Читать книгу Punk Rock - Nick Lubens - Страница 3
ОглавлениеMärz 1990
Die Art – Irish Coffee
„Warum treffen wir uns eigentlich hier?“, frage ich und rühre in dem Irish Coffee, den mir die biedere Kellnerin mit einem scheelen Blick vor die Nase gestellt hat. Ich bin mir sicher, dass sie kurz davor war, mich nach meinem Ausweis zu fragen.
„Ich dachte mir, wo du jetzt 18 bist, könnten wir uns mal gepflegt wie Erwachsene treffen.“, meint Sirko. Mit spitzen Fingern führt er die Kaffeetasse an seinen Mund. Er muss heute fahren, deshalb muss er seinen Genuss auf verkehrstaugliche Drogen beschränken.
„Aber das Café Oben?“, zweifle ich seinen Geschmack an. „Hier gehen meine Großeltern Kuchen essen.“
„Eben!“, erwidert er gut gelaunt. „Dieses Lokal hat Tradition. Hier atmen die Wände Geschichte.“
Skeptisch blicke ich die vergilbten Tapeten und Gardinen an, durch die man undeutlich den Verkehr auf der Wilhelm-Pieck-Straße verfolgen kann. „Man könnte hier echt was draus machen.“, sinniere ich.
„Was willst du denn hier draus machen?“ Sirko verzieht das Gesicht.
„Stell dir das mal vor!“, beginne ich zu fantasieren. „Die Gardinen runter, fett schwarze Wände. Dort hinten eine Bar, hier in der Ecke das DJ-Pult. Das wäre ein geiler Club. Und die Aussicht hat auch was.“
Wie auf Befehl schaut Sirko zum Fenster. Ein Trabi und ein Opel rauschen in hohem Tempo vorbei, sonst sind nur ein paar ältere Herrschaften zu sehen, die ihren Sonntagsspaziergang absolvieren.
„Du spinnst ja!“, meint Sirko nach einer Weile. Ich schrecke zusammen und brauche eine Weile, bis ich begreife, dass er auf meine Idee reagiert. „Hier kommt nie ein Club rein. Das Café Oben ist eine Institution. Das wird es noch in hundert Jahren geben.“
„Spießer!“, brumme ich und schütte mir den heißen, mit Whiskey verdünnten Kaffee hinter die Binde. Eine wohlige Wärme breitet sich in meinem Inneren aus, wird aber sogleich von einem scharfen Brennen im Hals und dem heftigen Wunsch verdrängt, aufs Klo zu rennen und dort alles wieder rauszukotzen. Angewidert verziehe ich das Gesicht.
„Alles in Ordnung?“ Sirko mustert mich besorgt.
„Also irgendwie hatte ich mir das leckerer vorgestellt.“, maule ich.
„Willkommen in der Welt der Erwachsenen.“, ruft er überschwänglich und breitet die Arme aus.
Ein paar Omas mit dauergewellten Lockenfrisuren schauen zu uns herüber und schütteln pikiert den Kopf.
„Und das finden Leute lecker?“, frage ich und deutet angewidert auf die Tasse vor mir.
„Keine Ahnung.“, gesteht Sirko ein. „Aber man kriegt ordentlich einen in die Birne, wenn man genug davon trinkt.“
„Genau das, was ich jetzt brauche.“
„Komm, lass uns gehen!“, sagt Sirko. „Bis zum Luxor ist es noch ein Stück zu laufen.“
Ich krame nach meinem Portemonnaie, aber Sirko hält mich mit einer Geste zurück. „Lass mal! Das ist mein Geburtstagsgeschenk.“, sagt er gönnerhaft.
Ich werfe ihm ein schräges Grinsen zu. „Noch nie was besseres bekommen.“, lasse ich ihn wissen.
Er winkt nur verächtlich ab. „Kostverächter.“
Während Sirko mit der alten Kellnerin die Rechnung klärt, gehe ich zum Garderobenständer und hole meine Lederjacke und seinen Militärparka. Als ich an den alten Frauen vorbeikomme, stecken die auffällig unauffällig die Köpfe zusammen und tuscheln, so dass es das ganze Café hören kann, über die Jugend, die Rocker und die Armee. Irgendwie mag ich die Richtung nicht, in die ihr Gespräch vermutlich abdriften wird, also beeilen wir uns und fliehen vor den bornierten Blicken der wettergegerbten Damen.
Unten angekommen biegen wir nach rechts ab. Vor uns tauchen zwei Typen mit aggressiver Kurzhaarfrisur auf. Sie schleppen einen Kasten Bier und scheinen es furchtbar eilig zu haben. „Eh, Fidschi, mach Platz!“, brüllt einer der beiden. Erschrocken springen wir zur Seite und lassen die beiden Saufkumpane passieren, wobei wir noch einen letzten bösen Blick kassieren.
„Fans von uns?“, frage ich irritiert.
„Eher nicht.“, meint Sirko und schaut sich noch einmal nach den beiden Bierkastenträgern um.
„Aber woher kennen die deinen Künstlernamen?“, wundere ich mich.
Sirko hebt die Schultern. „Keine Ahnung. Sowas passiert mir in letzter Zeit öfter.“
Ich kratze mich nachdenklich am Kopf. „Vielleicht haben wir ja was verpasst und sind schon längst berühmt?“
„Glaub mir, das wüssten wir.“, erwidert Sirko und klopft mir lachend auf den Rücken. „Sag mal, was hast du eigentlich gewählt?“
Ich schaue ihn schräg von der Seite her an. „Du weißt schon, dass wir jetzt geheime Wahlen haben?“
Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen. Wir leben jetzt ja in einer Demokratie.“ Dann wirft er mir einen komischen Blick zu. „Jetzt komm schon! Wo hast du dein Kreuzchen gemacht?“
„Ich meine es ernst.“, beharre ich auf meinem Standpunkt. „Wenn wir jetzt alle erzählen, was wir gewählt haben, können wir uns den ganzen Schmus mit den Wahlkabinen und so auch schenken. Das Wahlgeheimnis ist wichtig, damit niemand unter Druck gesetzt werden kann.“
„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!“, regt sich Sirko auf. „Ich bin dein bester Freund. Denkst du, ich werde jedem auf die Nase binden, was du gewählt hast?“
„Nicht jedem.“, gebe ich zu. „Aber wenn sie dich abholen und in ihren Stasikeller sperren, wirst du es vielleicht doch nicht für dich behalten können.“
Sirko bedenkt mich mit einem mitfühlenden Blick. „Die Sache damals in Hohenstein-Ernstthal hat dich echt mitgenommen, was?“
Ich knurre vor mich hin und beschleunige meinen Schritt. Das Thema wird mir echt unangenehm. Vielleicht hätte ich ihm doch einfach sagen sollen, das ich nicht zur Wahl gegangen bin.
„Ich hab mich jedenfalls für die Alternative Jugendliste entschieden.“, erzählt er mir ungefragt. „Das klang in meinen Ohren irgendwie am sympathischsten. Findest du nicht?“
„Weil du ein alternativer Jugendlicher bist, oder was?“
Er schaut an sich hinunter. Unter dem Parka leuchten seine schwarzen Lederhosen hervor. „Ganz normal bin ich jedenfalls nicht.“, sagt er frei heraus.
Lachend schnaube ich: „Das muss man dir lassen.“
„Und, was hast du jetzt gewählt?“ Seine Beharrlichkeit wäre bewundernswert, wenn sie mir nicht gerade so fürchterlich auf die Eier gehen würde.
„Gar nichts.“, fauche ich.
Sirko hält in seinem Schritt inne, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Aus großen Augen starrt er mich an. „Gar nichts? Du hast gar nichts gewählt?“, brüllt er mich an.
Wie ein Kaninchen in der Falle schaue ich mich hektisch nach allen Seiten um. „Geht es noch lauter?“, zische ich ihm zu. „Schon mal was vom Wahlgeheimnis gehört.“ Ich funkle ihn böse an.
Schuldbewusst zieht er den Kopf ein. „Entschuldigung.“, murmelt er leise. Doch sofort bricht sich wieder seine Empörung Bahn. Ich kann sie in seiner Stimme ganz deutlich hören, auch wenn es ihm diesmal gelingt, die Lautstärke unten zu halten. „Aber, du kannst doch nicht nicht zur Wahl gehen!“, jammert er immer noch ungläubig.
„Wieso denn nicht?“, erwidere ich trotzig. „Ist eine freie Wahl. Da kann ich machen, was ich will.“
„Aber es ist die erste freie Wahl in der Geschichte dieses Landes.“, bekniet er mich förmlich. „Da muss man doch mitmachen.“
„Einen Scheiß muss ich.“, poche ich auf meinem Recht, frei über meine Zeit zu entscheiden.
„Aber willst du denn gar nicht mitbestimmen, wie es bei uns weitergeht?“ Er scheint das wirklich ernst zu meinen.
„Durch ein Kreuz bei irgendeiner Truppe, die ich noch nicht mal kenne?“, frage ich zynisch. „Was weiß ich denn, wie die später in der Volkskammer abstimmen werden.“
„Die haben doch alle Programme. Da kannst du das nachlesen.“, klärt er mich auf.
„Und, hast du die Programme gelesen?“, frage ich ihn aggressiv.
„Nein, hab ich nicht.“, muss er zugeben. „War ja auch nicht so leicht ranzukommen.“
„Aha.“, versetze ich im Ton einer Oberlehrerin. „Aber du weißt schon, wofür die Alternativen Jugendlichen so stehen?“
„Ich denke mal, dass sie was für die Jugend machen wollen.“, murmelt Sirko verlegen.
„So, denkst du das?“ Ich komme mir in der Rolle des Staatsbürgerkundelehrers richtig gut vor. „Und wer sagt dir, dass die nicht alle alte Stasikollegen sind und am Ende wieder mit den Menschenknechtern zusammenarbeiten?“
Sirko verdreht resigniert die Augen. Bei mir scheint in Sachen Demokratiebegeisterung wohl Hopfen und Malz verloren zu sein.
„Und hast du dir mal angeschaut, was für eine Wahl man da überhaupt hat?“, fahre ich in meinem selbstgerechten Zorn auf die Politik fort. „Ein Haufen Sozialisten und Kommunisten konkurrieren mit Nazis und alten Blockparteien. Dazu die Stasi-Truppe von Herrn Schnur. Demokratischer Aufbruch! Dass ich nicht lache!“
„Aber Bündnis 90?“, gibt er zu bedenken.
„Ach, die wissen doch selber nicht, was sie wollen.“, winke ich unwirsch ab. „Außerdem ist es sowieso egal, was ich wähle. Die Ergebnisse stehen doch schon fest.“
Sirko reißt die Augen weit auf. „Meinst du wirklich, dass sie sich nochmal leisten können, die Wahlen zu fälschen?“
Ich runzle die Stirn. „Wer redet denn von fälschen? Du hast doch selbst gesagt, dass die SPD seit Wochen in allen Prognosen über 40 Prozent der Stimmen hat. Da kommt eh keiner vorbei.“
„Jaja.“, gesteht Sirko ein. „Aber ist vielleicht nicht das Schlechteste, wenn wir trotzdem hingehen und sicherstellen, dass bei uns nicht auch die Rechten gewinnen. Stell dir mal vor, beide deutschen Staaten hätten eine CDU-Regierung. Das wäre ja dann wie SED für Arme.“
Bei dem Gedanken brechen wir beide in lautes Lachen aus. Warum sollte jemand in der DDR auch die CDU wählen? Die paar Christen, die es hier gibt, werden die Wahl wohl kaum entscheiden.
„Mann, so eine Zeitmaschine wäre was für unsere Eltern gewesen.“, seufze ich, nachdem wir uns aus dem dunklen Kinoraum wieder auf die künstlich beleuchtete Straße geschoben haben.
„Warum nur für unsere Eltern?“, fragt Sirko.
„Dann hätten sie zurückreisen und den Mauerbau verhindern können.“, antworte ich. „Manchmal bist du wirklich begriffsstutzig.“
„Und wie hätten sie den verhindern sollen? Außerdem heißt der Film ,Zurück in die Zukunft.‘“, weist Sirko mich auf einen Fehler in meiner Argumentation hin. „Sie hätten also höchstens den Fall der Mauer verhindern können.“
„Das ist jetzt albern.“, widerspreche ich vehement. „Marty und Doc Brown sind doch auch zurück in die Vergangenheit gereist.“
„Ja schon.“, muss Sirko zugeben. „Wir können jedenfalls froh sein, dass die Mauer weg ist. Aber ich würde mit so einer Zeitmaschine schon gern mal in die Zukunft reisen und schauen, was so aus dir wird.“, frotzelt er.
„Wieso nicht aus dir?“, wundere ich mich.
„Ich werde sowieso Professor.“, sagt er mit Angeberstimme.
„Professor für was?“ Ich versuche, meiner Stimme einen möglichst triefend zynischen Klang zu geben.
Sirko zuckt mit den Schultern. „Ist doch egal. Hauptsache Professor. Wozu mach ich denn jetzt Abi?“
„Ich fasse das immer noch nicht.“, gebe ich zu. „Vor einem halben Jahr wollten sie dich noch in die Produktion abschieben. Du hättest im Kopfstand mit den Füßen wackeln können und trotzdem keinen Platz an der EOS bekommen. Und jetzt kannst du einfach so Abi machen.“
„Wie sich die Zeiten ändern.“, sinniert mein bester Freund. „Aber um dich mach ich mir trotzdem Sorgen.“
Ich schlage ihm genervt vor die Brust. „Was soll das denn? Ich bin jung, gut aussehend, voller Talente.“
„Ach ja. Welche Talente denn?“, zieht er mich auf.
„Singen zum Beispiel.“, grunze ich.
„Wenn das mal reicht, um was aus dir zu machen.“, zweifelt er.
„Jetzt mal doch den Teufel nicht an die Wand! Ich mach schon was aus mir.“, entgegne ich trotzig.
„Was meinst du, ob es in 25 Jahren tatsächlich fliegende Autos und Skateboards geben wird?“, wechselt Sirko plötzlich das Thema.
Ich lasse mir Zeit mit meiner Antwort. „Normalerweise würde ich sagen, dass das unmöglich ist. Aber auf der anderen Seite hätte ich das im Oktober auch gesagt, wenn du mich gefragt hättest, ob irgendwann die Mauer fallen würde.“
Sirko schnaubt zustimmend. „Verdammt, und keiner weiß, wie es weitergeht. Irgendwie war das früher einfacher. Da bist du mit 18 in die Partei eingetreten und die haben dann ein geregeltes Leben vor dir ausgebreitet.“
„Inklusive drei Jahre Dienst an der Grenze, permanenter Stasiüberwachung und einem Ausbildungsplatz für eine Arbeit, die du gar nicht machen wolltest.“, rufe ich ihm in Erinnerung.
„Jaja. Weiß ich doch.“ Ungeduldig wedelt er mit den Händen. „Dafür wissen wir jetzt nicht einmal, ob es im Sommer unsere Schule noch geben wird.“
„Oder Firma.“, stimme ich ihm zu.
„Wie läuft eigentlich deine Ausbildung?“, fragt er mich neugierig.
Normalerweise vermeiden wir das Thema Arbeit, seit wir im Sommer in die Produktion zwangsabgeschoben wurden, aber da Sirko jetzt ja nur noch zur Hälfte zur werktätigen Bevölkerung gehört, beschließe ich, ihn an meiner Welt teilhaben zu lassen. „Ausbildung ist gut. Mein Ausbilder ist im Januar rübergemacht. Seitdem fühlt sich niemand mehr für uns zuständig. Die meiste Zeit hängen wir in der Reparaturwerkstatt rum, schweißen und schrauben ein bisschen oder spielen Karten. Sie sagen, so stören wir am wenigsten und es fällt niemandem auf, dass wir überhaupt noch da sind. Wenn wir das drei Jahre durchhalten, bekommen wir den Abschluss wegen guter Führung quasi geschenkt.“
„Bist du sicher?“, zweifelt er. „Ich dachte, man muss Prüfungen machen.“
„Bestimmt.“, winke ich ab. „Aber davon weiß zur Zeit keiner etwas. Die Alten sagen immer: ,Kommt Zeit, kommt Rat‘.“
„Die haben gut reden!“, regt sich Sirko auf. „Und was ist, wenn du am Ende mit nichts in der Hand dastehst, weil sie deine Ausbildung nicht anerkennen?“
„Das wird sich sicher bald regeln. Wart erst mal ab, bis die neue Regierung feststeht, dann sehen wir bestimmt klarer.“, versuche ich, ihn und mich zu beruhigen.
„Na, ihr Verbrecher!“ Ein Arm legt sich um meine Schulter und bringt mich aus dem Gleichgewicht. „Schon wieder in schwerwiegende politische Debatten verstrickt?“ Der Arm drückt noch etwas fester zu. Irgendetwas knackt in meinem Hals.
„Mann, Robert! Hör auf!“ Energisch schiebe ich Robert von mir weg. Er lässt sich davon aber nicht beeindrucken.
„Hat der Kleine wieder schlechte Laune?“, blödelt er herum.
„Was machst du überhaupt hier?“, frage ich ihn.
„Zum Bus gehen!“, ruft er und tut dabei so, als sei ich etwas schwer von Begriff. „Hier von der Zenti aus kann man in alle Richtungen fahren, weißt du noch?“
Ich schaue mich um. Wir sind tatsächlich bereits an der Zentralhaltestelle angekommen.
„Kommst du mit zur Einheit?“, fragt Sirko begeistert.
„Aber logo!“, wirft sich Robert in die Brust. „Wenn Die Art schon mal in Karl-Marx-Stadt spielt, lasse ich mir das doch nicht entgehen.“
„Das wäre in der Tat fahrlässig.“, ätze ich. „Hast du sie schonmal gesehen?“
„Einmal, in Leipzig.“, antwortet Robert. Natürlich. Wie könnte es auch anders sein. Robert hat immer alles schon vor uns gemacht. „War eine geile Sache. Hatte jede Menge blaue Flecken nach dem Konzert.“
„Wieso denn das?“, frage ich erschrocken.
Robert zuckt mit den Schultern. „Pogo.“, sagt er nur.
Ich glotze ihn fragend an. Lachend legt er mir eine Hand auf die Schulter. „Wart‘s ab! Wirst du gleich selber sehen.“
„Der Bus zur Einheit fährt dort drüben.“ Sirko dirigiert uns zu einer der Haltstellen. An der Bushaltestelle stehen schon jede Menge größtenteils in Schwarz gekleidete Kids.
„Zu welchem Kindergeburtstag wollen die denn?“, macht sich Robert über sie lustig.
„Frag ich mich auch.“, quatscht uns ein heruntergekommener Punk von der Seite her an. Er stinkt nach billigem Schnaps und hat sichtlich Mühe, sich gerade auf den Beinen zu halten. „Was die heute alles so abends auf die Straße lassen.“ Resigniert schüttelt er den Kopf. „Als ich so alt war, hab ich noch brav zu Hause gesessen und die Frösi gelesen.“
Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Schließlich sind wir auch nicht viel älter als die meisten um uns herum. Okay, wir sind schon über 18, aber was machen zwei, drei Jahre schon aus?
„Du hast vollkommen recht.“, stimmt Robert dem Punk zu und angelt zwei Bierflaschen aus seinem Rucksack. Eine gibt er dem schrägen Typen mit dem Irokesen, die andere reicht er Sirko. Dann fördert er zwei weitere Flaschen zu Tage. Eine davon landet in meiner Hand. Robert lässt einen Flaschenöffner rumgehen. Offenbar hat er an alles gedacht. „Dann mal zum Wohl! Die Erwachsenen können gut unter sich bleiben.“
Wir setzten die Flaschen an und nehmen einen tiefen Zug. Der Punk wirft einen weiteren Blick über die Schar aufgeregt durcheinander schnatternder Teenager. „Wie alt seid ihr eigentlich?“, fragt er in fast schon verschwörerischem Ton.
„Bus kommt!“, dröhnt es von vorn.
Erleichtert drehe ich mich um und dränge gegen die Menge vor mir. Ich bin mir sicher, dass meine Antwort dem alten Punk nicht wirklich zugesagt hätte.
„Au, jetzt drück doch nicht so!“, schimpft ein Mädchen vor mir.
„Tschuldigung, aber die schieben von hinten.“, schnaufe ich und versuchen vergeblich, etwas Abstand zwischen mich und das Mädchen zu bringen. Sie ist, wie fast alle, die sich in den Bus drängen, von oben bis unten in Schwarz gekleidet. Lederjacke, schwarze Jeans und fette Stiefel mit verstärkter Kappe lassen sie martialischer erscheinen, als es ihr hübsches Gesicht auf den ersten Blick vermuten lässt. Nun sehe ich wieder nur ihre blonde Mähne, die vor meinem Gesicht durch die Bustür wogt.
Jetzt, wo wir uns im Flaschenhals befinden, wird es erst richtig ungemütlich. Nicht nur von hinten, sondern auch von den Seiten drängen die Leute auf die Tür zu und so fühle ich mich wie ein Streifen Zahnpasta, der in den Bus hineingequetscht und dort wieder ausgespuckt wird. Da ich ohnehin nicht mehr bestimmen kann, wo ich hingehe, lasse ich mich einfach weiterschieben.
„Hauptsache, es geht hinten nicht wieder raus.“, witzelt das blonde Mädchen vor mir, dem es offenbar genauso geht wie mir.
„Glaub ich nicht. Da kommt uns schon eine Welle entgegen.“, erwidere ich nur und blicke leicht beängstigt zur hinteren Bustür, durch die eine schwarze Woge schwappt. Unser Fortkommen nimmt ein jähes Ende, als die beiden Flutwellen aufeinander treffen. Ich werde wieder gegen das Mädchen gedrückt. Ihr Haar riecht himmlisch. Irgendwie nach Honig und Äpfeln.
Ich spüre, wie sie sich in dem Versuch, eine bequemere Position zu finden, in der ihr niemand mit dem Gesicht im Genick hängt, hin und her windet. „Glaub mir, ich würde dir gern helfen, aber ich kann mich nicht bewegen.“, nuschle ich in ihre Mähne hinein.
„Wie die Sardinen in der Dose, was?“, lacht sie. In einem wahren Gewaltakt dreht sie sich in einem Ruck zu mir um und so finden wir uns Bauch an Bauch wieder. „Wenn wir schon so eng aneinander gepresst Bus fahren müssen, dann können wir uns dabei auch ansehen, findest du nicht?“, sagt sie mit aufreizender Stimme. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in ihren blauen Augen Belustigung oder Ärger lese, entscheide mich aber spontan für die erstere Wahl. Aus einem mir unbekannten Grund ist es mir lieber, wenn sie sich über mich lustig macht, als wenn sie sauer auf mich ist.
„Fährst du auch zum Konzert?“, wage ich den Versuch, eine ordentliche Konversation anzufangen.
Statt einer Antwort prustet sie los. „Du bist echt witzig, weißt du das?“ Sie klopft mir mit der flachen Hand gegen die Brust.
Verlegen kräusle ich die Nase. „Hat mir bisher noch keiner gesagt.“, muss ich zugeben. „Aber vielleicht wollten sie mich nur nicht anstacheln.“
Sie schenkt mir ein schräges Lächeln. „So wird es sein.“
„Kennst du Die Art?“, versuche ich, das Gespräch am Laufen zu halten.
Sie zuckt mit den Achseln. „Hab noch keinen von ihnen getroffen.“
Ich hebe theatralisch den Blick. „Ich meine die Musik.“
„Ja klar.“ Kullert sie jetzt nur mit ihren großen blauen Augen, um mich nachzuäffen? „Sonst wäre ich ja wohl kaum hier.“
„Ich glaube, viele von denen“ - dabei schwenke ich mein Kinn, um auf unsere Mitreisenden zu verweisen - „wissen nicht mal, was die für Musik machen.“
„Und du?“, fragt sie mit einem belustigten Lächeln.
„Ich kenne ein paar Stücke. Noch von früher.“, sage ich.
„Aha, von früher. Wie alt bist du denn?“, zieht sie mich auf. Ihr scheint dieses Gespräch tatsächlich Spaß zu machen.
„Ich meine vor der Wende. Da hatte ich eine Demokassette.“, kläre ich sie auf.
Jetzt kann ich doch eine Spur von Respekt in ihrem Blick sehen. „Wirklich? Wo hattest du die denn her?“, fragt sie aufgeregt.
„Aus einem Plattentauschring. Ich hab sie gegen eine Iron Maiden getauscht, aber als ich sie das erste Mal gehört habe, dachte ich doch, dass mich der andere übers Ohr gehauen hat. Man braucht ein bisschen, um sich reinzuhören.“, wage ich mich vor. Wenn sie sich jetzt als Hardcore-Die-Art-Fan entpuppt, habe ich abgegessen und bin immer noch drei weitere Haltestellen eng gegen sie gepresst. Jede Fluchtmöglichkeit ist ausgeschlossen.
„Finde ich auch.“, sagt sie begeistert. „Aber wenn man sie einmal mag, kriegt man sie nicht mehr aus dem Kopf.“
Ich nicke zustimmend. „Ich bin übrigens Tilo.“, stelle ich mich vor.
„Petra.“, sagt sie und schiebt ihre Hand vor meinen Bauch. Umständlich ergreife ich sie und wir drücken einmal fest zu.
Bevor wir weiterreden können, wird unsere Aufmerksamkeit von einigen Teenagern abgelenkt, die im Gelenkbereich des Busses „Irish Coffee“ angestimmt haben. Wie ein Stromstoß in einem Wasserbecken breitet sich der Song nach vorn und hinten aus und schon bald brüllen alle um uns herum den zugegebenermaßen simplen Text. Bei „coffee, coffee, coffee, coffee“ spüre ich für einen kurzen Moment den Impuls, mit dem Kopf zu wackeln, kann mich aber gerade noch am Riemen reißen. Petra wäre sicher wenig begeistert, wenn ich sie hier K.O. köpfen würde.
Endlich hält der Bus vor dem Club Einheit und die grölende Masse stürmt hinaus in die kalte Nacht.
Petra klopft mir auf den Rücken. „Viel Spaß noch! Und ich hoffe, das Harte in deiner Hose war nur eine kleine Schnapsflasche.“ Mit einem belustigten Glitzern in ihren Augen verschwindet sie in der Masse.
Ein schwerer Arm legt sich auf meine Schulter. „Wer war denn die Schnecke?“, will Robert wissen.
Ich glotze in die Richtung, die sie genommen hat, kann aber vor lauter schwarzen Jacken nichts genaues erkennen. „Petra.“, sage ich nur. „Lasst uns zusehen, dass wir reinkommen. Ich will mir in der Kälte nicht den Arsch abfrieren.“, sage ich zu meinen Freunden.
Trotz meiner mahnenden Worte und unserer entsprechenden Eile steht schon eine lange Schlange vor dem Einlass.
„Die sind aber alle früh aufgestanden.“, schimpft Robert. „Hoffentlich kommen wir rein, bevor es losgeht.“
„Wird schon. Vom Jammern wird die Schlange auch nicht kürzer.“, erwidert Sirko schnippisch und stellt sich in die Reihe, bevor uns noch Leute überholen können. Wir stampfen vor uns hin, während wir uns mit all den anderen vor und hinter uns in gefühltem Zeitlupentempo auf die warmen Räume des Clubs zubewegen.
„Warst du eigentlich wählen?“, fragt Sirko völlig unvermittelt Robert.
„Klar.“, antwortet der. „Hab ich euch doch schon erzählt. Ich hab Demokratischen Aufbruch gewählt.“
„Die Stasitruppe von Schnur?“, zeige ich, dass auch ich ein informierter Staatsbürger sein kann.
Auch Sirko scheint enttäuscht zu sein. „Hast dich also nicht von deiner Meinung abbringen lassen.“, stellt er kopfschüttelnd fest.
Robert zuckt mit den Schultern. „Ich finde, was wir jetzt brauchen, ist eine schnelle Wiedervereinigung. Am Ende sonnen wir uns so lange in unserer Revolution, bis die Kommunisten zurück an der Macht sind, ohne dass jemand was gemerkt hat. Und wenn ich mir den Wahlzettel so ansehe, ist die einzige Aussicht auf diese schnelle Vereinigung die Allianz für Deutschland.“
„Aber da hättest du wenigstens CDU wählen können.“, brummt Sirko. „Die waren zumindest nicht alle bei der Stasi.“
Robert winkt ab. „Klar, alle waren bei der Stasi. Außerdem sind die meisten ja dazu gezwungen worden.“, behauptet er. „Wenn wir alle, die mal für die Stasi gearbeitet haben, abservieren würden, müssten wir die Politiker wahrscheinlich von drüben importieren.“
„Als ob die besser wären.“, halte ich dagegen.
„Seit wann bist du denn so gnädig mit der Stasi?“, wundert sich Sirko.
„Es ist eben nicht alles so schwarz und weiß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.“, antwortet Robert ausweichend. Dann blickt er zum nahenden Einlass. „Holt mal euer Geld raus, Männer! Gleich sind wir im Warmen und können wieder mal so richtig abfeiern.“
Als wir in den Club kommen, steigt Die Art gerade auf die Bühne. Wie alle anderen hier sind auch die vier Jungs von oben bis unten in Schwarz gekleidet. Woher wissen wir eigentlich, dass es wirklich Die Art ist, geht es mir durch den Kopf. Man hätte auch vier x-beliebige junge Männer aus der Schlange vor dem Club ziehen und ihnen Instrumente in die Hand drücken können. Ein bisschen Geschramme, lautes, besoffenes Gegröle und die meisten im Raum hätten nicht mal mitgekriegt, dass sie verarscht werden. In mir reift gerade eine Geschäftsidee heran. Im Prinzip könnte man sogar mehrere Konzerte der selben Band gleichzeitig in verschiedenen Städten…
„Hallo Karl-Marx-Stadt!“, grölt Makarios von der Bühne herunter und erntet einen lautstarken Jubel. Ohne weitere Umschweife schrammt die Gitarre los, kurz darauf gefolgt von Bass und Schlagzeug. „Black Dust in the air, black dust everywhere.“, schreit Makarios ins Mikrofon und die Masse vor mir setzt sich in Bewegung. Es erinnert mich entfernt an die Metal-Konzerte, die ich bisher besucht hatte. Trotzdem ist es anders. Es wird weniger mit den Köpfen gewackelt. Dafür schubsen sich alle wild durcheinander. Es ist kein geordnetes Hin- und Herwogen wie bei den Metallern und Arme fliegen auch nur in die Höhe, wenn einer in der Menge das Gleichgewicht zu verlieren droht. Für einen Augenblick taucht Petras Kopf aus dem Gewühl auf, dann ist sie auch schon wieder verschwunden. Ich sehe Sirko, wie er links von mir aus dem Gewühl geflogen kommt und mit glückseligem Lächeln gleich wieder hineinspringt. Sind denn hier alle irre geworden?
Robert knallt mir seine Pranke auf die Schulter. „Das ist Pogo. Solltest du auch mal versuchen!“ Mit einem sanften Schubs bugsiert er mich an den Rand der wogenden Menge. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, drängen von hinten weitere Leute heran und schieben mich in das Gewühl. Plötzlich hören Zeit und Raum um mich herum auf zu existieren. Ich bin Teil einer animalisch zuckenden Masse. Aufgeputscht von den harten Klängen der Musik fuchtle ich wild herum und lasse mich vom Sog des Menschenstrudels treiben. Es stinkt nach Schweiß und Alkohol. Ich schmecke meinen salzigen Schweiß auf den Lippen. Ständig landen irgendwelche Haare, Hände oder Schultern in meinem Gesicht. Ellenbogen stoßen mir in die Rippen. Schwere Stiefel treten mir auf die Füße. Vor meinen Augen wogen unterschiedliche Schattierungen von Schwarz. Ich schwebe dahin wie ein kleines Teilchen in einer großen schwarzen Wolke.
Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts. Aber ich kann es fühlen. Es ist ein unglaubliches Glücksgefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt. Warum habe ich sowas nicht schon früher ausprobiert? Im Augenblick wäre es mir völlig egal, ob ich zwischen besoffenen Teenagern oder einer Horde Gorillas herumtobe. Hauptsache springen. Und angerempelt werden. Und andere Leute treten. Das tut so gut! Wir sind alle Black Dust.