marmelade versuchen vergeblich, die große weiße Leere im Innern des Kühlschranks zu verdecken. Nach kurzer Suche entdecke ich auch noch einen Ranft altes Brot. Wollten die mich hier verhungern lassen? Ich fasse es nicht. Wütend streiche ich extra dick Butter auf das Brot. Mutter wäre entsetzt, aber das hat sie verdient. Dafür wird sie büßen. Ich öffne die Zuckerdose und hole den 50-Mark-Schein heraus, den sie dort deponiert hat. Friedrich Engels‘ Konterfei blickt mir vorwurfsvoll von dem roten Scheinchen entgegen. Unbehaglich lege ich den Schein mit dem Portrait des großen Mäzens des Vordenkers der Arbeiterklasse nach unten auf den Tisch. Das olle Chemiewerk auf der Rückseite raucht wenigstens einfach ausdruckslos vor sich hin. In seiner Komplexität strahlt es eine Stärke und Ruhe aus, die mir wieder etwas Halt gibt. Wie die Schornsteine da in die Höhe ragen, hat es beinahe etwas Majestätisches. Man könnte glatt vergessen, wie doll es zwischen Espenhain und Wolfen immer stinkt. Und Olafs Tante aus Böhlen, die ihre Wäsche nie raushängen kann, weil sie dann ganz braun wird, ist auch nirgends zu sehen.
Ach verdammt! Ich knülle den Schein zusammen und stecke ihn in die Hosentasche. Eine Bestandsaufnahme der Vorräte nebst Einkaufszettel ist schnell gemacht und so mache ich mich auf den Weg zum Versorgungszentrum.
So ein VZ ist eine großartige Erfindung. Unten die Kaufhalle, in der man fast alles bekommen kann, was man sich wünscht, vorausgesetzt man ist eher der bescheidene Typ, oben mehrere Geschäfte, eine Poliklinik und ein Restaurant. Alles, was man braucht auf der Fläche eines Fußballfelds. Schön übersichtlich, man kennt sich. Weil jedes Viertel im Neubaugebiet sein eigenes VZ hat, bekommt man nur ganz selten jemanden zu sehen, dessen Gesicht man nicht zuordnen kann.
Umso erstaunter bin ich, als ich vor der Kaufhalle einen kleinen Menschenauflauf bemerke. Unter den Leuten, die Maulaffen feilhalten, sind erstaunlich viele unbekannte Gesichter. Alle glotzen auf die Eingangstür der Kaufhalle, die für meine Blicke hinter den Köpfen der Schaulustigen verborgen bleibt.
Was es heute wohl geben wird? Im November standen die Leute so da, als es das erste Mal Berge von Bananen gab. Aber daran haben wir uns doch inzwischen gewöhnt, oder? Nach und nach zerstreut sich die Menge. Die meisten der Wartenden strömen durch die Kaufhallentür nach innen, einige drehen aber einfach ab. Sie sind wirklich nur stehen geblieben, um mit den anderen im Kollektiv zu staunen.
Als sich die Menschenmenge so weit aufgelöst hat, dass ich einen Blick auf die Kaufhalle werfen kann, gerate ich vor Schreck beinahe ins Stolpern. Wo vor zwei Wochen noch eine ausdruckslose weiße Tür aus dem grauen Betonkasten des Versorgungszentrums herausgrüßte, strahlt mir jetzt eine Farbkanonade in gelb und blau entgegen. Auf den Fenstern, die bisher einfach mit Milchglas den Blick nach innen verdeckten, damit man nicht gleich von draußen sehen konnte, was es alles nicht gab, kleben bunte Poster mit allen erdenklichen Leckereien drauf. Über dem Eingang steht blau auf gelb „Edeka“.
Nach dem ersten Schock tastet sich mein Hirn langsam an die neue Situation heran. So etwas hatte ich doch schon einmal gesehen. Nach kurzem Grübeln überrollt mich die Erkenntnis wie eine Dampflok. Natürlich, in Hof. Als wir unser Begrüßungsgeld abgeholt hatten, sind wir alle zusammen zuerst in eine dieser Kaufhallen gegangen. Die Wessis haben die Dinger Supermarkt genannt, und das nicht ohne falsche Bescheidenheit. Denn im Gegensatz zu unseren HO-Verkaufsstellen mit den schlecht getarnten halbleeren Regalen gab es dort wirklich alles in Hülle und Fülle.
Nur die Riesenschlange von DDR-Bürgern, die geduldig darauf warteten, ihr Begrüßungsgeld in Westware umzusetzen, fehlt heute. Dafür stehen vor dem Eingang ordentlich aufgereiht große Einkaufswagen. Als Aktivist der ersten Stunde, der die Verwirrung vor den Hofer Supermärkten hautnah miterlebt hatte, als jemand, der mit dem Einkauf fertig war, seinen Wagen nur gegen Übergabe einer D-Mark hergeben wollte, weiß ich natürlich Bescheid, wie das hier läuft. Ich krame eine DDR-Mark hervor und suche den Schlitz für das Pfandgeld. Enttäuscht muss ich feststellen, dass es hier keine so raffinierte Sicherungstechnik gibt. Die Wagen sind wie eh und je zur freien Verfügung bereitgestellt. Wozu habe ich die tumultartigen Szenen im Westen dann überhaupt mitgemacht. Jetzt, im Nachhinein, muss ich darüber lächeln, wie der dicke Mann mit hochrotem Kopf erklärte, er habe ebenfalls eine Mark für den Wagen hergeben müssen und sehe gar nicht ein, jetzt kostenlos auf das gute Stück verzichten zu müssen. Ich möchte gar nicht wissen, wie oft die Verkäuferinnen in Hof vor die Läden rennen mussten, um ihren ungebildeten Brüdern und Schwestern aus der DDR die Sache mit dem Pfand für die Wagen zu erklären.
Als ich den Einkaufswagen unter dem blau-gelben Schild durchgeschoben habe, prasseln unzählige unbekannte Eindrücke auf mich ein. Zunächst ist da dieses eigenartige Drehkreuz, das mir den Weg verstellt. Mit dem Einkaufswagen stellt es ein unüberwindbares Hindernis dar. Wie soll man das Riesending da durch bekommen? Neben mir bietet ein Knirps eine Lösung an, bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie so gedacht ist. Er schiebt den Wagen unter einer Metallstange durch, an der große orangefarbene Plastestreifen hängen. Damit er seinen Wagen nicht verliert, bückt er sich kurzerhand und gelangt so in den Bereich hinter der Barriere.
„Junger Mann, wollen sie hier den ganzen Tag stehen und uns alle aufhalten?“, keift eine alte Frau mich von hinten an. Irritiert drehe ich mich um, doch sie sieht nicht so aus, als könnte sie mir außer ihrer unterschwelligen Aggression irgendwelche Ratschläge geben, die zur Lösung der kniffligen Lage beitragen könnten. Eine Frau in gelber Jacke, auf die das blaue Logo der EDEKA aufgedruckt ist, kommt mir zu Hilfe. „Hier den Wagen durchschieben.“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln und zeigt auf die Querstange mit den orangefarbenen Plastestreifen. „Und Sie gehen hier durch das Drehkreuz.“
Dankbar nicke ich ihr zu und schiebe den Wagen durch das Gitter. Es bereitet mir einige Schwierigkeiten, ihn nicht loszulassen, während ich mich durch das Drehkreuz zwänge, aber mit etwas Umgreifen gelingt mir auch das. Zufrieden packe ich den Wagen mit beiden Händen und schaue die alte Frau hinter mir herausfordernd an. Soll sie mir das doch erstmal nachmachen!
Die Alte schüttelt ungeduldig ihren dauergewellten Kopf, stupst den Wagen durch die Barriere und trippelt durch das Drehkreuz, ohne sich weiter um den Metallkorb auf Rädern zu kümmern. Auf meiner Seite schnappt sie ihn sich und schenkt mir ein triumphierendes Lächeln.
„Eine schicke Kaufhalle haben Sie da eingerichtet.“, trällert sie der Verkäuferin zu.
„Das ist keine Kaufhalle.“, belehrt sie die Frau in Gelb. „Man nennt das jetzt Supermarkt.“
Die Alte blickt sie konsterniert an. „Im Westen bei meiner Schwester vielleicht. Hab sie ja oft genug besucht.“, mosert sie. Aha, daher kennt sie sich also mit dem Drehkreuz aus. Unverschämtheit, wie die sich hier durchs Leben mogelt. „Aber bei uns bleibt das weiter eine Kaufhalle.“, beharrt sie auf ihrer Meinung.
Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern und widmet sich wieder kommentarlos ihren Aufgaben.
Während die alte Frau zügig abdampft, brauche ich eine Weile, um mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Das letzte Mal als ich hier war, standen überall weiße Regale, in denen die angebotenen Waren mehr oder weniger lieblos aufgestapelt waren. Nach dem Mauerfall hatte sich die Lage insofern deutlich gebessert, als dass es plötzlich fast alles gab, was man suchte. Aber dieser Farbflash, der mich heute hier empfängt, überfordert mich. Obst und Gemüse sind zu wahren Bergen gestapelt. Ich frage mich, wer das plötzlich alles essen soll. Vor dem Mauerfall sind doch auch alle satt geworden, und da gab es nicht einmal ein Fünftel von dem, was heute hier herumliegt. Wenn das mal nicht schlecht wird! Neugierig schreite ich an den grünen Körben entlang, in denen die verschiedenen Obst- und Gemüsesorten darauf warten, von interessierten Kunden in ihren Wagen umgestapelt zu werden. Von der Hälfte davon kenne ich noch nicht mal den Namen, geschweige denn, dass ich wüsste, was man damit anfangen sollte. Ich packe Bananen, Äpfel und Orangen ein, dazu eine Gurke und Tomaten. Sicher ist sicher. Ich hätte ja auch gern mal eine Kiwi probiert. Die sehen irgendwie putzig aus, aber ich mache mir doch Sorgen, dass sie mit ihrer pelzigen Schale zu sehr im Bauch kitzeln.
Ich schaue auf meinen Zettel. Milch, Joghurt, Butter, Brot, Käse – das sollte zu schaffen sein. Als ich um die erste Ecke biege, bleibe ich erneut vor Staunen stehen. Ich traue meinen Augen kaum. Das Regal mit dem Dosengemüse ist über und über mit bunten Büchsen gefüllt. So viele verschiedene Gemüsesorten kann es unmöglich geben. Ehrfürchtig schreite ich die Reihen ab. Wer hätte gedacht, dass es so viele Arten von grünen Bohnen gibt? Nachdenklich kratze ich mich am Kopf. Haben wir wirklich jahrzehntelang hinterm Mond gelebt? Wie peinlich ist das denn?
Eine Wand der Kaufhalle ist mit einem großen Schrank zugestellt, aus dem mir kalte Luft entgegenströmt. Bisher kannte ich nur Kühltruhen, in denen man herumkramen konnte, aber offenbar will Edeka meinen Rücken schonen und platziert die Kühlwaren praktisch in Brusthöhe. Ich greife nach Milch. Die Butter ist auch schnell gefunden, liegt aber trotzdem ganz unten, so dass ich mich doch bücken muss. Weiter zum Joghurt.
Unschlüssig bleibe ich vor der großen Auswahl an Fruchtjoghurten stehen. Mann, ist das kompliziert. Es gibt allein vier verschiedene Sorten Erdbeerjoghurt. Es hilft mir nicht wirklich weiter, dass die Becher alle unterschiedlich geformt sind und verschiedene Aufdrucke haben. Woher soll ich wissen, welcher der vier Joghurte der richtige für mich ist? Kann man Joghurt auf unterschiedliche Art und Weise herstellen? Zögerlich nehme ich einen Plastebecher mit der Aufschrift Bauer aus dem Regal und drehe ihn hin und her. Witziger Name - als ob Joghurt auch vom Maurer kommen könnte. Aha, hier steht etwas von Zutaten. Ich greife nach einem weiteren Becher mit riesigen Erdbeeren drauf. Ein Vergleich der Zutaten macht mich auch nicht schlauer. Auf den ersten Blick scheint in beiden Bechern das Gleiche drin zu sein. Aber das wäre ja Blödsinn. Warum sollte man ein und den selben Joghurt in zwei verschiedene Becher füllen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Ich beschließe, vier Erdbeerjoghurts mitzunehmen, von jeder Becherform einen. Wenn mir die Verpackungen nicht weiterhelfen, muss ich dem Mysterium wohl in einem Selbstexperiment auf den Grund geben. Morgen früh gibt es bei mir Erdbeerjoghurt. Da mache ich den ultimativen Esstest.
Beim Käse bietet sich mir eine ähnlich große Auswahl. So langsam vermisse ich die klare Struktur der Warenauslage unserer alten Kaufhalle. Ich hatte mit fünf Minuten für das Einkaufen gerechnet, jetzt bin ich schon seit fast einer halben Stunde in diesem Sammelsurium an allem Möglichen. Ich frage mich, ob die im Westen überhaupt Freizeit haben, wenn sie ständig so lange in ihren Supermärkten zubringen. Nachdem ich einige Zeit vergeblich mit der Suche nach dem Käse zugebracht habe, den Mutter immer gekauft hat, entscheide ich mich für einen Emmentaler. Der sieht kompakt aus. Außerdem steht auf der Packung, dass in ihr 20 Prozent mehr Käse drin ist. Das klingt doch prima. So langsam habe ich das raus mit dem Kapitalismus.
Nach weiteren zehn Minuten Irrlauf durch die Gänge der Kaufhalle, die immer wieder in neuen Windungen und Sackgassen enden, erreiche ich endlich die Kasse. Unterwegs frage ich mich, was mit all den DDR-Produkten passiert ist, die es bis vor kurzem noch in der Kaufhalle gab. Ich kann sie nirgends entdecken. Wahrscheinlich stecken die jetzt auch alle in diesen neumodischen bunten Verpackungen.
„Aua.“, kreischt eine Frau in einem schicken Pelzmantel vor mir auf.
„Mensch, pass doch auf mit deinem Wagen!“, brüllt mich der Mann an ihrer Seite an. Seine Gesichtsfarbe wechselt innerhalb von Sekunden von aschfahl zu dunkelrot. „Hast du keine Augen im Kopf?“
Ich war so in Gedanken, dass ich der Frau wohl meinen Wagen in die Fersen gerammt habe. „Entschuldigung.“, nuschle ich verlegen. Rechts und links stehen Regale, hinter mir drängen weitere Kunden nach. Panik steigt in mir auf. Es gibt keinen Fluchtweg und der Mann ist verdammt groß und breit.
„Noch einmal und ich hack dich zu Kleinholz, Freundchen!“, droht er mir und fuchtelt mit seinem fetten Zeigefinger vor meinem Gesicht herum.
„Lass gut sein, Hans!“, redet seine Frau beschwichtigend auf ihn ein. „Ist ja nichts passiert.“ Sie wirft mir einen letzten garstigen Blick zu und zieht ihren Mann dann weiter an die Kasse, an der zwei giggelnde Mädchen gerade ihren Dederonbeutel befüllen.
Erleichtert atme ich tief aus, als ich endlich wieder an die frische Luft gelange. Einkaufen war auch schon mal einfacher, stelle ich ernüchtert fest und schlendere mit meiner mageren Beute im Beutel vom Versorgungszentrum zurück nach Hause.
„Tilo?“, werde ich unvermittelt von der Seite her angerufen. Verwundert drehe ich mich um. Der schlaksige Typ mit den braunen Locken, die schmächtige Brust unter einer Jeansjacke versteckt, kommt mir merkwürdig bekannt vor. Im Geiste rattere ich die möglichen Alternativen durch und bleibe bei einer eher unwahrscheinlichen Möglichkeit hängen.
„Daniel?“, frage ich unsicher.
Er nickt mit einem breiten erleichterten Lächeln auf den Lippen. „Eben der.“, bestätigt er meine Vermutung.
Verblüfft stelle ich meinen Nylonbeutel ab. „Aber was machst du denn hier? Ist dir Berlin zu klein geworden?“ Daniel war mein bester Freund, bis seine Familie im Sommer vor vier Jahren Hals über Kopf nach Berlin umgezogen ist. Sein Vater war in die Wirtschaftsplanung aufgestiegen und seine Mutter wurde als Dolmetscherin in einem Ministerium untergebracht. Hin und wieder hatten wir uns noch Briefe geschrieben, aber der Kontakt war in den letzten Jahren doch sehr lose geworden.
Daniel schüttelt den Kopf und macht einen Schritt auf mich zu. „Wir sind wieder zurückgezogen. Bei meiner Oma geht es nicht mehr so flott wie früher. Sie braucht meine Mutter. Und mein Vater kann arbeiten, wo er will.“
„Ach ja?“, frage ich neugierig nach. „Was arbeitet der denn?“
Daniel runzelt die Stirn. „Er verkauft irgendwelche Sachen. So genau hat er uns das nie erzählt. Alle zwei Wochen kommt er nach Hause, ansonsten ist er immer unterwegs.“
„Und deine Mutter?“, wundere ich mich. „War die nicht bei einem Ministerium?“
Wieder nickt er heftig. „War trifft es ganz gut. Dort weht jetzt ein anderer Wind. Man hat ihr gesagt, dass ihre Dienste nicht mehr länger gebraucht werden. Russischdolmetscher scheinen irgendwie aus der Mode zu kommen.“
„Und wie lange bleibst du jetzt hier?“, will ich wissen.
„Erst mal bis ich nächstes Jahr das Abi habe. Dann werde ich mal sehen.“
„Stimmt ja. Dich haben sie ja auch auf die EOS gelassen.“, murmle ich nachdenklich.
„Bist du sauer deswegen?“, fragt er unsicher.
Ich winke beschwichtigend ab. „Nicht die Bohne. Weißt du was, vielleicht werde ich auch noch Abi machen.“, verkünde ich mit breiter Brust.
„Das solltest du unbedingt.“, bestärkt er mich in meiner spontanen Idee. „Es ist gar nicht so schwer. Du warst zwar nie der beste Schüler, aber auf jeden Fall helle im Oberstübchen.“
„Na, du musst es ja wissen.“, sage ich unbestimmt.
„Und ob.“ Er grinst mich mit diesem Lausbubenlächeln an, das ich früher schon so an ihm gemocht hatte. „Was machst du jetzt eigentlich so?“, will er von mir wissen.
„Textima.“, knurre ich. „Ausbildung.“
„Was Bodenständiges?“, meint er. Irgendwie klingt das in meinen Ohren nicht nach einem Kompliment. „Auch nicht schlecht.“
„Wie gesagt. Ich wäge meine Optionen ab.“, versuche ich, das Thema abzuwürgen.
Quietschende Reifen neben uns helfen mir dabei. Ein schwarzer Mercedes hält an der Straße. Der Motor erstirbt und vor unseren Blicken schiebt sich Robert aus der Kabine. „Wenn das mal nicht der Daniel Trautmann ist.“, ruft er jovial und klopft Daniel kräftig auf die Schulter. „Lässt du dich auch mal wieder in der Heimat blicken?“
„Er ist wieder hergezogen.“, setze ich ihn ins Bild.
Robert fallen fast die Augen aus dem Kopf. „Was?! Bist du wahnsinnig geworden? Da lebst du in einer solchen Zeit in Berlin, der aufregendsten Stadt der Welt. Und dann ziehst du freiwillig zurück in dieses gottverlassene Kaff?“ Missbilligend schüttelt er den Kopf.
„Seine Oma braucht Hilfe.“, mische ich mich im Bemühen, Daniels Rückkehr ins rechte Licht zu rücken, wieder ein.
„Weißt du, ich kann auch selber reden.“, sagt Daniel pikiert. Dann dreht er sich wieder zu Robert. „So toll ist Berlin gar nicht. Die Wessis fallen wie Heuschrecken ein. Ständig stehen Leute in teuren Klamotten vor den Häusern und feilschen, wie sie die Stadt unter sich aufteilen wollen. Sie behaupten, die Bausubstanz wäre überall marode und müsse dringend saniert werden.“
„Womit sie ja auch völlig recht haben, oder?“, fällt ihm Robert ins Wort.
„Mag sein, aber vorher wollen sie die Häuser quasi geschenkt haben. Und wenn sie dann fertig hergerichtet sind, kann sich kein Schwein mehr leisten, dort zu wohnen.“, regt sich Daniel auf.
„Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand!“, versucht Robert, ihn zu beschwichtigen. „So schlimm wird es schon nicht kommen.“
„Du wirst schon sehen!“, hält Daniel dagegen. „Warte nur, bis sie auch hierher kommen!“
„Was ist eigentlich mit dir passiert?“, frage ich Robert und kümmere mich damit um drängendere Probleme. „Seit wann sind deine Haare so kurz?“
Strahlend streicht er sich über die wenigen Haarstoppel, die der Rasierer noch hat stehen lassen. Keine Spur mehr von seiner Metallermähne. „Sieht cool aus, was?“, heischt er nach Lob für sein dämliches Aussehen. „Die langen Haare waren leider nicht so toll fürs Geschäft. Mit so einer Kommandofrisur sieht man viel patenter aus.“
„Sagt wer?“, will ich wissen.
„Herr Ginger.“, antwortet Robert kurz angebunden, als sei damit alles gesagt.
„Herr Ginger?“, hake ich nach.
„Er ist mein Verkaufsleiter.“, schiebt Robert als weitere Information hinterher. Sein Gesichtsausdruck zeigt deutlich, dass ich spätestens jetzt ja wirklich wissen sollte, worum es geht.
Tu ich aber nicht. „Verkaufsleiter? Was ist denn bei dir los?“
Robert hebt abwehrend die Hände. „Weißt du, ich hab echt keine Zeit, jetzt darüber zu reden. Ich mach jedenfalls ordentlich Kohle, wie du unschwer erkennen kannst.“ Dabei zeigt er auf den Potenzverstärker, der neben uns am Straßenrand steht.
„Jetzt versteh ich auch, warum wir keine Proben mehr machen.“, murmle ich.
„Proben?“, fragt Daniel interessiert nach.
„Wir hatten mal eine Metal-Band.“, lässt Robert ihn großspurig wissen. „Aber man muss mit der Zeit gehen.“, sagt er zu niemandem bestimmten. „Das Geld liegt in Zeiten wie diesen auf der Straße. Man muss es nur bereitwillig aufsammeln. Und so lange es kein anderer tut, bin ich gern bereit, den Straßenkehrer zu spielen.“
Mit diesen Worten macht er auf dem Absatz kehrt und verschwindet in seinem Mercedes. „Man sieht sich!“, lässt er uns noch wissen, dann jault der Motor neben uns einmal laut auf und Robert braust davon, zur nächsten Geldaufsammelstation.
Nachdenklich schauen wir ihm hinterher. „Ich konnte ihn noch nie leiden.“, stellt Daniel fest. „Hab nie verstanden, warum du ihn mochtest.“
„Er war so anders.“, überlege ich. „Hat sich nichts gefallen lassen. Das hat mir imponiert.“
„Ich finde, er ist ein richtiger Großkotz.“, erklärt Daniel mit ernster Miene. „Der denkt nur an sich und seinen eigenen Vorteil. Und wie er dem Geld hinterherrennt.“ Angewidert schüttelt mein alter Freund den Kopf. „Das wird nochmal sein Untergang sein. Auf Dauer kann sowas doch nicht gut gehen.“
Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter. „Es sind neue Zeiten, Daniel. Vielleicht ist es genau das, was du brauchst, wenn du es zu was bringen willst.“
Nachdenklich schaut Daniel die Straße hinunter, auf der Robert in seinem Mercedes verschwunden ist. „Mag sein. Aber dann mag ich die neuen Zeiten nicht besonders.“
Ich drücke seine Schulter kurz. „Schön, dass du wieder da bist.“
Daniel setzt ein breites Lächeln auf. „Metal-Band, hm?“
„Was soll denn dieser ironische Unterton?“ Schmollend verschränke ich die Arme vor der Brust. „Wir waren richtig gut.“
„Soso.“, macht er mit spöttischer Mine. „Habt ihr auch mal gespielt?“
„Du hast ja keine Ahnung.“ Ich boxe ihn gegen die Schulter. „Als die Mauer gefallen ist, hatten wir ein Konzert in der Nähe von Berlin.“
„Ach ne.“ Jetzt ist er doch überrascht. „Hättest mal was sagen sollen. Dann wäre ich vorbeigekommen.“
Ich gehe nicht weiter auf seinen Vorwurf ein. „Komm mal vorbei, wenn du Zeit hast.“, sage ich stattdessen und zeige auf den Neubaublock, in dem wir wohnen. „Gleich dort drüben. Der dritte Eingang. Klingelschilder kannst du ja noch lesen, oder?“, frage ich herausfordernd.
Sein Blick folgt meiner Richtungsanzeige. „Mach ich.“, sagt er und strahlt mich an. „Und lesen haben wir sogar in Berlin geübt, ob du‘s glaubst, oder nicht.“