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Kapitel Eins

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Vicky saß an ihrem Schreibtisch und starrte in den Regen hinaus. Wie lange sie dort gesessen hatte, wusste sie nicht mehr. Sie wusste nur, dass dieser Tag für sie kein Ende nehmen sollte. Ihr Herz pochte voller Energie, bereit, sich neu zu verlieben.

Vicky stand auf, ging zu ihrem CD-Spieler und drückte erneut die Start-Taste. Verträumt lauschte sie den Klängen von Katie Melua. Ihre Hüfte begann sich im Takt zu bewegen. Langsam tanzte Vicky durch den Raum, langsam auf ihren Schreibtisch zu, wo ihr Glas Rotwein stand. Leise summte sie die Melodie mit. ›Wahnsinnsstimme‹, dachte sie. Vicky nahm einen Schluck Wein, stellte das Glas ab und tanzte weiter.

Sie fühlte sich wieder frei. Drei Jahre war sie mit Paul verheiratet gewesen. Gestern hatte sie die Scheidungspapiere unterzeichnet. Und sie wusste, dass sie definitiv die richtige Entscheidung getroffen hatte, sich von ihm zu trennen. Nicht, dass Paul nicht lieb, nett und treu, aufmerksam, verantwortungsbewusst und überhaupt eigentlich der Mann gewesen war. Aber tief in ihrem Inneren hatte Vicky immer gewusst, dass es irgendwo da draußen auf der Welt den einen Mann für sie noch geben würde. Einen Mann, bei dessen Anblick sie sofort wissen würde, dass sie mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Vielleicht würde sie ihn nicht hier in Deutschland finden, vielleicht nicht in Europa, aber irgendwo war er, dessen war sie sich absolut sicher.

Ihre Freundinnen konnten es nicht verstehen und verstanden es auch heute noch nicht, als sie vor 13 Monaten zu ihnen gegangen war und ihnen mitgeteilt hatte, dass sie und Paul sich trennen würden. Sie, das perfekte Paar, das so wunderbar zusammen passte.

Aber für Vicky hatte immer das gewisse Etwas gefehlt. Paul war ein sehr aufmerksamer Partner gewesen, der ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte. Doch letztendlich hatte Vicky nie das Gefühl gehabt, angekommen zu sein.

Anfangs, als sie sich kennengelernt hatten, war sie noch der Meinung gewesen, dass das Gefühl, welches sie nicht beschreiben konnte, aber von dem sie wusste, dass es das geben musste, irgendwann kommen würde. Unglücklicherweise stellte es sich jedoch nicht ein.

Trotzdem fühlte sich Vicky glücklich in ihrer Liebe, so dass sie vor vier Jahren Pauls Antrag mit einem »Ja« beantwortet hatte. Und es passierte wieder nichts Weltbewegendes.

Nicht in den Flitterwochen, nicht in den ersten Monaten nach der Hochzeit, nicht in den folgenden Urlauben. Ihren Freundinnen zufolge war Vicky in dieser Hinsicht nicht ganz zurechnungsfähig. ›Was sie sich denn vorstellte‹, wollten sie wissen. Beide waren doch glücklich miteinander, und diese große Romantik gab es doch nur in Hollywood-Filmen.

Dann kam der Sommer, der alles änderte. Paul und Vicky hatten im April des letzten Jahres 2 Wochen auf Mallorca verlebt, auf der Insel, die beide so sehr liebten. Sie verbrachten ihren Urlaub immer abseits des großen Rummels in Orten, die nicht von Touristen überlaufen waren. Den Norden mochten beide am liebsten. Diesen Urlaub wohnten sie in einem kleinen Hotel in Deìa. In der zweiten Woche waren sie nach Palma gefahren, waren in der Altstadt bummeln gegangen, hatten hier und da ein paar Kleinigkeiten eingekauft und hatten dann diesen kleinen Buchladen aufgetan, der größtenteils Kunst-Literatur verkaufte.

Vicky blätterte in einem Fotoband über Mallorca und betrachtete fasziniert die Bilder. Sie waren fast nur in schwarz-weiß aufgenommen, aber von solch einer Ausdrucksstärke, dass sie wie gebannt auf die Fotos starrte und nicht merkte, dass Paul schon seit einiger Zeit versuchte, mit ihr zu sprechen.

»Vicky! Was ist los? Schläfst du mit offenen Augen?« Paul rüttelte sie sanft an der Schulter. Er schaute sie von der Seite aus an und lächelte. »Hey, mein Engel, wollen wir weiter? Ich würde jetzt gern einen Kaffee trinken.«

Vicky versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu bekommen. Was war da gerade mit ihr passiert? Sie blickte zu Paul, dann zu dem Buch und wieder zu Paul.

»Entschuldige bitte, Liebling, aber ich war gerade so fasziniert von den Bildern, dass ich wohl angefangen habe zu träumen«, gab sie lächelnd zurück.

»Was hast du denn für ein Buch? Zeig es mir mal.« Vicky hielt ihm das Buch hin. »Ah, ein Bildband über die Insel. Ja, das kann ich verstehen. Kauf ihn dir doch, wenn er dir so gefällt. Dann kannst du nachher in Ruhe darin blättern.«

»Ja, das ist eine sehr gute Idee.« ›Wieso bin ich darauf nicht selbst gekommen?‹, dachte Vicky bei sich.

Sie nahm das Buch und ging damit zur Kasse. Nachdem sie gezahlt hatte, verließen beide die Buchhandlung und schlenderten durch die Altstadt zu ihrem Lieblingscafe, dem Grand Café Cappuccino. Sie fanden einen freien Tisch im Innenhof und tranken dort einen Kaffee. Paul bestellte sich noch eines der leckeren Sandwichs. Vicky wollte ihr Buch aus der Tüte nehmen, hielt aber inne, denn sie merkte, dass sie es sich lieber in Ruhe und vor allem allein anschauen wollte. Es kam ihr vor, als hätte sie ein Geheimnis vor ihrem Mann, dabei war es doch nur ein Buch. Ein Buch, das ihre Lieblingsinsel zeigte. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig und versuchte zwanglose Konversation zu machen.

»Paul, sollen wir nachher noch zum Hafen fahren und dort etwas spazieren gehen? Was meinst du?«

»Das klingt gut. Schauen wir mal, welches Schiff das größte ist.« Er lachte. Mit Schiffen hatte Paul nicht viel am Hut und konnte auch nicht verstehen, wie man dafür so viel Geld ausgeben konnte, aber er schaute sie sich gern an. Vicky lehnte sich grinsend zurück.

»Mal gucken, ob ich mir dort einen reichen Typen mit Boot angeln kann.«

»Untersteh dich, du gehörst mir.« Paul zog Vicky nah an sich ran und gab ihr einen innigen Kuss. Sie fühlte, wie sie rot wurde. Sie konnte sich diese Reaktion nicht erklären. Es war doch ihr Mann, der sie so voller Leidenschaft geküsst hatte. Augenblicklich dachte sie an das Buch und die Fotos. Ihr wurde heiß. Auf einmal fühlte sich Vicky ganz unwohl in ihrer Haut. Es kam ihr vor, als hätte sie einen wichtigen Termin verpasst. Das Gefühl stieg weiter in ihr hoch, bis es zuletzt ihr Herz zusammenzog und sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

»Sollen wir nicht jetzt zahlen?« fragte Vicky ungeduldig.

»Du kannst gar nicht schnell genug zum Hafen kommen und dir einen anderen anlachen, nicht wahr?«

»Hör auf, das war doch nur ein Scherz.« Vicky setzte ihre Sonnenbrille auf und nahm ihre Tasche in die Hand. »Komm, lass uns gehen. Ich mag nicht mehr sitzen.«

»Zu Befehl, meine Schönste.« Paul legte das Geld auf den Tisch und stand auf. »Soll ich deine Tüte tragen?«

»Nein«, wehrte Vicky unwirsch ab. »Das geht schon. Aber danke.«

Was war denn nur mit ihr los? Paul hatte ihr nichts getan. Sie versuchte locker zu sein und nahm seine Hand. Paul wollte sie küssen, erwischte aber nur ihre Wange. Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich schnell von ihm weggedreht hatte. Ganz ruhig bleiben, Vicky‹, sagte sie zu sich. Sie blickte ihren Mann lächelnd an und seufzte laut.

»Alles in Ordnung, Schatz?«

»Natürlich. Ich genieße es nur hier zu sein, ... mit dir.«

Vicky hatte das Gefühl, etwas Nettes sagen zu müssen. Langsam schlenderten sie durch die Altstadt zurück zu ihrem Auto und fuhren zum Hafen.

Zurück im Hotel legte Vicky das Buch direkt in den Koffer und schwor sich, es die restlichen 3 Tage, die sie auf der Insel noch verbringen würden, nicht mehr anzurühren. Sie wollte sich durch ein Buch nicht den Urlaub verderben lassen. Aber das Gefühl, dass etwas mit ihr passiert war, blieb.

Das Telefon schrillte ungewöhnlich laut. Vicky wurde aus ihren Träumen gerissen. Die CD war schon längst zu Ende. Sie stand auf und nahm den Hörer in die Hand. Sie sah die Nummer und lächelte.

»Hallo, Lara.«

»Hallo, Liebes. Wie geht es dir?« Lara und Vicky kannten sich schon seit ihrer Schulzeit und hatten vieles zusammen erlebt.

»Mir geht es hervorragend. Könnte nicht besser sein.«

»Jetzt wirklich oder gespielt?«

»Nein, mir geht es wirklich gut. Ich fühlte mich befreit. Außerdem habe ich einen prima Urlaub vor mir.« Am Wochenende wollte Vicky in den Urlaub fahren, natürlich nach Mallorca.

»Du fliegst wirklich dorthin? Und was machst du, wenn du ihn dort nicht findest?« Lara konnte ihre Freundin nicht verstehen. Wie konnte man alles aufs Spiel setzen, nur um einer Illusion nachzujagen?

»Lara, du kannst mich nicht davon abhalten. Wenn es nicht klappt, habe ich Pech gehabt. Aber ich muss es wenigstens versucht haben.« Vicky wusste, dass Lara dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber stand, aber sie war auch glücklich verheiratet, hatte zwei süße Kinder und nicht das Gefühl, dass ihr irgendetwas fehlte.

»Du musst es ja wissen. Die Mädels und ich wollen heute Abend zum Italiener. Kommst du mit?« Die Mädels waren ihre Freundinnen Rebecca, Helen, Jennifer und Maria.

»Na klar, wann trefft ihr euch?«

»Für acht Uhr habe ich einen Tisch reserviert.«

»Perfekt. Dann kann ich mich vorher noch pflegen. Bis nachher, Lara.« Vicky legte den Hörer auf und merkte, wie sie aufblühte. Sie schaute auf die Uhr. Halb sechs. Da hatte sie noch genug Zeit, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Sie ging zum CD-Spieler und nahm die CD heraus.

»Jetzt brauchen wir etwas Fetzigeres. Wie wäre es mit ...« Ihre Augen wanderten an den verschiedenen Hüllen vorbei. »Mit Robbie Williams, Best of. Ja, eine ausgezeichnete Wahl«, sprach sie zu sich selbst. Sie legte die CD ein und stellte die Lautstärke etwas höher. Dann ging sie ins Bad und ließ sich Wasser einlaufen.

Als Vicky in der Badewanne lag, dachte sie an ihren bevorstehenden Urlaub. Hatte Lara Recht, dass sie einer Vision hinterherlief? Einem Bild von etwas, was es gar nicht gab? Aber wieso waren ihre Gefühle dann so stark und ließen keinen Platz mehr für etwas Anderes? Gefühle zu einem Menschen, den sie gar nicht kannte.

Vicky hatte den Bildband erst nach ihrem Urlaub wieder in die Hände genommen. Zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland war Paul damals auf Geschäftsreise gewesen. Nachdem sie von der Arbeit zurückgekommen war, hatte sie es sich abends auf der Terrasse gemütlich gemacht und sich die Urlaubsbilder angesehen. Da fiel ihr ein, dass sie sich den Bildband gekauft hatte. Sie hatte ihn gleich nach der Rückkehr zu den Winterpullis in ihren Kleiderschrank gelegt. Vicky stand auf und ging ins Schlafzimmer. Ihr stockte der Atem etwas, als sie das Buch aus der Tüte holte und mit nach draußen nahm.

Langsam ließ sie sich in ihren Stuhl gleiten, setzte die Füße an die Tischkante und legte sich das Buch auf ihren Schoß. Dann begann sie, den Einband zu betrachten.

Er war ganz schlicht, dennoch strahlte er schon jetzt etwas Besonderes und Anziehendes aus. Nur ein großer, alter Olivenbaum war abgebildet. Man meinte, dass auch der Einband in schwarz-weiß gehalten wäre, aber bei genauem Hinsehen fiel auf, dass der Baum in einem dunklen Grün abgebildet war. Der Hintergrund jedoch war wirklich schwarz-weiß. Genauso schlicht wie der Einband war auch der Titel.

»Mallorca – Impresiónes.« Cristóbal Martínez. Autor und Fotograf.

Als Vicky den Namen las, spürte sie einen kleinen Stich in ihrem Herzen. Vorsichtig, so als ob sie etwas zerbrechen könnte, schlug sie das Buch auf. Es war in zwei Sprachen verfasst, Spanisch und Englisch. Fast zwei Stunden schaute sich Vicky die Bilder an. Und war aufs Neue fasziniert. Obwohl die Bilder so schlicht waren, zogen sie sie unweigerlich in ihren Bann. Ein paar der Fotos waren in Farbe. Sie zeigten größtenteils Landschaften auf Mallorca. Zu sagen, dass es Landschaften waren, war schon fast übertrieben. Der Fokus richtete sich fast ausschließlich auf ein Motiv, sei es einen Baum, Strauch, Haus oder ähnliches und ließ die Landschaft in den Hintergrund treten. Vereinzelt spielten auch Einheimische eine Rolle in der Aussage der Bilder. Der Fotograf hatte es aber geschafft, sie nicht als Spielfiguren zu inszenieren, sondern sie authentisch in sein Bild zu integrieren.

Vicky war mehr als nur angetan. Wieder las sie den Namen: Cristóbal Martínez. Cristóbal Martínez. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Vicky klappte das Buch zusammen und drückte es an sich. Sie sog die warme Sommerluft tief in sich ein und atmete lange aus.

Cristóbal Martínez.

Mittlerweile war es halb elf. Paul hatte sich noch nicht gemeldet. Aber das beunruhigte Vicky nicht. Er musste noch mit einem Kunden essen gehen. So etwas konnte lange dauern. Vicky stand auf und ging in ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und machte den Computer an. Mal sehen, was das Internet über Cristóbal Martínez wusste.

Über eine Galerie fand sie schließlich die erhoffte Auskunft. Cristóbal Martínez, geboren am 28.09.1965 in Madrid/Spanien, Mutter Spanierin, Vater Engländer. 1 Bruder und 1 Schwester. Studium in London und New York, lebt seit 4 Jahren auf Mallorca. Nicht verheiratet. Kein Hinweis auf eine Freundin. Vickys Herz machte einen Luftsprung. Sie suchte noch ein paar anderen Seiten auf, aber überall fand Vicky die gleiche Information: Single. Wenn das kein Zufall sein sollte!

Vicky stieß sich mit ihrem Stuhl vom Tisch zurück. Wieso Zufall? Gingen ihre Gedanken jetzt komplett mit ihr durch? Sie hatte ein paar Fotos gesehen, die sie sehr beeindruckt hatten, na und? Das war doch kein Grund, gleich auszuflippen. Sie rollte sich langsam wieder an den Schreibtisch heran und schlug noch einmal die Seite der Galerie auf. Ja, dort war ein Link, ein Link zu einem Foto des Fotografen. Sollte sie? Natürlich! Damit sie mit diesen Kindereien endlich aufhören konnte. Vorsichtig klickte sie auf den Link. Das Bild baute sich langsam auf. Als erstes fielen ihr seine unsagbar blauen Augen auf, dann die Grübchen und das markante Kinn. Sie konnte es nicht fassen, aber sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann im Internet sie anlächeln würde, nur sie. Vicky schlug eine Hand an ihre Stirn.

»Oh, Gott, bist du jetzt komplett durchgedreht? Es sind doch alles nur Fotos!« Wieder betrachtete sie sein Bild. Da war etwas, ganz eindeutig. Sie klickte auf die rechte Maustaste und wählte den Befehl ›zurück‹. Was gab es sonst noch über diesen Mann zu erfahren? Sie fand zwei Interviews aus dem Frühjahr. Seine Gedanken und Ansichten gefielen ihr. Kurz entschlossen speicherte sie die Adresse unter Favoriten und machte den Computer aus.

Es war schon weit nach Mitternacht, aber Vicky fand keine Ruhe, um jetzt schlafen zu gehen. Sie räumte die Küche noch auf, nahm sich ein Wasser und setzte sich ins Wohnzimmer. Sie fing an, durch das Fernsehen zu zappen, fand aber keine Sendung, die sie sich ansehen wollte. Also beschloss Vicky, nun doch endlich ins Bett zu gehen. Den Bildband über Mallorca legte sie auf ihren Nachtschrank.

Vicky blickte auf ihre Uhr. Sie hatte die Zeit vergessen. Es war schon fast sieben Uhr. Sie schaute sich ihre Hände an. Sie waren vollkommen verschrumpelt. Na prima, dachte sie. So siehst du ja unheimlich attraktiv aus. Schnell erhob sie sich aus der Badewanne, duschte sich kurz kalt ab und begann sich fertig zu machen. Jeans, eine schicke Bluse und High Heels mussten für diesen Abend in Ordnung sein.

Kurz nach acht Uhr erschien Vicky beim Italiener. Ihre Freundinnen waren bereits dort und hatten den Abend mit einem Glas Secco rosé eingeläutet.

»Hallo zusammen. Wie geht es euch? Schön, dass ich euch vor meinem Urlaub noch einmal sehe.« Vicky drückte allen ein Küsschen auf die Wange.

»Hi, Vicky. Gut siehst du aus. Bist du wieder bereit für die Männerwelt und willst mir Konkurrenz machen?«

Lachend setzte sich Vicky neben Rebecca. Rebecca war der einzige Single in der Gruppe, neben Neu-Single Vicky. Sie war mit 28 Jahren die Jüngste, zudem unglaublich gut aussehend So war es kein Wunder, dass sie gutbezahlte Jobs als Model fand. Da sie relativ viel unterwegs war und dauernd mit interessanten Menschen in Berührung kam, sparte sie sich eine ernsthafte Beziehung für später auf. Wann auch immer später sein sollte. Nicht, dass sie viel von One-Night-Stands hielt, aber Rebecca wusste, dass sie jetzt für eine Beziehung noch nicht offen war. Sie wollte ihr Leben erst einmal genießen und sich nicht zu irgendetwas verpflichtet fühlen.

»Wann geht dein Flug, Vicky?« Maria, mit 42 Jahren die Älteste in der Runde, schaute Vicky neugierig an.

»Übermorgen um sieben Uhr morgens.« Vicky verzog ihr Gesicht zu einem verschmitzen Grinsen.

»Ich kann es nicht glauben, dass du so etwas Verrücktes tust.« Maria war seit fünfzehn Jahren verheiratet, hatte drei super Jungs und war in Vickys Augen die perfekte Mutter. Sie hatte ihren Job an den Nagel gehängt, um sich um die Kinder zu kümmern. Ihr Mann hatte sich nach der Geburt von Luis selbständig gemacht und jede Minute im Büro verbracht. Maria hatte ihm den Rücken freigehalten und sich ausschließlich um den Rest gekümmert und nie geklagt. Nach einer langen mühseligen Durststrecke ging es ihnen jetzt gut und sie konnten ihr Familienleben zu fünft genießen.

»Ich weiß, dass es total verrückt ist, was ich tue. Aber ich habe das Gefühl, es tun zu müssen.« Vicky hielt kurz inne. »Sonst würde ich immer wieder denken, etwas verpasst zu haben, auch wenn es total lächerlich ist, was ich tue. Ich kann es kaum beschreiben, aber ich habe diese Unruhe in mir, die mir sagt, wag es.«

»Ich finde das sehr mutig«, mischte sich Helen ein. Helen war der ruhige Typ. Klein, zierlich, mit einem blonden Pagenkopf. Immer auf Sicherheit bedacht. Helen war erst seit einem knappen Jahr verheiratet, hatte alles genau geplant und wich niemals von ihren Prinzipien ab. Spontaneität gehörte nicht zu ihrem Vokabular. Sie war zufrieden mit dem, was vor ihr lag und was sie greifen konnte.

»Naja, mutig war es wohl eher, meinen Mann zu verlassen, aber im Prinzip mache ich jetzt Urlaub als Single und werde eine Fotoausstellung besuchen. Das ist alles.« Vicky versuchte locker zu wirken. Innerlich war sie jedoch total aufgeregt. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde. Und vor allem, wenn nichts von dem passieren würde, was sie sich insgeheim erhoffte, nämlich Cristóbal Martínez zu treffen, wie würde dann ihre Enttäuschung sein? Würde sie damit umgehen können? Sie wusste es nicht.

»Kommt, jetzt lasst uns endlich von etwas Anderem reden. Es muss euch doch auch so langsam nerven.«

»Du nervst uns nicht. Es ist für uns ebenso spannend«, warf Jennifer ein. »Aber wir können leider auch nicht in die Zukunft sehen und schauen, was dich nächste Woche erwartet. Also ist es sehr müßig, jetzt das für und wieder zu diskutieren. Du hast dich für die Scheidung und das Ungewisse entschieden, und wir werden sehen, was passiert. Auf dich, Vicky!«

Jennifer hob ihr Glas und prostete ihrer Freundin zu. Dann lehnte sie sich zu ihr hinüber.

»Und wir hoffen doch sehr, dass du uns sofort anrufst, wenn etwas passiert«“

Vicky lachte lauthals los. »Ja, klar. Wenn ich nächste Woche vor dem Traualtar stehen sollte, melde ich mich kurz vorher. Ihr seid verrückt. Genauso wie ich. Deshalb habe ich euch auch so gern.«

Jennifer war ein super guter Kumpel. Sie war wie Vicky 35 Jahre alt und sehr impulsiv. Sie hielt mit ihrer Meinung nie lange hinter dem Berg. Seit zwei Jahren lebte sie in einer sehr spannenden Beziehung. Ihr Freund war Amerikaner, den sie zwar in Deutschland kennen gelernt hatte, der zur Zeit jedoch an einem Projekt in Brasilien arbeitete. Die beiden sahen sich alle zwei bis drei Monate. Für Jennifer war es genau das Richtige. Nicht zu sehr eingeengt, aber es gab da jemanden, dem sie voll und ganz vertrauen konnte.

Vicky schaute ihre Freundinnen nacheinander an, lehnte sich zurück und war einfach nur glücklich. Schön, solche Freundinnen zu haben. Sie respektierten die Entscheidungen untereinander, auch wenn die eine oder andere der Meinung war, dass nicht alles immer richtig war. Aber sie hielten zusammen und unterstützten sich. Das machte doch wahre Freundschaft aus.

Der Abend dauerte sehr lange. Es war fast drei Uhr morgens, als Vicky müde in ihr Bett fiel. Müde und aufgeregt. Im Laufe des kommenden Tages würde sie ihren Koffer packen und schon morgen für drei Wochen nach Mallorca fliegen.

Drei lange Wochen, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellen sollten!

Herz über Kopf nach Mallorca

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