Читать книгу Herz über Kopf nach Mallorca - Nico Fleming - Страница 3
Kapitel Zwei
ОглавлениеDer Wecker schrillte laut.
Ungewöhnlich laut! Er riss Vicky unsanft aus ihren Träumen. Sie kniff die Augen zusammen, blinzelte zum Wecker und sah die Uhrzeit.
»Halb fünf. Oh, Gott!« Keine Sekunde später saß Vicky kerzengerade im Bett. Halb fünf, Zeit zum Aufstehen. Urlaub!
Vicky stellte ihr Radio an und störte sich nicht mehr an der frühen Uhrzeit, als sie unter die Dusche stieg. Heute war der Tag der Tage. Naja, nicht ganz, aber zumindest hatte sie ihre eigene Mission zu erfüllen. Die Mission festzustellen, ob es so etwas wie die perfekte Liebe, eine Liebe entstanden durch Bilder und Visionen, wirklich gab.
»Jetzt stell’ dich nicht so an. Du lebst doch gar nicht in einer Traumwelt, sondern bist eigentlich immer äußerst realistisch«, sprach sie zu sich selbst. Bloß nicht in irgendeine Idee verrennen und danach maßlos enttäuscht werden. Schnell stellte Vicky das Wasser auf kalt. Sie schrie kurz auf und stieg dann flott aus der Dusche.
Für einen Kaffee hatte sie keine Zeit mehr. Das Taxi sollte gleich da sein. Den Koffer hatte sie am Abend vorher schon aufgegeben. So konnte sie jetzt entspannt zum Flughafen fahren und dort ihren Kaffee trinken.
Als sie aus der Haustür trat, spürte sie einen leichten Nieselregen auf ihrem Gesicht. Da sie noch immer etwas müde war, trug er dazu bei, sie leicht zu erfrischen.
»Zum Flughafen bitte.« Der Taxifahrer brummte etwas in seinen Bart, was sie nicht verstand. Na egal, sie musste sich so früh am Morgen noch nicht großartig unterhalten.
Vicky atmete tief ein. Sie war sich absolut darüber im Klaren, dass sie als eine Irre abgestempelt werden würde, würde sie anderen erzählen, warum sie auf die Insel flog. Natürlich hatte sie jetzt drei Wochen Urlaub und freute sich sehr, die Insel wiederzusehen. Aber hauptsächlich, das wusste Vicky, ging es doch um den Fotografen. Der Fotograf, der ihr bisheriges Leben unwissentlich auf den Kopf gestellt hatte. Sonst wäre Vicky jetzt immer noch mehr oder weniger glücklich mit Paul verheiratet.
›Oh Gott‹, stöhnte Vicky innerlich auf, ›was habe ich nur gemacht? Wie konnte man nur aufgrund irgendwelcher Fotos sein Leben ruinieren? Halt, Stopp! Ich habe mein Leben nicht ruiniert, ich habe es nur in andere Bahnen gelenkt. Raus aus der Eintönigkeit‹, dachte Vicky bei sich. Es war doch falsch, sich die große Liebe vorzugaukeln und mit jemanden zusammenzubleiben, nur um ja nicht allein zu bleiben.
Sie wusste, dass sie leicht reden hatte, schließlich hing nicht ein riesiger Rattenschwanz an ihr dran, d.h. sie und Paul hatten keine Kinder und sie waren finanziell voneinander unabhängig. Keiner der beiden war nach der Trennung in eine unangenehme Situation gedrängt worden. Doch trotzdem beschlich Vicky auf einmal das ungute Gefühl, dass sie vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte.
Jetzt hör endlich mit diesem Kinderkram auf, schalt sie sich selbst. Man kann sich nicht durch Bilder in einen Mann verlieben! Aber die Gedanken in ihrem Kopf wollten einfach nicht abreißen.
Am Flughafen angekommen schlenderte Vicky durch den Zeitschriftenladen, kaufte sich zur Ablenkung ein paar Klatschblätter und trank noch einen Kaffee, bevor ihr Flug endlich aufgerufen wurde.
»Also, los geht’s. Auf, in mein neues Leben als Single.«
Gut zwei Stunden später erreichte das Flugzeug den Flughafen von Palma. Ein warmer Wind blies Vicky entgegen, als sie das Flugzeug verließ. Die Sonne schien bereits jetzt warm, die Palmen raschelten sanft im Wind. Vicky blickte auf die Windräder in der Nähe des Flughafens. Ein Gefühl von Heimat überkam sie. Schnell stieg sie in den Bus, der sie zum Terminal brachte. Als sie ihr Gepäck hatte, ging sie zum Autovermietungsschalter, bei welchem sie bereits von Deutschland aus ein Auto reserviert hatte. Sie bekam ein Mini-Cabrio, genau das richtige für diese warmen Temperaturen. Zügig machte sich Vicky auf den Weg in ihr Hotel. Sie fuhr an Palma vorbei, Richtung Westen. Da sie dieses Mal allein unterwegs war und oft nach Palma fahren wollte, hatte sie sich für ein Hotel in der Hafen-Region um Palma entschieden. Sie fuhr nach Portals Nous.
Das Hotel übertraf alle Erwartungen. Es war sehr großzügig und nobel eingerichtet. Zum Hotel gehörte ein kleiner Privatstrand. Vicky brachte das Gepäck auf ihr Zimmer und zog sich ein paar leichtere Sachen für den Strand an. Heute würde sie nur dort bleiben, die Sonne etwas genießen, am Strand spazieren gehen und sich etwas Ruhe gönnen.
Am Strand setzte sie sich in den warmen Sand und ließ die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Herrlich! Das ist es, was ich brauche, dachte sie bei sich. Etwas Sonne, Sand und Meer. Das reicht. Der Strand war glücklicherweise recht leer. Nur ein paar Hotelgäste tummelten sich im Wasser. Vicky streckte sich auf ihrem Handtuch aus und genoss die Ruhe. Nach einer Weile nahm sie ihr Handy und meldete sich per SMS bei ihren Freundinnen. Keine fünf Minuten später meldete ihr Handy den Empfang einer Nachricht. Vicky musste lachen. Rebecca wollte wissen, ob schon etwas passiert sei und ob es sich auch für sie lohnen würde, jetzt direkt auf die Insel zu fahren. Vicky vermisste ihre Freundinnen ein bisschen. Vielleicht sollten sie alle zusammen bald für ein paar Tage gemeinsam wegfahren.
Am frühen Abend zog sich Vicky ein schlichtes Leinenkleid an und ging im Ort etwas spazieren. Der Weg führte direkt an den Hafen, wo sie in einem kleinen Lokal etwas zu Abend aß. Vicky fühlte sich bei einem Glas Weißwein und dem Blick auf die Schiffe herrlich entspannt. So konnten die drei Wochen weitergehen. Morgen wollte sie gegen Mittag nach Palma fahren, etwas bummeln gehen und dann am Abend die Ausstellung des Fotografen besuchen. Die Ausstellung sollte morgen eröffnet werden, und Vicky hatte gelesen, dass jeder zu dieser herzlich eingeladen war. Also auch sie. Gegen zehn Uhr schlenderte Vicky zum Hotel zurück, nahm eine ausgiebige Dusche und ging rasch zu Bett. In dieser Nacht suchten sie die wirrsten Träume heim.
Am nächsten Morgen musste sich Vicky erst einmal sammeln und überlegen, was von dem, was sie geträumt hatte, Realität war und was nicht.
»So langsam wird es Zeit, dass ich Señor Martínez kennenlerne, sonst werde ich wohl noch verrückt«, sagte Vicky laut zu sich. Nach einer Stunde Ausdauer- und leichtem Krafttraining im hoteleigenen Fitness-Center fühlte sie sich für den Tag gerüstet. Sie frühstückte kurz und ließ sich dann mit einem Buch am Strand nieder. So richtig konnte sie sich allerdings nicht auf den Inhalt des eigentlich spannenden Buches konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, und sie dachte an den bevorstehenden Abend.
›Mein Gott‹, fuhr es Vicky durch den Kopf, ›so ähnlich müssen doch diese sogenannten Stalker denken. Furchtbar, jetzt werde ich auch noch zu einem‹. Schnell versuchte sie, diesen Gedanken loszuwerden, aber ein Hauch von Wahrheit war doch daran.
Das Mittagessen ließ Vicky ausfallen. Ihr war der Appetit vergangen, als sie sich ihr Benehmen richtig vor Augen geführt hatte. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass so etwas mit ihr passieren würde. Heute Abend würde sie zu dieser Eröffnung gehen und endlich wieder ein normaler Mensch werden. Das war der Plan für den heutigen Tag.
Vicky parkte ihren Wagen in der Nähe der Kathedrale am Hafen. Es war früher Nachmittag. Ein warmer Wind wehte ihr entgegen, als sie aus dem Wagen stieg. Die Sonne brannte trotz der Nachmittagsstunde auf ihrem Gesicht. Aber das störte Vicky nicht. Sie genoss das schöne Wetter. Zurück in Deutschland würde es garantiert wieder sehr wechselhaft sein. Vicky beschloss, als erstes einen kurzen Gang durch die Altstadt zu machen. Sie merkte, dass sie aus Gewohnheit den Weg einschlug, den sie noch im letzten Jahr zusammen mit Paul genommen hatte. Etwas wehmütig dachte sie an ihren letzten gemeinsamen Urlaub. Es war doch sehr harmonisch gewesen, bis sie dieses Buch gekauft hatte. Das hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Daran ließ sich nun nichts mehr ändern.
Vicky schüttelte den Kopf, als könnten so die Gedanken aus ihrem Kopf verschwinden, und blickte auf, um sich besser orientieren zu können. In diesem Moment wurde sie unsanft von einem Mann angerempelt, der aus einer Seitenstraße kam und sie augenscheinlich nicht gesehen hatte. Ebenso wie Vicky schien er vertieft in seine Gedanken zu sein. Vicky schaute ihm kurz in die Augen und registrierte, dass diese unsagbar blau waren. Das Gesicht des Spaniers zog im Zeitlupentempo an ihr vorbei. Auch er schien etwas verwirrt durch ihren Zusammenstoß zu sein und starrte Vicky kurz an. Sie sah, wie er seine Lippen zu einem »Sorry« formte, konnte jedoch kein Wort hören.
»Oh, Mann« sprach Vicky zu sich selbst, »jetzt bist du schon so von der Rolle, dass du es noch nicht einmal schaffst, dich zu entschuldigen. Zeit für einen Kaffee.«
Automatisch steuerte sie auf das Lieblingscafé von Paul und ihr zu. Warum etwas Neues ausprobieren, wenn das Alte doch in Ordnung war? Nach einem Kaffee fühlte sich Vicky wieder besser. In diesem Moment klingelte ihr Handy.
»Hallo?«
»Hi, Vicky. Hier ist Lara. Ich wollte mal fragen, was du so treibst?«, ertönte Laras Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hallo, Lara, schön, dass du anrufst. Mir geht es fantastisch. Ich sitze gerade im Café in Palma und lasse es mir gut gehen.«
»Und wie sieht es mit den Männern aus?«, wollte Lara wissen. »Hast du schon einen netten Spanier kennengelernt?«
»Jetzt mach aber mal halblang«, wehrte Vicky ab. »Du weißt doch, dass ich erst seit gestern hier bin. Das geht nicht so schnell. Außer dass ich so benebelt bin, dass ich schon Männer auf der Straße anrempele.«
Lara lachte auf. »Das hört sich gar nicht nach dir an, liebe Vicky. Geht es dir auch wirklich gut? Wenn du willst, kann ich mich für ein paar Tage loseisen und dich besuchen«, schlug Lara ihrer Freundin vor.
»Das ist unheimlich lieb von dir, aber ...«
»... aber du willst allein auf die Pirsch gehen«, vollendete Lara den Satz.
»Nein, bitte verstehe mich nicht falsch. Aber ich muss einen klaren Kopf bekommen und herausfinden, was ich will. Wie auch immer. Aber sollte es mir doch ganz schlecht gehen, sag ich dir sofort Bescheid.«
»Ich verstehe dich schon, Vicky. Mach dir mal keine Gedanken. Hauptsache, du machst dir einen schönen Urlaub. Halt mich auf dem Laufenden. Bis bald, meine Liebe.«
Vicky legte ihr Handy zur Seite und blickte auf ihre Uhr. Schon 18:00 Uhr. Die Ausstellung sollte um 19:00 Uhr eröffnet werden. Als erste wollte sie nicht dort sein, zumal sie überhaupt keine Ahnung hatte, wie so etwas vonstatten ging. Vicky bestellte sich noch einen kleinen Salat und ein Wasser und nahm ihr Buch in die Hand.
Dieses Mal zwang sie zwang sich dazu, wenigstens ein paar Seiten zu lesen, bis ihr Essen kam. Allein in einem Restaurant oder Café zu sitzen sah immer etwas komisch aus, vor allem auch noch, wenn man eine Frau war. Vicky schaute sich kurz um. Das Café war wie immer gut gefüllt. An den anderen Tischen saßen vornehmlich Pärchen, hauptsächlich Spanier. Sie saßen lachend zusammen und wirkten sehr vertraut. Vicky wurde etwas wehmütig zumute. Wie gern würde sie diesen herrlichen Abend mit jemanden teilen. Vielleicht war es doch gar keine so schlechte Idee, ihre Freundinnen anzurufen und zu fragen, wer Lust hätte, sie besuchen zu kommen. Es musste ja noch nicht einmal ein Freund sein. In diesem Moment wurde ihr Essen serviert und Vicky konnte sich nun hierauf konzentrieren.
Die Zeit schien nicht verstreichen zu wollen. Als Vicky ihren Salat aufgegessen hatten, blickte sie erneut auf ihre Uhr. Es war erst halb sieben. Viel zu früh, um zur Galerie zu gehen. Vicky beschloss, noch einen Cappuccino zu trinken. Dann würde sie sich etwas frisch machen und Richtung Kathedrale zurückgehen. Dort in der Nähe sollte die Galerie sein.
Eine Viertelstunde später machte sie sich auf den Weg. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sich ihrem Ziel näherte. Glücklicherweise wusste sie, wie der Fotograf aussah. Vicky spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Unwillkürlich fasste sie sich an die Brust, als könnte sie den Herzschlag stoppen. Sie merkte, wie ihr ganz schummrig wurde, so aufgeregt trat sie ihrer Mission entgegen. Um zwanzig nach sieben erreichte sie endlich die Galerie. Lautes Stimmengewirr schlug Vicky entgegen. Die Party war schon in vollem Gange. Klänge spanischer Musik waren zu hören. Vor der Tür stand ein dunkel gekleideter Mann, der ihr freundlich die Tür aufhielt, als sie sich dieser näherte. Es blieb Vicky nichts Anderes übrig, als hineinzugehen.
Die Galerie war nicht sonderlich groß, jedenfalls schien es auf den ersten Blick so. Es hielten sich etwa 30 Personen im vorderen Teil auf, wo auch das Catering serviert wurde. Vicky wurde direkt ein Glas Champagner in die Hand gedrückt. Verstohlen ging sie durch die Menge. Überall wurde nur Spanisch gesprochen, kein einziges englisches Wort konnte Vicky heraushören, geschweige denn Deutsch. Etwas verloren kam sie sich nun doch vor. Den Fotografen konnte sie auf Anhieb nicht erblicken, also erkundete sie die Galerie und schaute sich die Ausstellung an. Die Fotografien an der Wand waren nach Themen aufgeteilt. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen gaben Familiensituationen wieder. Bei den farbigen Fotos handelte es sich dieses Mal um Landschaften. Vicky fühlte sich erneut in den Bann gezogen. Das Licht war an diesem Abend nur zu dunkel, um die Bilder genauer zu studieren und auf jedes Detail achten zu können.
»Schöne Bilder, nicht wahr?«, wurde Vicky angesprochen. Sie drehte sich um und ihr Herz blieb stehen. Da stand er also vor ihr. So unerwartet und doch wieder nicht. Sie schluckte.
»Ja, sehr schön. Sie gefallen mir wirklich gut«, stammelte sie.
»Schön, dass sie Ihnen gefallen. Ich bin Cristóbal Martínez. Aber meine Freunde nennen mich Chris. Das ist einfacher«, gab er mit einem strahlenden Lächeln zu verstehen.
Vicky fühlte sich geschmeichelt. »Wie kommt es, dass Sie mich angesprochen haben?«, wollte sie wissen.
»Sie sind die einzige, die ich nicht kenne.« Chris drehte sich um. »Das sind fast alles Freunde von mir. Da ist es nicht schwer, eine Fremde herauszufinden. Was führt Sie hierher, ...?« Fragend schaute Chris sie an.
»Vicky. Oh Entschuldigung. Mein Name ist Vicky.«
»Hallo Vicky, woher kommen Sie?«
»Ich komme aus Deutschland«“ Langsam fühlte sich Vicky etwas sicherer. Der Alkohol tat seine Wirkung und sie merkte, wie ihre Nervosität wich. Schnell nahm sie wieder einen Schluck Champagner.
»Aus Deutschland? Und was treibt Sie hierher in diese Ausstellung? Viel Werbung haben wir nicht gemacht.« Chris hatte wirklich ein breites und gewinnendes Lächeln.
»Sie werden es nicht glauben, aber ich habe im vergangenen Jahr hier einen Bildband von Ihnen gekauft. Und da mir dieser sehr gut gefallen hat, habe ich mich im Internet ein bisschen schlau gemacht. So bin ich hierher gekommen«, kürzte Vicky die Version ab.
›Ich habe mich nur unsterblich in deine Fotos verliebt, habe mich scheiden lassen, nur um dich kennen zu lernen‹, dachte sie bei sich und lächelte ihn an.
»Ihre Aufnahmen haben mich sehr beeindruckt.«
»Ich fühlte mich geehrt«, gab Chris zurück. »Und dann haben Sie kurzerhand ihren Urlaub so gelegt, dass Sie zu meiner Eröffnung kommen können. Das finde ich klasse.«
Vicky merkte, wie sie leicht errötete. Glücklicherweise konnte man das bei diesem diffusen Licht nicht wahrnehmen, hoffte sie jedenfalls. Oh, Mann, dachte sie, ist der nett. Ein richtiger Frauenheld. Und so süß. Er sieht noch besser aus als auf den Fotos. Vicky seufzte leicht.
»Alles in Ordnung? Sie brauchen nicht gleich schwach zu werden.« Chris grinste sie wieder mit seinem breiten, gewinnenden Lachen an.
Naja, ein bisschen eingebildet ist er schon, schoss es Vicky durch den Sinn.
»Vicky, ich muss mich kurz um meine anderen Gäste kümmern. Aber bleiben Sie doch bitte hier, da Sie sich doch schon den weiten Weg aus Deutschland gemacht haben.« Chris verschwand in der Menge.
Vicky atmete auf. Er ist ein bisschen sehr von sich überzeugt, dachte sie weiter, aber vielleicht muss man das sein, wenn man immer im Mittelpunkt steht. Egal, mal sehen, was der Abend noch bringt. Vicky entdeckte einen kleinen Raum am hinteren Ende. Dort waren kleine Fotografien von verschiedenen Personen aufgehängt. Die Bilder hingen dicht aneinander. Es waren nur die Gesichter abgelichtet. Von weitem sahen die Aufnahmen ähnlich aus. Tatsächlich waren dort junge und alte Frauen und Männer, Kinder und Babys abgebildet. Vicky stellte fest, dass einige Personen mit verschiedenen Gesichtsausdrücken fotografiert worden waren. Sie wollte tagsüber noch einmal vorbei-kommen und sich diese Bilder etwas genauer ansehen.
»Ah, hier sind Sie. In meiner Ahnengalerie.« Vicky drehte sich um. Chris strahlte sie an. Er sah schon wirklich verdammt gut aus.
»Sind das etwa Verwandte von Ihnen?« fragte Vicky. Chris fing lauthals an zu lachen. »Nein, Gott bewahre. Ich nenne es nur so, weil ich unterschiedliche Generationen aufgenommen habe.« Vertraut legte er seine Hand auf Vickys Schulter. Sie fühlte sich leicht unbehaglich und trat einen Schritt zur Seite.
»Das hätte mich auch gewundert«, tat sie ihre Bemerkung ab.
Chris beförderte Vicky in den anderen Raum zurück. Sie merkte, wie sich einige zu ihnen umdrehten, während Chris ihnen auf Spanisch etwas zurief. Wie dumm, dass sie sich nur kurz mit dieser Sprache auseinander gesetzt hatte. Sie fing jedoch ein paar Wortfetzen auf und reimte sich zusammen, dass er seinen Freunden anscheinend erzählte, dass sie eigens zu seiner Ausstellung aus Deutschland gekommen sei. Jedenfalls fingen Chris und seine Freunde an zu lachen. Vicky fühlte sich etwas unwohl. Man machte sich offenbar über sie lustig. Vicky lächelte in die Runde. Nur keine Schwäche zeigen, sondern zu dem Schwachsinn stehen, den man getan hat, dachte sie sich.
Eine Spanierin trat auf Vicky zu und sprach sie auf Deutsch an. »Hallo, ich bin Teresa. Die Schwester von Chris. Sie müssen ihn entschuldigen. Manchmal führt er sich noch wie ein kleiner Junge auf, obwohl er schon Mitte dreißig ist. Sie dürfen ihm das nicht übel nehmen.«
»Schön, Sie kennenzulernen, Teresa. Ich bin Vicky.« Was sollte sie ihm übel nehmen? Also hatte sich Chris über sie lustig gemacht.
»Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?« fragte Vicky interessiert.
»Ich war während meines Studiums ein Jahr in München. Das war eine sehr schöne Zeit. Die Biergärten, der Englische Garten, das war alles sehr nett dort.«
Vicky lachte. »Das hört sich aber nicht sehr nach Studium an.«
»Sie haben Recht. Die Sachen haben wir natürlich nur in unserer Freizeit gemacht. Aber Sie wissen ja selbst, dass man größtenteils die angenehmen Dinge in Erinnerung behält.« Teresa war Vicky sofort sympathisch. Sie genoss es, sich auf Deutsch unterhalten zu können.
»Sind Sie allein hier, Vicky?« fragte Teresa höflich.
»Ja, das bin ich«, antwortete Vicky. Es war doch schon komisch ohne ihren nunmehr Ex-Mann im Urlaub zu sein. »Ich habe mich vor kurzem scheiden lassen, Teresa. Das ist mein erster Urlaub als Neu-Single.« Mein Gott, dachte Vicky, ich kenne diese Frau überhaupt nicht und erzähle ihr schon meine Lebensgeschichte. Wie peinlich!
»Das tut mir leid«, sagte Teresa mitfühlend.
»Das muss es nicht. Es war meine Entscheidung. Wir haben uns im Guten getrennt.« Vicky versuchte locker zu wirken. Sie blickte wieder zu den Fotografien an der Wand.
»Die Aufnahmen gefallen mir wirklich sehr gut. Hat sich Ihr Bruder schon als Kind für Fotografie interessiert?«, wechselte sie das Thema.
»Ja, das hat er. Oh, entschuldigen Sie bitte. Mein Bruder ist gerade angekommen.«
»Ihr Bruder?« Vicky schaute Teresa verständnislos an.
»Ja, mein älterer Bruder, nicht Chris.« Teresa winkte in die Menge. »Joaquín! Soi aqui!«
Vicky wollte sich gerade den Fotografien wieder zuwenden, aber Teresa hielt sie zurück. »Warten Sie, Vicky, lernen Sie doch meinen älteren Bruder noch kennen.«
Vicky drehte sich in die Richtung um, in die Teresa gewunken hatte. Da waren sie wieder, diese unsagbar blauen Augen, die sie schon am Nachmittag getroffen hatte.
Joaquín begrüßte seine Schwester herzlich. Vicky schaute etwas betreten zur Seite. Das musste doch nicht sein! Wieso musste sie den Bruder des Fotografen angerempelt haben? So etwas Blödes.
Teresa schaute zu Vicky. »Vicky, das ist mein Bruder Joaquín.«
Die blauen Augen blickten Vicky an. Sie hatte fast das Gefühl, hypnotisiert zu werden. Es schien so gut wie unmöglich, den Blick von ihnen abzuwenden. Vicky konnte keine Regung in ihnen ablesen. Merkwürdig, konnte er sich an den Zwischenfall nicht mehr erinnern? Mit so vielen Menschen war er doch heute Nachmittag bestimmt nicht zusammengestoßen.
Vicky beschloss, über die Sache hinwegzugehen. Anscheinend war dieser Bruder nicht so kommunikativ.
»Hallo«, durchbrach Vicky das kurze Schweigen. Was mag ihm wohl durch den Kopf gehen? Joaquín nickte ihr freundlich, zeigte aber immer noch keine Regung. Dann endlich entschloss er sich, ihr die Hand zu geben.
»Wie gefällt Ihnen die Ausstellung?« fragte er höflich in fließendem Englisch.
»Sehr gut. Die Aufnahmen sind wirklich gut gelungen, soweit ich das beurteilen kann. Aber ich will mir alles noch einmal anschauen, wenn es etwas leerer und vor allem heller ist.« Vicky blickte auf ihre Uhr. »Oh, schon so spät. Ich bin noch verabredet. Es war schön, dass wir uns kennengelernt haben.« Vicky lächelte ihn kurz an und drehte sich zu Teresa um, von der sie sich ebenfalls verabschiedete.
»Das ist aber schade, dass Sie schon gehen.«
»Ich komme in den nächsten Tagen bestimmt noch einmal vorbei, um mir in Ruhe die Fotografien anzuschauen.«
»Ja, das wäre nett.« Sie schüttelten sich die Hände und Vicky verschwand Richtung Tür, nicht wissend, dass die blauen Augen sie weiter verfolgten.
Draußen atmete sie tief durch. Sie setzte sich in der Nähe der Galerie in ein kleines Café und bestellte etwas zu trinken. Sie wollte sich erst einmal in Ruhe sammeln, bevor sie wieder zum Hotel fuhr. So langsam fühlte sich Vicky richtig erleichtert. Durch den Besuch in der Galerie hatte sie sich von ihrer schweren Last befreien können. Auch wenn sie drinnen sehr angespannt gewesen war, war sie nun froh, dass sie es hinter sich gebracht hatte. Ihre Aufregung legte sich langsam. Sie würde sich bestimmt noch ein paar Mal die Ausstellung ansehen, aber dieses Mal wirklich nur, um die Bilder zu betrachten.
Vicky blickte auf, als sie lautes Stimmengewirr hörte. Die Tür der Galerie war aufgegangen. Eine Gruppe Spanier kam an ihrem Café vorbei, unter ihnen auch Chris und seine Schwester. Vicky blickte ihnen nach und begann wehmütig an ihre Freundinnen zu denken. Das wäre schön, wenn sie auch hier wären. Sie blickte auf ihre Uhr und beschloss, Rebecca anzurufen. Vicky wusste, dass sie ihre Freundin auch zu später Stunde noch anrufen konnte.
»Rebecca Hartmann.«
»Becky, hi, hier ist Vicky.«
»Oh, Vicky, schön, dass Du anrufst. Wie geht es dir?«
»Gut, danke«, antwortete Vicky langsam. »Eigentlich weiß ich es nicht so recht.«
»Wieso? Was ist denn passiert? Hast du deinen Fotografen schon getroffen?« fragte Rebecca interessiert.
»Ja, habe ich.«
»Ja und?«
»Nichts, ja und«, antwortete Vicky.
»Das hört sich aber nicht sehr gut an«, stichelte Rebecca ihre Freundin.
»Was soll das, Rebecca? Du weißt haargenau, dass ich doch nur meinen Seelenfrieden finden wollte. Und nicht irgendein Abenteuer.« Vicky war etwas verletzt. Aber hatte sie sich das nicht selbst zuzuschreiben? Sie war es gewesen, die aufgrund eines Buches ihre Ehe beendet hatte und auf gut Glück nach Mallorca in den Urlaub gefahren war.
»Weißt du was, Becky, tut mir leid, dass ich dich so spät angerufen habe, aber ich möchte jetzt gar nicht weiter darüber reden. Ich ruf dich morgen noch einmal an. Okay?« Vicky hoffte auf Verständnis ihrer Freundin.
»Na klar, kein Problem. Ich bin sowieso gerade auf dem Sprung. Ich bin noch zu einer Cocktailparty eingeladen. Bis bald.« Vicky klappte ihr Handy zusammen.
»Schlechte Nachrichten?« Vicky blickte erschrocken auf. Da standen sie schon wieder vor ihr. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht, diese blauen Augen.
»Wie bitte?« Fragend blickte sie Joaquín an.
»Schlechte Nachrichten?«, wiederholte er seine Frage. Sein Gesicht und seine Augen blieben unverändert.
»Wieso schlechte Nachrichten?« Vicky verstand seine Frage nicht. Dann fiel ihr ein, dass sie sich vorhin von ihm aufgrund eines angeblichen Dates verabschiedet hatte.
»Ach so, nein. Ich habe nur mit einer Freundin gesprochen.« Vicky versuchte locker zu wirken.
»Ich dachte, man hätte Sie versetzt.«
»Nein, ganz und gar nicht«, wehrte Vicky ab. »Wir treffen uns nur später.«
»Wenn das so ist. Dann gute Nacht.« Joaquín drehte sich um und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war.
Vicky blickte ihm nach. Was war denn das gewesen? Irgendwie war er ihr unheimlich. Vor allem diese Augen, die einen fast mit ihren Blicken durchdrangen. Schnell zahlte sie ihr Getränk und schlenderte zurück Richtung Hafen, wo ihr Auto stand.