Читать книгу Herz über Kopf nach Mallorca - Nico Fleming - Страница 4
Kapitel Drei
ОглавлениеAm nächsten Tag gönnte sich Vicky erst einmal eine kleine Sonneneinheit. Sie verbrachte den Tag an dem kleinen Hotelstrand und beobachtete das Treiben der anderen Gäste. Von ihnen angeregt, ging sie hinunter zum Meer und ließ sich eine Weile im Wasser treiben. Es war herrlich angenehm. Das Wasser glitzerte in den Sonnenstrahlen und bot Vicky eine herrliche Erfrischung. Es war einfach wunderbar, ohne irgendeine Verpflichtung in den Tag hineinleben zu können. Das hatte Vicky schon lange nicht mehr gemacht. Das Mittagessen ließ sie demzufolge ausfallen und beschloss, am frühen Nachmittag nach Port d’Andratx zu fahren, um dort ein bisschen zu bummeln und eine Kleinigkeit am Hafen zu essen.
Vicky nahm die Autobahn nach Westen und fuhr dann die restliche Strecke über Landstrasse nach Port d’Andratx. Die Gegend war herrlich. Zudem bot das Wetter einen traumhaften Blick Richtung Meer. Vicky erreichte die Hafenstadt in den frühen Nachmittagsstunden. Es war keine Wolke am Himmel zu sehen, der in einem klaren Blau erstrahlte. Die Sonne glitzerte im Meer. Vicky hatte das Gefühl, allein auf der Insel zu sein, so ruhig und friedfertig kam ihr alles vor. Sie fuhr daher nicht direkt zum Hafen, sondern Richtung Sa Moll. Das war eine Seite der Landzunge, die sich hoch über dem Meer erhob. Sie war mittlerweile von vielen Neubauten übersät, aber hier und da gab es dennoch einige Aussichtspunkte, von denen man einen herrlichen Blick in die Bucht hatte. Und es war auch nicht uninteressant, sich die vielen, hauptsächlich sehr schönen Häuser anzusehen.
Nach einer Weile fuhr Vicky den Berg wieder hinunter und parkte ihren Wagen am Hafen, um anschließend zu Fuß zur Promenade zurückzulaufen. Bei dem herrlichen Wetter waren fast alle Tische der Cafés belegt. Dass Port d’Andratx gerade bei den Deutschen sehr beliebt war, ließ sich nicht verleugnen: von überall her hörte Vicky deutsches Stimmengewirr. Vicky ging daher weiter in die kleinen Nebenstrassen. Dort gab es viele nette Geschäfte mit einheimischen Waren. Vicky erstand einige Kleinigkeiten. Da sie sich auf dieser Insel so heimisch fühlte, wollte sie ihre Wohnung mit einigen mallorquinischen Accessoires verschönern.
»Hallo, Vicky.« Vicky verließ gerade ein Geschäft, als sie ihren Namen hörte. Verwundert blickte sie sich um und sah von auf der anderen Straßenseite Teresa winken.
»Das ist ja eine Überraschung, dass wir uns hier treffen«, sagte Teresa freudig und begrüßte Vicky wie eine alte Bekannte.
»Ja, das ist wirklich nett«, gab Vicky zurück.
»Was machen Sie denn hier?«
»Ich habe hier ein paar Freunde besucht. Nach der ganzen Organisation für die Ausstellung brauchte ich einfach mal einen Nachmittag frei. Wollen wir eine Kaffee zusammen trinken?«, bot Teresa an.
»Ja, gern«, antwortete Vicky.
»Ich war gerade auf dem Weg zum Hafen, um dort etwas zu trinken. Ist es Ihnen recht, dass wir dorthin gehen?«
»Aber natürlich«, erwiderte Teresa lachend. »Sie meinen wegen der ganzen Touristen?« Vicky sah etwas verlegen aus. »Das macht mir nichts. Schließlich leben wir davon. Kommen Sie.«
Gemeinsam zogen die beiden Frauen los. Vicky kam es schon fast so vor, als würden sie und Teresa sich seit Jahren kennen. In einem der Cafés fanden sie noch einen freien Tisch. Da Vicky Hunger verspürte, bestellte sie sich auch noch einen Salat. Teresa machte wirklich einen unkomplizierten Eindruck.
»Sollen wir das ›Sie‹ nicht weglassen?«, schlug Vicky vor.
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Teresa ihr bei. »Sag mal, wie lange bleibst du noch hier?«
»Noch etwas mehr als zweieinhalb Wochen. Ich bin erst seit drei Tagen auf der Insel und habe fast noch meinen ganzen Urlaub vor mir.« Vicky lehnte sich behaglich in ihren Stuhl zurück. Drei Wochen Urlaub am Stück hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Bei dem Gedanken daran war sie beinahe wunschlos glücklich.
»Drei Wochen allein im Urlaub?« fragte Teresa ungläubig. »Was machst du dann die ganze Zeit?«
»Nun ja, als erstes wollte ich unbedingt die Ausstellung sehen, so blöd wie das klingt«, gab Vicky zu. »Aber ansonsten möchte ich einfach das Alleinsein genießen, etwas am Strand liegen, viel umherfahren und die Insel erkunden und es mir einfach gut gehen lassen.«
»Das hört sich phantastisch entspannend an. Aber wenn dir langweilig ist, komm’ ruhig in der Galerie vorbei. Dann können wir zusammen etwas essen gehen, wenn du magst.«
»Ja, das mache ich auf jeden Fall«, antwortete Vicky. »Ich wollte sowieso noch einmal vorbeikommen, um mir die Bilder in Ruhe anzusehen. Gestern konnte man nicht so sehr viel erkennen und es war auch zu laut und zu voll. Ich betrachte eine Ausstellung lieber, wenn ich etwas mehr Ruhe habe.«
»Guckst du dir viele Ausstellungen in Deutschland an?«, fragte Teresa interessiert.
»Nein, eigentlich nicht«, gab Vicky zu. »Ich habe zu Hause nicht die Zeit oder nehme sie mir besser gesagt nicht.«
»Ja, das kenne ich. Aber es ist schön, dass du sie dir hier nimmst.« Teresa blickte auf ihre Uhr. »Oh, schon so spät. Ich muss wieder zurück. Meine Kinder möchten, dass ich sie heute unbedingt ins Bett bringe.«
»Du hast Kinder?«, fragte Vicky erstaunt.
»Ja, zwei. Einen Jungen und ein Mädchen. Du wirst sie bestimmt bald kennenlernen. Ich muss los. Komm bald in der Galerie vorbei.«
»Das werde ich auf jeden Fall tun«, antwortete Vicky. »Bis bald.« Sie winkte Teresa noch einmal zu und blickte dann zum Hafen. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. So konnte sie sich den Urlaub gefallen lassen. Bis jetzt hatte er doch wirklich gut angefangen.
Vicky nahm ihr Buch aus der Tasche und beschloss, etwas darin zu lesen. Sie merkte, dass ihre Gedanken wieder frei waren und sie sich erneut auf alltägliche Dinge konzentrieren konnte. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bergen. Trotzdem blieb es angenehm warm. Vicky bezahlte ihr Essen und schrieb noch schnell eine SMS an Rebecca. Nach dem späten Anruf in der letzten Nacht wollte sie ihrer Freundin wenigstens kurz mitteilen, dass es ihr sehr gut gehe und sie ihren Urlaub richtig genieße.
Gerade als Vicky aufstehen wollte, meldete ihr Handy den Eingang einer SMS.
»Was meinst du mit genießen? Wie heißt er?? Ist es der Fotograf? Küsschen, Becky«.
Vicky musste unwillkürlich lachen. Das hatte sie jetzt davon. Schließlich war es allgemein bekannt, dass sie für die Fotoausstellung nach Mallorca geflogen war.
»Nein, kein Mann. Habe seine Schwester kennengelernt. Ist super nett. Lasse ansonsten meine Seele baumeln und fühle mich richtig gut. Bis bald, Vicky.«
Vicky schlenderte langsam zum Auto zurück und erreichte ihr Hotel in den frühen Abendstunden. Sie setzte sich dort noch eine Weile nach draußen und gönnte sich eine halbe Flasche Rotwein. Mit der richtigen Bettschwere fiel sie dann etwas später müde ins Bett.
Vicky ging am späten Nachmittag des nächsten Tages wieder in die Galerie. Sie sah Teresa, die sich am anderen Ende mit einem Mann unterhielt. Wahrscheinlich jemand, der an einem Bild interessiert war, dachte Vicky. Sie nickte kurz in Teresas Richtung und fing an, die Fotografien in Ruhe zu betrachten. Auf einem kleinen Tisch waren Broschüren ausgelegt, in denen in kurzen Zügen die Ausstellung illustriert wurde. Vicky setzte sich auf einen Stuhl und nahm sich einen Augenblick Zeit, das kleine Heftchen zu lesen.
»So schnell sieht man sich wieder.« Vicky blickte auf und schaute in Chris’ Gesicht, der grinsend vor ihr stand. »Das ist schön, dass Sie noch einmal wiedergekommen sind.« Chris strahlte Vicky mit seinem umwerfendsten Lächeln an. Verlegen stand sie auf und gab ihm die Hand.
»Ich sagte doch, dass ich noch einmal vorbei komme.«
»Das sagen viele«, gab Chris zurück. »Aber viele sagen es einfach nur so daher. Es ist schön, dass Sie nicht so oberflächlich sind. Es ist noch Champagner da. Möchten Sie ein Glas?«
Vicky lächelte ihn an. »Gern. Warum nicht.«
»Wenn Sie kurz hier warten möchten«, sagte Chris und verschwand im hinteren Teil der Galerie. In der Zwischenzeit hatte Teresa ihr Gespräch mit dem älteren Herrn beendet und gesellte sich zu Vicky.
»Hallo, Vicky«, begrüßte sie diese und drückte sie herzlich an sich. »Schön, dass du schon heute vorbeigekommen bist. War Chris nicht gerade hier?«
»Er holt nur schnell Champagner«, antwortete Vicky verlegen.
»Ach, mein guter Bruder. Braucht immer einen Vorwand, um etwas trinken zu können. Ich hoffe, er bringt ein Glas für mich mit«, scherzte Teresa.
»Das habe ich gehört«, gab Chris entrüstet zurück. »Ich hoffe, du hast dir dein Glas verdient.«
»Aber natürlich, Brüderchen. Der Herr, der gerade hier war, ist an einer Fotostrecke interessiert.« Lachend drückte Teresa ihren Bruder und nahm ihm ein Glas ab. Vicky betrachtete die beiden, wie sie herzlich miteinander umgingen. Sie selbst war Einzelkind und konnte daher solche Erfahrungen nicht teilen. Dafür hatte sie allerdings ihre Mädels, die genauso nett miteinander umgingen. Das war ebenfalls viel Wert.
»Was hast du heute Abend vor, Vicky?«, fragte Teresa unvermittelt.
»Eigentlich nichts weiter. Ich wollte hier noch etwas Zeit verbringen. Um mir die Fotografien anzusehen«, schob sie schnell hinterher.
»Das trifft sich gut«, erwiderte Teresa. »Wir wollen gleich noch mit ein paar Freunden essen gehen. Hast du Lust, mitzukommen?«
»Ich weiß nicht so recht.« Vicky schaute zu Chris.
»Doch, das ist eine gute Idee«, meinte er. »Ein Teil von ihnen spricht zwar nicht so gut englisch, aber es wird bestimmt lustig.« Chris hatte sein Glas Champagner geleert und schenkte sich noch einmal nach. Vicky wusste nicht recht, wie sie sich entscheiden sollte. Andererseits war sie allein im Urlaub und sicherlich war es interessant, mit Ein-heimischen wegzugehen.
»Also, wenn ich wirklich nicht störe, dann würde ich sehr gern mitgehen«, entschloss sie sich spontan.
»Das ist gut«, freute sich Teresa. »Dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Ich habe nicht so oft Gelegenheit, mich intensiv auf Deutsch zu unterhalten.« Das war sicherlich nicht ganz korrekt, so gut wie Teresa sprach, aber Vicky fand es sehr nett, eingeladen worden zu sein.
»Ich habe noch etwas Schreibarbeit zu erledigen, aber in einer guten Stunde können wir gehen. Es sei denn, Chris«, wandte sich Teresa ihrem Bruder zu, »wenn du nichts zu tun hast, könntest du doch mit Vicky schon einmal vorgehen. Wenn es dir recht ist, Vicky.«
»Eigentlich wollte ich mir die Ausstellung noch etwas ansehen«, versuchte Vicky einzuwenden.
»Dazu hast du doch noch genug Zeit«, erwiderte Teresa.
»Die anderen treffen sich sowieso erst gegen sieben«, mischte sich Chris ein, der genüsslich an seinem Champagner nippte. »So kann Vicky sich noch die Ausstellung ansehen und du in Ruhe im Büro arbeiten. Ich gehe noch einmal kurz weg und hole euch dann ab. Ist das okay?« Chris blickte abwechselnd zu beiden Frauen.
»Das klingt gut, nicht wahr, Vicky?« Vicky nickte. »Gut, dann werde ich jetzt ins Büro gehen. Vicky, du bist mit Champagner versorgt. Wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach.« Mit diesen Worten verschwand Teresa in den hinteren Räumen der Galerie.
»Ist sie nicht umwerfend?«, fragte Chris und nahm Vicky dabei in den Arm. »Meine kleine Schwester ist der unkomplizierteste Mensch, den ich kenne. Wir sehen uns später.« Er drückte Vicky noch kurz, stellte sein Glas Champagner auf den Tisch und verließ kurz darauf die Galerie.
Vicky stand allein im Raum, ihr Glas Champagner, von dem sie nicht viel getrunken hatte, noch in der Hand. Sie war verblüfft über das, was sich gerade eben abgespielt hatte. Seit vier Tagen war sie auf der Insel und ging bereits mit dem Fotografen, seiner Schwester und Freunden zum Essen. War das jetzt wirklich alles passiert oder hatte sie das nur geträumt? Plötzlich kam sie sich etwas verloren vor. Sie setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Tisch stand und stellte ihr Glas ab.
Ihr Blick wanderte durch den Raum. Vicky betrachtete die Fotografien von weitem. Sie stellte fest, dass sie farblich zusammenhingen, auch wenn auf den Aufnahmen unterschiedliche Objekte abgebildet waren. Beispielsweise in der „blauen“ Ecke fand sie Fotografien vom Meer, Wellen, Himmel, blauen Pflanzen und Menschen in blauer Kleidung. Sie hatte das Gefühl, dass die Bilder von der Allgemeinheit und dem unendlichen Volumen des Himmels sich über das Meer, einzelne Wellen, Menschen in blauer Kleidung bis hin zu kleinen blauen Pflanzen und Gegenständen auf minimale Größe reduzierten. Einzeln betrachtet waren die Aufnahmen wunderschön, aber in der Gesamtheit zeigten sie, wie verloren und klein man sich im Universum vorkommen konnte. Vicky war verblüfft über die Wirkung der Bilder.
Die Zeit verging wie im Flug. Nach einer Stunde kam Chris gut gelaunt in die Galerie zurück. Er erspähte Vicky in der »Ahnenkammer«.
»Ich komme sofort zu Ihnen«, rief er ihr zu und verschwand Richtung Büro. Nach einer Weile kam er mit Teresa zurück. »Sind Sie soweit?« fragte er Vicky.
»Die Bilder sind wirklich faszinierend. Ich habe noch nicht alles genau gesehen, aber wir können gern gehen.«
»Chris, meinst du nicht, dass ihr euch duzen solltet?«, mischte sich Teresa ein.
»Na, klar«, gab dieser mit einem breiten Grinsen zurück. »Als mittlerweile gute Freundin meiner Schwester sollten wir das auf jeden Fall tun.« Vicky fühlte sich geschmeichelt. Chris hatte wirklich ein sehr gewinnendes Wesen. »Dann wollen wir jetzt einmal losgehen. Wenn Sie bitte kommen würden, meine Damen«, sprach Chris und hakte sich bei beiden unter.
Lachend verließen sie zu dritt die Galerie. Als sie am Restaurant ankamen, klingelte Teresas Handy. Chris machte die Tür auf und warf einen Blick hinein. Teresa war an der Straße stehen geblieben und diskutierte in schnellem Spanisch. Bevor Vicky es sich versah, hatte sich Chris schnell wieder umgedreht und ihre Hand ergriffen.
»Komm, Vicky, lass uns reingehen, bevor die anderen kommen.« Vicky versuchte sich dagegen zu wehren, hatte jedoch keine Chance, da Chris ihre Hand festhielt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Der Tisch war für 20 Personen reserviert. Mit so einer großen Gruppe hatte Vicky nicht gerechnet. Sie kam sich schon jetzt ganz verloren vor. Glücklicherweise kam Teresa in diesem Moment zur Tür herein und nahm auf ihrer anderen Seite Platz.
»Das war gerade mein Mann. Der Babysitter ist noch nicht da und er kommt etwas später.«
»Ist mit den Kindern denn alles in Ordnung?«, fragte Vicky interessiert.
»Ja, die schlafen schon. Carlos hat sie ausnahmsweise einmal früh ins Bett bekommen und ist jetzt sauer, dass der Babysitter noch nicht da ist. Aber das legt sich beim ihm gleich wieder. Er ist immer sehr aufbrausend.« Teresa lachte lauthals und warf Chris schnell ein paar Sätze auf Spanisch zu.
Vicky verstand kein Wort. Wenn die anderen auch nur Spanisch sprechen würden, konnte das ja ein interessanter Abend für sie werden. Da muss ich nun wohl durch, dachte sie bei sich. Auch wenn ich nicht viel verstehen werde.
Nach und nach kamen die ersten Freunde dazu und Vicky wurde von allen herzlich begrüßt. Chris hatte für alle bereits ein paar Flaschen Rotwein und Tapas bestellt, als die Tür wieder aufging. Vor lauter Stimmengewirr konnte man das Aufschlagen der Tür nicht hören, aber Vicky blickte instinktiv zum Eingang. Ihre Blicke trafen sich sofort und Vicky blickte schnell zu ihrem Teller, als sie Joaquín erkannte. Es war nur noch ein Platz frei, genau gegenüber von Vicky.
›Muss das denn sein?‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Er ist mir so unsympathisch.‹ Sie blickte wieder hoch und nickte Joaquín zu, der ihren Gruß jedoch nicht erwiderte. Er begrüßte die anderen Gäste und ging dann auf Vicky zu. Ihr war unangenehm zumute, als er sich ihr näherte. Dann blieb er jedoch bei seiner Schwester stehen und umarmte sie herzlich.
»Joaquín, erinnerst du dich noch an Vicky? Sie war zur Eröffnung da.« Er nickte kurz und gab Vicky die Hand.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er Vicky.
»Gut, danke«, antwortete sie verlegen. Joaquín ging um den Tisch herum und nahm Vicky gegenüber Platz. Vicky starrte auf ihren Teller. Der Bruder strahlte eine Unnahbarkeit aus, die sie selten erlebt hatte. Glücklicherweise vertiefte er sich gleich in ein Gespräch mit seinem Nachbarn zur linken.
»Und, wie geht es dir?« Chris drehte sich zu Vicky um.
»Danke, ganz gut. Ich verstehe zwar kein Wort, aber das ist schon in Ordnung.« Vicky gab sich locker. Was hatte sie denn erwartet? Dass sich alle auf sie stürzen würden, nur um sich mit ihr unterhalten zu können? Es waren nun einmal Freunde von Chris und Teresa, die sich natürlich mit ihnen unterhalten wollten und nicht mit einer Deutschen, die zufällig an diesem Essen teilnahm.
Vicky spürte, wie sie beobachtet wurde. Sie blickte hoch und sah die blauen Augen sie anstarren. Was sollte das? Vicky merkte, wie sie innerlich etwas sauer wurde. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sie sich.
»Ist irgendetwas?«, fragte sie ihr Gegenüber.
»Ich habe nur darüber nachgedacht, wie Sie sich gerade fühlen.«
Vicky war perplex. Das hätte sie jetzt nicht erwartet. »Mir geht es sehr gut. Es ist sehr interessant hier«, erwiderte sie leicht arrogant.
»Dann ist es ja gut, wenn Sie sich gut amüsieren«, gab Joaquín wortkarg zurück. Die Mauer war wieder zu.
Vicky schüttelte leicht den Kopf. Was war das denn für ein Typ? So ganz anders als seine offenherzigen Geschwister. Vicky wollte sich wieder mit Teresa unterhalten, merkte aber, dass diese in ein Gespräch vertieft war. Vicky drehte sich zu Chris um, der ebenfalls leicht abgewendet neben ihr saß. Vicky spürte die Augen wieder auf sich ruhen, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Sie nahm ihr Glas Rotwein in die Hand und lehnte sich zurück. Dabei trafen sich wieder ihre Blicke. Glücklicherweise wurde Joaquín in ein Gespräch verwickelt, so dass er sie erst einmal nicht weiter beobachten konnte.
Vicky betrachtete Chris von der Seite. Er lachte herzlich auf und diskutierte mit zwei Freunden gleichzeitig. Er war schon ein ziemlicher Modeltyp und strahlte ein gesundes Selbstvertrauen aus. Er wirkte in allem, was er tat, sehr überzeugend und besaß eine unheimliche Anziehungskraft. Und sein Lachen war einfach umwerfend.
Chris bemerkte, dass Vicky ihn beobachtete. Er drehte sich zu ihr um und blickte ihr genau in die Augen. Vicky fühlte sich unangenehm.
»Entschuldige, ich war ganz in Gedanken«, gab sie schnell von sich. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich dich angestarrt habe«, log sie.
»Das ist okay«, grinste Chris sie an. »Das machen wahnsinnig viele Frauen, aber keine schwindelt so charmant wie du.« Chris lachte sie entwaffnend an und ergriff ihre Hand. Langsam fühlte Vicky die Hitze in ihr hochsteigen. Irgendwie musste sie sich jetzt aus der Affäre ziehen.
»Vicky, kannst du mir vielleicht sagen, wie das Restaurant in München heißt, dass in der Nähe in der Brienner Straße ist, in einem alten Haus, mit blauem Licht innen«, erlöste Teresa Vicky aus dieser unangenehmen Situation.
»Meinst du das Lenbach vielleicht?« Vicky war erleichtert sich von Chris abwenden zu können.
»Ja, genau das meine ich. Letizia war auch ein halbes Jahr in München und war davon sehr begeistert.«
Die Spanierin zu Teresas Linken lächelte Vicky an. Weiter wurde sie allerdings nicht in das Gespräch miteinbezogen. Vicky blickte wieder geradeaus und stellte erleichtert fest, dass Joaquín diesmal nichts bemerkt hatte. Vicky verspürte auf einmal Müdigkeit und Leere. Inmitten der ganzen laut diskutierenden Spanier fühlte sie sich doch etwas verloren. Sie wollte nur noch zurück ins Hotel und diesen Abend beenden.
»Ich muss mich jetzt leider verabschieden, Chris. Ich bekomme morgen früh Besuch und muss zum Flughafen«, log sie, ohne rot zu werden.
»Sei ganz entspannt. Du hast doch noch eine Menge Zeit. Es ist gerade mal halb zehn.« Chris’ Zähne blitzten sie an.
»Nein, wirklich, Chris. Ich werde jetzt gehen. Es war ein toller Abend.«
»Was soll das jetzt heißen?«, tat Chris entrüstet. »Sag bloß, du willst mich nicht wieder sehen?«
Vicky wurde ganz unangenehm zumute. »Doch natürlich. Warum nicht?« stotterte sie.
»Komm doch morgen mit deinem Besuch in die Galerie«, sagte Chris vereinnahmend.
»Oh, das ist wirklich nett gemeint, aber wir haben schon ein Programm aufgestellt. Das wird nicht klappen.«
»Kein Problem«, antwortete Chris großzügig. »Aber wenn ihr Zeit habt, dann kommt einfach rein und fragt nach mir. Entweder bin ich da oder man ruft mich an. Okay?«
»Ja, das ist in Ordnung.« Vicky erhob sich von ihrem Stuhl.
»Warte, ich werde dich noch hinausbegleiten.« Vicky merkte, dass jeder Widerstand zwecklos war. Sie verabschiedete sich von Teresa und nickte Joaquín zu, der kurz aufblickte. Chris hielt Vicky die Tür auf.
»Brauchst du ein Taxi?«, fragte er sie.
»Ja, das ist wohl besser«, antwortete Vicky. »Ich habe ein paar Gläser Wein getrunken.« Sie gingen zur Straße und fanden direkt einen Wagen.
Als Vicky die Tür öffnen wollte, fasste Chris sie am Arm und drehte sie zu sich herum. Sie blickte ihm in die Augen und spürte einen Augenblick später seine Lippen auf ihrem Mund. Der Kuss war äußerst leidenschaftlich und impulsiv. Vicky war so überrumpelt, dass sie vergaß zu reagieren. Im nächsten Moment öffnete Chris auch schon die Tür des Taxis und schob Vicky hinein.
»Ich wünsche dir eine angenehme Nacht«, verabschiedete er sich von Vicky. Dann schlug er die Tür zu, drehte er sich um und ging zum Restaurant zurück.
Im Taxi holte Vicky tief Luft. Verwirrt starrte sie Chris nach. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas Grundlegendes nicht mitbekommen zu haben. Sollte sich Chris, der Fotograf, den sie unbedingt kennenlernen wollte, zu ihr hingezogen fühlen? Oder war es wahrscheinlicher, dass Chris sie als Freiwild betrachtete, nur weil sie aus Deutschland zu seiner Ausstellung gekommen war und seine Bilder sehr bewunderte? Das war doch alles sehr suspekt. Gastfreundschaft hin oder her, aber das, was eben passiert war, entsprach einfach nicht ihren Vorstellungen. Sie war doch kein junges Ding mehr, das ein Abenteuer auf Mallorca suchte. So war sie nicht gekleidet und so hatte sie sich auch nicht gegeben. Oder hatte sie doch die falschen Signale gesendet? Hatte sie mit ihrem Verhalten den Eindruck erweckt, dass sie ein Abenteuer suchte und leicht zu haben war? Vicky lief ein Schauer über den Rücken. Das war auf jeden Fall nicht sie, ganz klar. Vicky wollte nur noch schnell ins Hotel und in ihr Bett fallen. Nur leider ließen sich ihre Gedanken nicht abschütteln und vor allem nicht der Kuss, den sie bekommen hatte. Sie entschloss sich, Rebecca eine SMS zu schicken, in der Hoffnung, dass sie noch wach war.
Fünf Minuten später klingelte ihr Handy.
»Hi, wo brennt’s denn?«, fragte Rebecca ihre Freundin.
»Schön, dass du noch wach bist, Becky. Ich glaube, ich habe eben Mist gebaut.«
»Erzähl, hattest du wilden Sex mit deinem Spanier?« Rebecca platzte fast vor Neugierde.
»Nicht ganz«, wehrte Vicky ab.
»Wow, du gehst aber ran. Ich will Einzelheiten hören.«
»Becky, kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen?«
»Oh, ist er noch bei dir?«
Vicky konnte die Anzüglichkeit in Rebeccas Stimme hören. »Nein, hör auf. Ich sitze im Taxi und fahre gerade in mein Hotel. Von meinem Zimmer kann ich doch etwas besser telefonieren als hier im Taxi.«
»Na klar, bis gleich.«
Kurze Zeit später hielt das Taxi vor dem Hotel. Vicky zahlte schnell und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. In ihrem Zimmer zog sie sich um, holte sich ein Cola aus der Minibar und rief, auf dem Bett liegend, ihre Freundin zurück. In allen Einzelheiten berichtete sie ihr von dem heutigen Abend, kein Detail auslassend.
»Was hältst du davon, Becky? Findest du nicht auch, dass er ein bisschen dreist und von sich eingenommen ist?«
»Das schon«, antwortete diese. »Aber was erwartest du bzw. hast du erwartet? Du hast den Mann kennengelernt, den du kennenlernen wolltest. Er scheint dich ganz sympathisch zu finden. Oder hast du den Eindruck, dass er jedes Mädel abknutscht?«, wollte Rebecca wissen.
»Das kann ich nicht beurteilen. Die anderen kannte er ja schon.«
»Und hat er von denen eine dauernd angebaggert?«, bohrte Rebecca weiter.
»Nein, das ist mir nicht aufgefallen.« Vicky wirkte nachdenklich. »Aber das ist doch Unsinn, zu denken, er würde mich direkt von jetzt auf gleich toll finden. Wir haben uns ja kaum unterhalten.«
»Aber was hast du dir vorgestellt?« Rebecca ließ nicht locker. »Wieso bist du dahin geflogen?«
»Ich weiß nicht so recht. Eigentlich hoffte ich doch in meinem tiefsten Inneren, dass alles nur Einbildung ist und ich von irgendeinem wilden Pferd geritten wurde. Und jetzt ist alles kompliziert.« Vicky stöhnte auf.
»Vicky, du musst dir darüber klar werden, was du willst. Du wolltest ihn doch kennenlernen, oder nicht?«
»Ja, klar.«
»Und zufällig ging alles ganz schnell und zufällig findet er dich, aus einem mir nicht erklärlichen Grund, auch noch sympathisch. Also, was willst du mehr? Schnapp ihn dir, solange es währt. Mach dir einfach einen schönen Urlaub. Mach das, wozu du Lust hast. In drei Wochen kommst du wieder zurück und dann hast du eine schöne Erinnerung. Du hast doch nicht vor, dich direkt wieder fest binden zu wollen?“
Rebecca war wirklich unerbittlich, aber sie hatte ja Recht. Vicky musste sich darüber im klaren werden, was sie wollte. Sie hatte diese ganze Geschichte angefangen, jetzt musste sie sie auch zu Ende bringen. Irgendwie. Oder über ihren Schatten springen und einen harmlosen Urlaubsflirt anfangen.
Warum eigentlich nicht? Sie musste sich vor keinem rechtfertigen, war alt genug, das allein zu entscheiden. Warum sollte sie nicht ihr Single-Leben genießen? Rebecca hatte Recht.
»Ich danke dir, Becky.«
»Ich schicke dir meine Rechnung nach dem Urlaub zu«, gab Rebecca lachend zurück. »Mach dir wirklich ein paar schöne Wochen. Genieße es und denk nicht so viel nach. Gute Nacht, Vicky.«
Vicky lehnte sich zurück. Sie war hier, um sich einen schönen Urlaub zu machen. Sie hatte auf Anhieb den Mann getroffen, den sie unbedingt treffen wollte, und sie würde ihn wieder treffen. Ja, sie würde ihn wieder treffen. Nur nicht heute, aber morgen. Morgen ist auch noch ein Tag, sagte doch schon Scarlett O’Hara! Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief Vicky ein.