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»Und es gibt keine Zeit, in der ich alleine bin« Vertrautheit, Innigkeit, Intimität: Die Liebe als Leitmotiv
ОглавлениеLetzte Nacht sagte ich diese Worte zu meinem Mädchen:
Ich weiß, du versuchst es nicht einmal.
Nun komm schon.
Bitte, tu mir den Gefallen.
So wie ich ihn dir tue.
Du musst mir nicht zeigen wie, Liebe.
Warum muss ich immer von »Liebe« reden? …
Ich will mich ja nicht beklagen, aber du weißt, es regnet immer in meinem Herzen.
Ich tu doch alles für dich.
Es ist so schwierig, vernünftig mit dir zu reden.
Warum machst du mich traurig?
Komm schon, tu mir den Gefallen.
Yeah!
Please please me, whoa yeah!
Es gibt mehrere Möglichkeiten, »Please Please Me« ins Deutsche zu übertragen. So einfach der Text des ersten, von Paul McCartney geschriebenen Beatles-Hits in England »Love Me Do« ist, so vieldeutig sind die Worte seines Partners auf der zweiten und deutlich erfolgreicheren Hit-Single der Band, »Please Please Me«, die im März 1963 erstmals Platz eins im »Melody Maker« erreicht.
Außerhalb Liverpools kennt man die vier Musiker vor diesem Hit kaum. Mit John Lennons mehrdeutiger Bitte erreichen die Beatles ihren ersten nationalen Top-Ten-Erfolg. Produzent George Martin, der ursprünglich die liebliche und harmlose Fremdkomposition »How Do You Do It« statt »Please Please Me« veröffentlichen wollte, ist begeistert, er spürt die beginnende Mersey-Beat-Hysterie (eine Anspielung auf das County Merseyside, in dem Liverpool liegt) und bittet die vier wieder ins Studio. »Please Please Me« gibt auch der ersten LP den Namen, verwirrt und erhitzt die Fans und begründet die Beatlemania.
»Love Me Do« und »Please Please Me«, zwei Songs, zwei Welten: Pauls Ob-La-Di-Naivität und Johns Yer-Blues-Komplexität (yer = slang für »you«) manifestieren sich auf den A-Seiten dieser beiden ersten, später auch internationalen Beatles-Hits, die den Beginn der Fab-Four-Karriere markieren. Der Gestus ist bei beiden Stücken derselbe: direkte Ansprache der weiblichen Fans. Liebt uns! Aber die Wirkung ist grundverschieden. Hier der brave Paul, der 21-mal »love« wiederholt, da der spitzbübische John, der mit einer Gospel-Stimme Zweideutigkeiten schreit (You don’t need to show me the way, love, was frei interpretiert bedeutet: »Du brauchst mir nicht zu zeigen, wie man Liebe macht«) und mit seiner Mundharmonika ein Markenzeichen setzt. Vom Einsatz der Mundharmonika auf Platten, dem ersten Instrument, das er als Kind spielt, verabschiedet er sich erst zwei Jahre und insgesamt sieben Beatles-Songs später im August 1964 mit »I’m A Loser«.
John Lennon schreibt »Please Please Me« in Liverpool in der Menlove Avenue mit 22 Jahren. Zwei Lieder beeinflussen ihn dabei: »Only The Lonely« von Roy Orbison – er mag die oft trübsinnigen und grüblerischen Eigenkompositionen voller Melancholie und Weltschmerz und will es dem vier Jahre älteren Texaner gleichtun – sowie »Please« von Bing Crosby. Mutter Julia singt ihrem erstgeborenen Kind, ihrem einzigen Sohn (es folgen drei Töchter) den Crosby-Hit aus dem Jahr 1932 mit der Zeile »Oh please, lend your little ear to my pleas« vor; Sohn John ist schon als Kind begeistert von Wortspielen. Homonyme und Polyseme faszinieren ihn sein Leben lang und werden bei seinen Sprachspielereien immer wieder eingesetzt. Gleich im Auftakt des Liedes klingen Verb (please=bitte) und Substantiv (Pleas=Bitten, Gesuche) gleich, bedeuten aber etwas anderes. 30 Jahre nach Bing Crosby, im Winter 1962, treibt John Lennon das Wortspiel weiter: please, please me – bitte, erfreu mich – bitte, gefalle mir – bitte, mach mir die Freude – bitte, sei mir gefällig – bitte, stell mich zufrieden … Bitte, befriedige mich?
Paul hat in jenen Jahren die Angewohnheit, neue Kompositionen, die John und er eingeübt haben, einer Freundin vorzuspielen. Fast jede Woche ist er bei ihr und spielt ihr etwas auf der akustischen Gitarre vor. Dieses Mal liest er ausnahmsweise nur den Text, denn es sind Johns Worte und Paul ist unsicher, ja ratlos; er legt die Gitarre beiseite, denn er versteht den Text nicht ganz. Und seine Freundin kann auch nichts damit anfangen. Was soll dieses »Please Please Me« genau heißen?
Schon in Lennons erstem Hit öffnet er Spekulationen Tür und Tor und provoziert. Was oberflächlich wie ein unschuldiger Popsong mit einer Eröffnungsfanfare und hohem Wiedererkennungswert klingt, wird später von der New Yorker Zeitung »Village Voice« als erotisch, ja als Aufforderung zum Sex – präziser noch – zum oralen Sex verstanden.
Viermal wird das sich steigernde »C’mon« jeweils wiederholt. Im Gospel-Stil mit Crisp singt John es vor, Paul und George echoen ihn. Ein elektrisierendes Crescendo. Eine seltsame Kombination aus aufpeitschender Musik und gut singbaren, aber nicht ganz klaren Wortspielereien. Ein neuer Sound, eine neue Mischung. Liverpool als Ursprungsort eines neuen Lebensgefühls. Das Phänomen Liverpop ist geboren. Das Ergebnis von »Please Please Me«: starke Emotionen – Freude, Glück, Sex, ein Hauch Trauer – und der Wunsch nach mehr.
John Lennon fordert nicht nur das weibliche Publikum auf, er stachelt auch seine Kumpels an. »C’mon!« Mit diesem Song wollen wir an die Spitze: »C’mon!« Mädchen, gebt es mir. Ich will es machen wie Elvis, Gene, Buddy und Roy, und ihr helft mir dabei. Denn es gibt keine schönere Art, sein Geld zu verdienen, als sich Songs auszudenken, sie auf der Bühne zu spielen und euch damit zur Raserei zu bringen.
C’mon! Yeah!
George Martin spürt, dass etwas Außerordentliches in der Luft liegt, etwas Unerhörtes, ein britischer Rock’n’Roll besonderer Güte, und er prophezeit es den vier Jungen nach dem letzten Take in den Abbey Road Studios am 11. Februar 1963: »›Please Please Me‹ wird ein Nr.-1-Hit«, sagt er, und er behält recht. Der gebürtige Londoner ist gelernter Oboist, ein Musiker mit fundierter Kenntnis der Klassik und Produzent mit abgeschlossener Ausbildung an der Guildhall School of Music. Er ist 14 Jahre älter als John, arbeitet seit 1950 für das Plattenlabel Parlophone, das zu EMI gehört, und sorgt dafür, dass die Beatles den Song schneller spielen, als von Lennon ursprünglich vorgesehen.
Allein in seinem Zimmer, auf dem Bett, dessen Decke ein rotes Lochmuster ziert, denkt Lennon beim Komponieren von »Please Please Me« an einen schwermütigen Song voller unerfüllter Sehnsucht. An einen Schmachtfetzen à la Roy Orbison, eine Klage ähnlich wie »Only The Lonely«, die er übertreffen will. Aber er will seinem Einsamkeitsgefühl authentischer Ausdruck verleihen als Orbison.
Doch die Stimmung im Studio bei den Kumpels und beim Produzenten ist eine andere: Klar kann man versuchen, die schöne Ballade auf Touren zu bringen. Offen für Neues und geübt im Variieren der Tempi – schon das Intro zu ihrer allerersten, in Deutschland aufgenommenen Single »My Bonnie« beginnt pathetisch langsam, um dann aufzudrehen –, greifen die Rock’n’Roller George Martins Beschleunigungsvorschlag für »Please Please Me« auf. Beschleunigte Schwermut. Highspeed-Melancholie.
Die späteren Filmaufnahmen zeigen Ringo Starr, wie er wie in Ekstase im Rücken seiner drei Freunde wirbelt, immer wieder von seinem Hocker abhebt und kraftvoll jedes »C’mon!« befeuert, so dass man all die Anfangsdiskussionen um seine Qualitäten als Drummer nur noch schwer nachvollziehen kann. Wer drischt denn schon derart dramatisch wie Ringo Starr auf der Anthology-Fassung von »Strawberry Fields« auf sein Schlaginstrument? Und selten trommelt jemand ein Solo auf Bassdrum, Standtom und Toms ohne Hi-Hat und ohne Becken wie er in »The End«. Virtuoseste Jazz-Drummer kommen in Verlegenheit, wenn sie ringoesk spielen sollen. Schade, dass der Mann mit dem markanten Schnauzer nicht öfter »Starr-Times« bei den Beatles bekommt, so wie früher als »Ringo the Hurricane« bei Rory Storm, als die »Starr-Time« Höhepunkt bei Live-Auftritten in Liverpool war.
Nach dem vierten durchgetrommelten »C’mon!« kulminiert der Ruf im kollektiven Falsettgeschrei Whoa yeah!
In allen Live-Auftritten steht John bei diesem Song allein am Mikro, etwas entfernt von ihm teilen sich Paul und George den anderen Schallwandler. Lennon, breitbeinig, allein und kurzsichtig in das Publikum blickend, in diese unbekannte Menschenmenge, die es zu erobern gilt, die etwas Lockendes, aber auch etwas Bedrohliches hat. Ein schwer fassbares Wesen, von dem so viel abhängt – Erfolg, Geld, Macht, Ruhm –, das er mit seinen Songs umwirbt und das er von Anfang an auch verachtet. Ein Wesen, dem John Lennon Grimassen schneidet, dem er Rätsel mit seinen Texten aufgibt, dem er sich ganz und gar öffnen wird – bis auf die Haut (»Lennon Naked« heißt ein Dokumentarfilm der BBC von 2010), um es zu verführen und vor dem er sich dann aber auch vollkommen zurückziehen wird, um seinen eigenen kleinen Familienschonraum zu gründen. Anziehung und Abstoßung, Nähe und Ferne: Das Publikum – die Summe aller Menschen, die John Lennon erreicht – bleibt bis zuletzt, bis zum 8. Dezember 1980 seine größte Leidenschaft und Bedrohung – in der Masse ebenso wie in der Vereinzelung, in der kollektiven Verehrung wie in der individuellen Ausprägung des einsamen und verrückten Fans.
Das erste Album »Please Please Me« profitiert von der Erfahrung als Live-Band in Hamburg und in Liverpool. Es bleibt bis zuletzt Lennons Lieblingsalbum der Beatles, da es ein wenig von der Reeperbahn-Live-Atmosphäre wiedergebe. Nach einer ersten Nr.-1-Single ist es für Musiker üblich, ein Album folgen zu lassen. George Martins ursprüngliche Idee besteht darin, einen Auftritt der Band im Cavern aufzuzeichnen, ein Club, der 1957 in Anlehnung an die Pariser Jazzkeller gegründet worden war und 1960 mit Rory Storm & The Hurricanes mit Ringo Starr am Schlagzeug seine erste Beatnacht erlebte. Die Beatles füllen schon Stadien, als Bands wie The Kinks, The Rolling Stones oder The Yardbirds im Cavern auftreten. Gefilmt werden die Beatles zwar im Cavern, aber die fehlenden zehn Songs nimmt man nicht in diesem Club, sondern in den Abbey Road Studios an nur einem Tag auf. George Martin besteht darauf, dass John Lennon »Twist And Shout« zuletzt singt, um seine Stimme für die anderen Stücke zu schonen, für die Komposition »There’s A Place« beispielsweise, für jenen Platz, wohin der Musiker gehen kann, wenn er schlecht drauf ist, wenn er traurig ist.
Schon in diesen harmlos poppigen Anfangszeiten setzt Lennon einen nicht nur im Sinnzusammenhang schrägen Vers in den Song, der für die Oberflächlichkeit der Unterhaltungsindustrie ungewöhnlich ist. Unvermittelt heißt es: And it’s my mind, and there’s no time when I’m alone. Zwischen den Polen Einsamkeit und Bühnenpräsenz, Zurückgezogenheit und dem Bad in der Menge, zwischen stiller Reflexion und medialer Selbstdarstellung, zwischen introvertiert und extrovertiert, Selbstzweifeln und Größenwahn, Meditation und Kabarett, Verstummen und Großmäuligkeit, zwischen Ekstase und Depression, Zärtlichkeit und Aggression schwankt der grüblerische Songwriter mit außerordentlich starken Ausschlägen nach oben und unten, die er für seine Kreativität nutzt, indem er sie thematisiert, indem er sie in Musik gießt.
Und es ist mein Kopf, mein Geist, mein Denken. Und es gibt keine Zeit, in der ich alleine bin, klagt er in »There’s A Place«.
Der Kontrast: »Twist And Shout«.
C’mon, c’mon, c’mon, c’mon and twist a little closer!
Nähe und Ferne im raschen Wechsel.
And let me know you’re mine! Wuuuu!
Kopfschütteln.
Shake it up baby!
Kopfschütteln.
Kopfschütteln als Aufforderung.
Kopfschütteln als Bekräftigung.
Kopfschütteln im Takt mit Ringos Drums.
Kopfschütteln als Zeichen der Ekstase.
Gemeinsames Kopfschütteln als Zeichen der Zugehörigkeit zu etwas Größerem.
Kopfschütteln und wehende Haare.
Kopfschütteln auf der Bühne und im Publikum.
Kopfschüttelnde Männer und Frauen.
Gleichzeitiges Kopfschütteln und Kreischen als Gemeinschaftserlebnis.
John Lennon beginnt schon bei »Twist And Shout« und den »Please Please Me«-Live-Auftritten den Kopf zu schütteln und sein markantes Schreien verschmilzt mit massentauglicher Popmusik. Der Song steigt selbst Jahrzehnte später immer wieder in die Hitparaden, beispielsweise 1986 aufgrund des Kinofilms »Ferris Bueller’s Day Off« von John Hughes mit Matthew Broderick in der Hauptrolle, worin »Twist And Shout« den Höhepunkt darstellt: Die Melodie führt zu einem gewaltigen kollektiven Rausch in Chicagos Straßen; zudem wird in dieser Performance dem Kopfschütteln noch das passende Stampfen zugefügt. Lennons Stimmgewalt aber, 1962 auf Vinyl gebannt, von ihm selbst später selbstkritisch als überspannt beschrieben, prägt sich in das universelle musikalische Gedächtnis – sein Timbre ist unverwechselbar.
Mit seinem Gesang verschafft sich der 22-jährige Liverpooler nicht nur beim Publikum Respekt, sondern vor allem auch bei den Kollegen und insbesondere bei seinen Idolen von Chuck Berry über Elvis Presley und Jerry Lee Lewis bis Gene Vincent. Ab jetzt ist alles möglich – auch gemeinsame Auftritte und gegenseitige Anerkennung. Mit diesem Polster an Selbstvertrauen, mit dem danach stetig wachsenden Erfolg, mit der zunehmenden Bestätigung von außen und dem Auslaufen sämtlicher vertraglicher Verpflichtungen, Schallplatten zu produzieren, kann Lennon 13 Jahre später dem Showbusiness adieu sagen, um bei seinem zweiten Sohn Sean seine Pflichten als Vater auf eine intensive und seiner Zeit weit vorauseilenden Weise wahrzunehmen; Vaterpflichten, die er bei seinem ersten Sohn Julian vernachlässigen muss, weil das allgemeine Lob, die steigenden Plattenumsätze und die damit verbundene steile Karriere der Beatles und der hohe Erwartungsdruck eines weltweiten Publikums kaum Zeit für ein Privatleben lassen.
Schon die Kritiken zur Single »Please Please Me« sind durchweg positiv: »Eine wirklich erfreuliche Platte voller Kraft und Vitalität«, schreibt der »New Musical Express«. »Twist And Shout« ist die emotionale Steigerung. 1963 touren die Beatles als »supporting act« mit Roy Orbison durch England. Der amerikanische Brillenfetischist gibt den englischen Jungs wertvolle Tipps, wie sie mit ihrer Musik in den USA erfolgreich sein könnten. Brian Epstein und die Beatles halten sich daran und bleiben ihrem Mentor verbunden. 1980 nennt Lennon »Starting Over« einen »Elvis Orbison« und 1988 formt George Harrison mit Bob Dylan, Tom Petty und Jeff Lynne eine Supergroup rund um Roy Orbison: die Traveling Wilburys.
Die »Please Please Me«-Magie wirkt auch noch im 21. Jahrhundert. Es klingt nur seltsam, wenn Paul McCartney das Lied auf seinen Konzerten zunehmend live spielt. Seine Stimme passt nicht zu den Versen: I know you never even try, girl. You don’t need me to show the way, love. Why do I always have to say »love«? Das sind John Lennons Worte, und sie zeigen sein Dilemma.
Warum muss ich immer »Liebe« sagen?
Mutterliebe.
Vaterliebe.
Tantenliebe.
Onkelliebe.
Frauenliebe.
Männerliebe.
Blinde Liebe.
Verlorene Liebe.
Verborgene Liebe.
Alles, was du brauchst, ist Liebe.
Die Antwort ist Liebe.
Das Wort ist Liebe.
Liebe. Liebe. Liebe.
Vielleicht, weil die Sehnsucht nach Liebe stärker ist als alles andere. Sie überdauert Gewalt und Kriege und findet in Lennons Ausprägung immer wieder Eingang in das künstlerische Werk seiner Verehrer bis in die Gegenwart. Der amerikanische Singer-Songwriter Jackson Browne covert 2007 »Oh My Love« von der »Imagine«-Platte und würdigt auf seinem Album »Time The Conqueror« 2008 John Lennon als Vorbild: »If we could just believe in one another as much as we believed in John.«
Browne ist am selben Tag wie sein Idol, am 9. Oktober, in Heidelberg geboren, acht Jahre nach John und 27 Jahre vor Sean Lennon (was Astrologen zu ausführlichen Vergleichen zwischen den Dreien animiert). Jackson Browne hat bei John Lennon gelernt und engagiert sich wie dieser unermüdlich gegen Krieg und für die Umwelt. Ende der 1970er Jahre ist Browne Mitinitiator der Initiative »MUSE« (Musicians United For Safe Energy) und tritt bei den »No Nukes«-Konzerten auf. Sein Einsatz geht so weit, dass er während eines nicht genehmigten Auftritts festgenommen und kurzfristig inhaftiert wird. 2010 engagiert er sich unter anderem mit Quincy Jones für den »John Lennon Educational Tour Bus«. Im selben Jahr nimmt er anlässlich des »30th Annual John Lennon Tribute« im Beacon Theatre in New York Lennons Song »You’ve Got To Hide Your Love Away« auf. Bei Präsidentschaftswahlen setzt er sich für die Demokraten ein, tritt auf Benefizveranstaltungen auf und unterstützt Charity-Aktionen.
Wie Lennons musikalisches Werk pendelt auch Brownes Arbeit zwischen Liebe und Politik, zwischen Privatleben und öffentlichem Protest. Dabei scheut er selbst juristische Auseinandersetzungen mit Regierungskreisen nicht. Als der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain 2008 seinen Song »Running On Empty« als Eigenwerbung in seiner Wahlkampagne einsetzt, prozessiert er dagegen mit Erfolg.
Die Zeitschrift »Rolling Stone« interviewt im Jahr 2008 im Rahmen einer Umfrage Experten und erstellt daraufhin eine Liste der »100 besten Sängerinnen und Sänger aller Zeiten«. John Lennon nimmt hinter Aretha Franklin, Ray Charles, Elvis Presley und Sam Cooke Platz fünf ein – vor Marvin Gaye, Bob Dylan, Otis Redding, Stevie Wonder, James Brown, Paul, Little Richard, Roy Orbison, Al Green, Robert Plant, Mick Jagger, Tina Turner, Freddie Mercury, Bob Marley, Smokey Robinson, Johnny Cash, Etta James, David Bowie, Van Morrison, Michael Jackson in dieser Reihenfolge und 75 weiteren Stars. Die Laudationes verfassen aktuelle Künstler von Rang und Namen, für John Lennon ist es Jackson Browne. Er betont die Vertrautheit, Innigkeit, Intimität, verbunden mit einem herausragenden Intellekt, die Lennons gesamtes Werk kennzeichnen, das mache ihn zu einem so großen Sänger. Und Browne erinnert sich an das erste Mal, als er 1966 »Girl« hört, an die hohe und stählern klingende Stimme – Is there anybody going to listen to my story …? –, an das Gefühl, jemand trete aus dem Schatten in den Raum zu den Hörern. Aber dann spricht Lennon nicht etwa zum Publikum, sondern direkt zum Mädchen.
Als Teenager ist Jackson Browne wie vom Donner gerührt, John Lennons Musik verkörpert, was der Jugendliche fühlt. Aggression, Liebe, Hass bis hin zum Hilferuf »Help!«, oder gar das Eingeständnis eigener Schüchternheit, eigener Unsicherheit. Das ist es, was Jackson am meisten an John bewundert und in seiner Würdigung schildert. Aber auch auf das Politisch-Soziale geht er ein: Durch den Erfolg erhält der Musiker aus einer der ärmeren Gegenden Großbritanniens zwar Zugang zu hohen gesellschaftlichen Schichten, aber er bleibt seinen Wurzeln treu, ist stolz auf seine Herkunft, verschleiert nicht die Geschichte seiner Kindheit in Liverpool. Er hat den Mut, sich nicht anzupassen. Die Kraft seines Gesangs gründe in Lennons Nähe zu sich selbst, so Browne. Wenn er nicht schreit, singt er nicht laut. Als er seine Cover-Version von »Oh My Love« einstudiert, merkt Jackson, wie ruhig der Gesang ist und welchen Kraftaufwand er doch erfordert. Es scheint ein Widerspruch, aber so hoch und offenbar gelassen zu singen ist enorm anstrengend. Lennon klingt in »I’m Only Sleeping« schläfrig, als sänge er vom Bett aus. Ähnlich irritierend wirkt »I’m So Tired« auf die Hörer.
Jackson Browne spricht in seiner Laudatio von der »thrilling aloneness«, um zu illustrieren, wie sein Idol »A Day In The Life« interpretiert. Die Reduktion auf das Wesentliche, den Ausdruck von Schmerz auf dem Soloalbum »John Lennon/Plastic Ono Band« könne man nie wieder vergessen. Dagegen das Glück in »Double Fantasy« – die neue und gereifte Schönheit in Lennons Stimme, beeinflusst von seinem Gesang zu Hause für seinen Sohn Sean. In Jackson Browne hat John Lennon einen aufmerksamen, feinfühligen und gleichzeitig rebellischen und politisch engagierten Fürsprecher, der seine Botschaft weiterträgt.
Und der charismatische Musiker hat viele Fürsprecher, aber auch Kritiker: John Lennon, der die Wahrheit singen will, der immer glaubt, das Recht zu haben, über die Themen zu sprechen, die ihn fesseln, der sagt, was er sagen muss, und dabei seine Liebsten, seine Verwandten, seine Freunde, seine Angestellten und seine sonstigen Bekannten und auch Fremde irritiert, die auch noch nach seinem Tod versuchen, sein Wesen zu erfassen – von seiner Halbschwester Julia Baird bis zum Musikjournalisten Ray Coleman, vom offiziellen Beatles-Biografen Hunter Davies bis zum misanthropischen Faktenhuber Albert Goldman (die beiden streiten sich während eines sehenswerten Fernsehduells 1990 darüber, wer dank welcher Quellen näher an der Wahrheit über Johns Leben ist); vom vorläufig letzten Verfasser sogenannter definitiver Lennon-Biografien Philip Norman über die Geliebte May Pang bis hin zum depressiven und überforderten Assistenten Frederic Seaman oder dem Bildhauer Gary Tillery, der 2009 im theosophischen Verlag Quest Books »The Cynical Idealist: A Spiritual Biography of John Lennon« veröffentlicht und seine Ausführungen auf ein zweifelhaftes religiöses Erlebnis des Stars zurückführt, das der Beatle 1966 gehabt haben soll, das Lennon selbst jedoch bei all seiner Selbstauskunftsfreude nie erwähnt hat.
Eine Besonderheit des Rockrebellen besteht in der explosiven Mischung seines Charakters. John Lennon begeistert die Massen, aber je näher die Menschen ihm sind, desto heftiger stößt er sie vor den Kopf, provoziert auch im engsten Kreis bis an den Rand des Erträglichen. Und wenn ein Journalist darunter ist, dann kann der private Affront als Welle öffentlicher Empörung wiederkehren. Weil aber die Liebe sein Leitmotiv ist, befriedet John Lennon selbst immer wieder seinen Zorn.
»Oh My Love« – das Wort ist Liebe. Alles, was du brauchst ist Liebe. Auf jedem Album entdeckt Lennon die Liebe neu. Auf »Imagine« textet er das Unmögliche, da kann zum ersten Mal sein Verstand dank der Liebe fühlen: Oh my love, for the first time in my life my mind is wide open … my mind can feel. Und auf seinem letzen Album »Starting Over« bleibt die Liebe etwas Besonderes: Our life together is so precious together. We have grown – we have grown. Although our love is still special.